Da ich als völliger Neuling direkt gewonnen hatte, zahlte mich die königliche Kasse in einer Summe aus, die es mir erlaubte, mir einen eigenen Wohnsitz und einige Felder zu kaufen. Ich wurde der Herr eines Gebietes, welches sich zwischen den Hügelländern, in denen ich groß geworden war und dem Henkersforst erstreckte. Dem Fürsten gefiel es nicht, seinen besten Boten zu verlieren, doch er hatte keine Wahl, als die Entscheidung der Königin hinzunehmen.
Seitdem war ich Herr des grünen Marschlands bei Dinvaar. Doch ich lebe allein in meinem Anwesen. Zwar hatte ich Angestellte, die ich von dem bezahlte, was ich anteilig von den Feldern bekam, die ich bewirten ließ, aber ich hatte keine Liebesbeziehung oder langwierige Freundschaft. Durch die Verantwortung als Grundbesitzer war ich beschäftigt und außerdem ging ich gern auf Reisen, in einer Kutsche. Außerhalb davon mied ich die Leute und bat des Öfteren meine Hausdiener mich in der oberen Etage allein zu lassen.
Das lag zum einen daran, dass mein Wahn zunehmend Kontrolle über mein Leben gewann. Nachts lag ich bis zum Rufen der Eulen da, ohne nur ein Auge zuzutun. War ich zum Fenster gewandt, fürchtete ich einen ungebetenen Gast, der durch die Türe schritt, und drehe ich mich um, starrte der Mond unablässig in mein Gemach, während die Schatten unter mein Bett krochen.
Gelang es mir, ins Land der Träume abzudriften, zog der Sog mich in einen dunklen Ozean aus gefräßigen Nachtmahren, welche mir die letzte Kraft aus dem Körper saugten und mich nach schier endloser Folter, aus ihren Mäulern, in meine von Angst getränkten Laken spien. Ein Albtraum jagte den Nächsten und eine tiefe Trauer überkam mich, die ich anfangs nicht zuzuordnen vermochte.
Dies war der zweite Grund meiner Isolation. Die Lethargie, hatte Macht über mein Leben gewonnen. Ohne einen Zwang, ins Freie zu treten, tat ich dies immer seltener. Mein Körper ließ mich zudem spüren, dass das Alter vor niemandem Halt macht. Ich vermisste meine Ausdauer und das ich niemals auf Hilfe angewiesen war.
Graue Haare bahnten sich ihren Weg durch meinen Bart, bis hoch auf die lichter werdende Stirn. Doch nicht der körperliche Zerfall war es, der mich zum Umdenken brachte, es war der geistige. Wenn ich des Morgens am Balkon stand und in den rot eingefärbten Himmel schaute, wo sich vor mir eine malerische Landschaft erstreckte, fühlte ich mich wie eingesperrt in meinem Anwesen.
Wie ein Vogel im goldenen Käfig. Als hätten mich die Wachmänner des Fürstens damals in den Kerker geworfen und all das, was seitdem passiert war, waren nichts weiter als die Fantasien einer traurigen Gestalt, die von Ratten abgenagtes Brot vom Boden leckte, während sie sich nach einem schöneren Leben sehnte. Ein schicksalhafter Morgen vermochte mich von diesen Fesseln und Vorstellungen zu befreien.
Der Himmel war paradiesisch an jenem Tag. Eine idyllische Malerei aus hellem Violett, mildem Orange und einigen prächtigen Streifen eines pompösen Dunkelrots. Wolken zogen an der farbenfrohen Weite vorbei und es regnete. Kalt lief er über mein Gesicht, beißend und kitzelnd zugleich, als versuche er, etwas aus mir herauszulocken. Aus den tiefen Augenhöhlen kam er hervor und benässte die dunklen Gräben, welche sich dort durch all die schlaflosen Nächte gebildet hatten. Der Regen lief über mein Gesicht und er schmeckte salzig.
In diesem Moment realisierte ich, dass mein Wunsch nach Freiheit immer größer sein würde, als die Furcht vor dem, was in der Welt dort draußen lauerte. Der Regen setzte aus und ich wandte mich ab. Während ich mir mit einem Tuch das Gesicht abtupfte, schritt ich zu meinem Bett und zog das darunter hervor, welches die Flüche darüber zu verursachen schien.
Die Holzkiste klappte mit einem triumphierenden Quietschen auf, als wollte sie sagen, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen war. Fein säuberlich zurechtgelegt, lächelten mir eine Tunika und ein Paar Schuhe entgegen. Ohne die Tür zum Balkon zu schließen, oder die zu meinem Gemach, oder jene zum Ausgang, der in den von einem Blumenfeld gesäumten Garten führte, schritt ich in voller Montur ins Morgenlicht.
Diener nahm ich keine wahr und ich weiß bis heute nicht, ob mir einer von ihnen hinterherrief in der Absicht mich aufzuhalten oder ob es der Wind war, in Kombination mit dem Rascheln der Bäume, der jene Sinnestäuschung verursachte. Ich lief mit leeren Händen, ohne Kontrahent oder Auftrag und dennoch zielstrebig wie selten in meinem Leben.
Die Welt verbog sich um mein Sichtfeld. Es war, als wäre alles nach mir ausgerichtet. Jeder Grashalm knickte zur Seite, all jene Kieselsteine, die ihn blockierten, kullerte aus dem Weg und die Ameisen huschten hinfort, wie um meinen Fußsohlen Platz zu schaffen. Der Wind änderte seine Richtung, um mir in den Rücken zu wehen, und die Wolken verdeckten die Sonne, damit diese mich nicht blendete.
Wie neugeboren erblicke ich umherhuschende Insekten, herabfallende Blätter und in der Brise schwingende Äste, als sähe ich diese zum ersten Mal. Die Schlaflosigkeit war wie weggefegt und dennoch fühlte ich mich nicht wach. Egal wie schnell ich einen Fuß vor den anderen setzte, es kam mir eher wie ein Umhertaumeln in einer Traumwelt vor, als das Schreiten durch die wirkliche Welt.
Ein Sinneseindruck nach dem anderen drang einzeln und gedämpft in meinen Verstand vor. Nach dem Sehen war es das Hören. Balzrufe der Vögel, Summen der Bienen, ein sprudelnder Bachlauf, Schritte auf einem verlassenen Wanderpfad. Details, die ich vorher nie erkannt hatte, offenbarten sich, während ein weiteres Siegel brach.
Gerüche, deren Dasein für mich nicht mehr selbstverständlich war, prasselten auf mich ein. Der Duft der Blumen, der Gestank der gedüngten Felder, tauverhangene Wiesen, von Moos überzogene Baumrinden und eine süßliche Note von den Beerensträuchern, die den Weg begleiteten. Der Odem der Natur und die Ausdünstungen der Erde selbst, schufen eine Aura, wie sie nur ein solcher Morgen gebären konnte, der so manchem Künstler als Vorlage für eine beispiellose Malerei taugte.
Allgegenwärtig und doch stets ignoriert krochen die Gefühle aus den Beinen und Armen hinauf. Der Rücken straffte sich, der Gang wurde aufrechter. Jedes Mal, wenn mein Fuß abhob und sich wieder senkte, bemerkte ich die einzelnen Bestandteile, welche einen solchen Schritt ausmachten. Die in der frühen Kindheit angewöhnte Verdrängung setzte aus und der Ablauf, der mir gewohnt war wie kein anderer, drängte sich in den Vordergrund.
Jedes Abrollen, das in den Zehen begann und in der Fußsohle endete, tasteten die Fühler meiner Gedanken ab, als würden sie darin eine größere Wahrheit erkennen. Die Welt bewegte sich von mir weg und wieder zu mir hin, während die Hüfte das erneute Aufeinanderknallen abfederte. Schritt für Schritt, Kieselstein für Kieselstein und Atemzug für Atemzug, kehrte mein Orientierungssinn zurück.
Zuvor, wo ich, wie von einem unsichtbaren Seil, in Richtung Ziel gezerrt wurde, zu jetzt, hatte sich nichts an dem Ort geändert, dem ich mich immer näher brachte, doch ab diesem Moment begann ich es in vollem Bewusstsein zu tun. Ich rannte auf den Henkersforst zu.