Am nächsten Morgen, in aller Frühe, bevor der erste Diener erwachte, um die Lichter zu entzünden, schritt ich mit einer Laterne und in dickes Vlies gehüllt, aus meinem Haus. Ich stapfte durch den Schnee und hin zum Henkersforst. Den Eingang zum See fand ich mit Anhieb, hatte ich doch so oft davon geträumt, hierher zurückzukehren.
Die Höhle war mit Brettern versperrt, doch ich hatte einen Hammer mitgenommen und zerschlug sie. Den gefallenen Schnee abstreifend, schritt ich in den Fels und zielstrebig voran. Es fühlte sich an wie Schlafwandeln, was es mir erleichterte jenen götterverlassenen Ort zu betreten.
Seit meinem letzten Betreten waren die Besitztümer des Läufers zertrümmert worden. Gestohlen hatte von hier jedoch niemand etwas. Neben einem verschütteten Krug, an dessen Rand gefrorene Pflanzenreste klebten, lag, wonach ich gesucht hatte. Ein rotes Band, von der Länge zweier Hemnan. Mein abgerissenes Stück passte zum einen Ende.
Ich kehrte unbemerkt ins Anwesen zurück. Nach einer wärmenden Knollensuppe und dem Hereinbrechen des Tages verließ ich erneut das Haus, das rote Band geflickt und in einem Stück um die Hüfte. Die kühle Luft beruhigte meinen Geist. Die Beine beschleunigten, traten den Schnee zu einer komprimierten Masse und ein Rhythmus stellte sich ein. Zum Stapfen der Stiefel kam ein säuselnder Windhauch.
Meine Diener fragten mich, wo ich den halben Tag geblieben war, als ich in der Dämmerung heimkehrte, doch ich antwortete ihnen nicht. Nach vier Tagen hörten sie auf danach zu fragen. Am siebten Tag verschlang ich zwei Mahlzeiten am Morgen und drei am Abend. Neun Tage später bekam ich unterwegs einen solchen Hunger, dass ich Beeren aus einem Busch pflückte.
Zum ersten Neumond erlegte ich einen Hasen, den ich versuchte am Lagerfeuer zu erhitzten. Als das trockene Holz nicht zu brennen beginnen wollte, aß ich ihn roh. Am Halbmond verschlang ich das Getier mit Haut und Haaren. Beim Vollmond danach verging ich mich am Kadaver eines Rehs, welches von einem Wolfsrudel gerissen worden war.
Fünf weitere Nächte und ich kehrte nicht mehr zurück. Der Henkersforst war zu meinem Jagdrevier geworden. Ich sprintete von hier nach dort und hielt schlussendlich mit den Wölfen mit. Als ich vor ihren Augen einen Fuchs zertrat, suchten sie das Weite. Die länger werdenden Läufe zehrten an meinem Körper, doch wenn ich fraß, konnte ich den Schmerz vergessen.
Als Quartier diente mir die Grotte am See. Ich fing mir Fische, die unter der vereisten Oberfläche schliefen und Kröten, welche sich im Boden eingegraben hatten. Eines Tages zog ich die verrottenden Überreste eines Keilers in den Höhleneingang, um die Insekten, Würmer und Ratten zu fangen, welche sich an ihm vergingen.
Es genügte nicht. Der Winter war zu lebensfremd, bot nichts, was meinen ständigen Hunger befriedigte. Von Bauchkrämpfen geplagt und auf einer selbst gefertigten Pritsche liegend, traf ich den finalen Entschluss, der mich vollends von meiner Natur entfernte. Zögerlich schritt ich in den langen Gang, bis mir ein Gestank von Verwesung entgegenkam.
Wunderlich ist es, dass ich mich nicht übergeben musste. Es gab keine Speise mehr, die ich nicht verschlingen konnte, egal ob eine giftige Beere oder ein dahinsiechender Leichnam. Ich forderte es heraus, wollte mir das ein oder andere Mal das Leben nehmen, aber selbst ein Pilz der Bären gefährlich wurde, vermochte es nicht mir zu schaden.
Ich badete im eisigen Wasser, ohne mich anschließend zu wärmen, schlief zwischen Wurzeln und Ameisenhügeln und dennoch überlebte ich. Solang ich nur lief, war ich frei von allen Übeln. Einzig in den Nächten gelang es der Welt, mich für meine Taten zu bestrafen. Kein blinder Gott wachte mehr, keine Königin sprach für mich, weder Baron noch Bürger, kein Hemnan half mir, niemand kam mich suchen. Einzig die Albträume verfolgten mich.
Seit sieben Tagen bin ich schon wach. Oder waren es acht? Die Sonne lässt sich nicht häufig blicken, sofern ich mich erinnere. Wann habe ich sie das letzte Mal gesehen? Es muss gewesen sein, als der Bote den Forst durchschritt. Er hatte mich ersetzt und trug Pergament bei sich. Ich wollte es haben, also nahm ich einen Stein und schlug ihm den Schädel ein. Er konnte mir nicht entkommen.
Sein Körper liegt jetzt bei den anderen. Dank der Kälte wird er lange frisch bleiben, aber das ist von geringer Bedeutung. Das Schreibwerkzeug ist der wahre Schatz. Es erlaubt mir meine Gedanken zu ordnen, in den vergangenen Tagen zu schwelgen, zu verarbeiten.
Am gestrigen Morgen hat mich die Erkenntnis getroffen und ich musste es niederschreiben. All die Zeit über war es nicht nur Furcht gewesen, sondern Neid. Eifersüchtig war ich, bin ich, auf den Läufer vor mir. Er hatte dieses befreite Leben für solch eine lange Zeit. Doch vor allem war er schneller, als ich es je hätte sein können. Ob es an dem roten Band lag? Jetzt wo ich es trage, schenkt es mir mehr Energie, als ich je gehabt habe.
Ich habe allerdings kein Interesse, am nächsten Lauf teilzunehmen. Auch will ich mich nicht zurückhalten und einzig den Pfad um den See gehen. Die Leute meiden den Forst, aber wenn der Winter endet, werden sie ihn wieder durchqueren. Daher verscheuche ich die Wanderer, welche sich an ihn herantrauen.
Die Einsamkeit ist meine Wiege. Außerdem strebt der letzte Rest von mir gegen die Grausamkeiten, die mein Instinkt mir aufzwingt. Wenn ich sie fernhalte, werde ich nicht wieder ...
Mit den geschriebenen Zeilen steigt die Schuld. Vor dem Boten war der Weiße mein erstes Opfer. Wer weiß schon, ob er mir etwas zuleide getan hätte, wäre ihm aufgefallen, dass ich am Leben war. Mit ihm als Wächter der Grotte, war nie ein Unschuldiger verstorben. An jenem Tag verfolgte mich nichts als meine Angst und jetzt, da ich sie abgelegt habe, ist er nicht mehr. Alles wäre mir es wert gewesen die Furcht abzulegen, damals, doch zu diesem Preis?
Früher einmal hätte ich das nicht zugelassen. Die Toten. Wie ich so darüber nachdenke, sind es eher drei oder vier, falls keine Halluzinationen in meinen Geist dringen. Nein, ich habe sie nicht verjagt. In die Höhle getrieben hab ich sie. Ob sie leben? Ich weiß es nicht. Einen Teil von mir betrübt es zuzugeben, dass es mir einerlei ist. Dieser Wald gehört mir und ob wildes Tier oder ich, für Gefahren muss man gewappnet sein.
Wird es bis zum Sommer dauern, bis sie kommen, um mich zur Rechenschaft zu ziehen? Falls ja, will ich jeden Tag auskosten und laufen, bis mir die Beine schmerzen und länger, damit die Träume mich nicht jagen. Ich muss einfach.
Damals war das Laufen ein Drang, jetzt ist ein Zwang, doch ich denke, der Übergang war fließend. Wo ist er geblieben, der Bote? Wo nur ist die Neugierde hin und der Tatendrang? Ich finde sie nicht. Weg ist es. Im kalten Wind vergangen. Edwig war einmal.
Jetzt bin ich ein gebrochenes Wesen, welches das Ende herbeisehnt und des Nachts nicht schlafen kann, zwecks der Schrecken die in der Leere zwischen den Tagen angestürmt kommen. Dafür ist die Hysterie im Wachzustand vergangen. Der Forst, welcher mich einst so plagte, ist jetzt meine Herberge, meine Prämie. Und er ist nicht befreit von Schrecken, aber von denen die ich fürchte. So ist er seelenleer und nur ein einziges Übel ist verblieben, welches meiden ich nicht muss, oder kann. Eine Bestie so abscheulich wie entstellt, verborgen unter Fellen und Tierhaut, eingesperrt in meinen Körper.
Ich habe nicht länger Angst, denn ich bin zu deren Quelle geworden. Und wenn ich nie wieder schlafe, meine Pritsche zu Feuerholz verarbeite und nicht aufhöre umher zu wandeln, wird es so bleiben. Für eine Zeit. Genug davon.
Ich fühle es schwinden. Bald ist nichts mehr da, was dieses Schriftstück als Warnung vorsieht, denn es ist zu einer Zelebration geworden. Zu einer Krone, auf dem Haupt des Waldkönigs, vor dem sich die knorrigen Bäume verbeugen und die Wildtiere das Weite suchen. Der Schnee tanzt einen nächtlichen Reihn und der Mond hoch am Himmelszelt leuchtet den Weg aus der Grotte. Und dort am Ende des Ganges steht er, in Weiß gehüllt, schweigend. Er reicht mir seine Hand.
Der Läufer.
Ich komme.