Die Bäume am Rand des Waldes griffen nach den Wolken, streckten sich dem Himmel entgegen. Von einem tiefen Verlangen gesteuert, bohrten sie sich in die Luft, als würde diese aus etwas Festem bestehen, was sich gegen das Eindringen wehrte. Ihre Äste wurden immer dürrer und zogen sich in die Länge.
Ihre Form war das Abstoßende an ihnen. In den meisten Wäldern bildeten die Blätterkronen einen behutsamen Schutz für die Büsche und Wildtiere darunter, doch diese hölzernen Auswüchse des Abgrunds verfolgten einen eigensinnigen Plan. Ihr Wachstum galt nur ihnen selbst. Sie verdrängten alles in ihrem Weg, wuchsen durcheinander hindurch und streckten sich so weit vom Boden weg, dass es keinem neugierigen Kind gelungen wäre, auf ihre Wipfel zu klettern.
Zwischen ihnen gab es nur wenig Vegetation. Zu viele Schatten warfen die verhangenen Spitzen des Forsts, als dass Leben hätte hervorsprießenen können. Ranken kletterten voller Neid die Rinden empor, um ans Sonnenlicht zu gelangen. Durch ihre Stacheln und spitz zulaufenden Blätter schufen sie monströse Scheinbilder, die am Rande des Sichtfelds im Zwielicht entstanden.
Während ich einen schmalen Trampelpfad entlangschritt, guckte ich hastig nach rechts und links, um mich zu vergewissern, dass dort niemand lauerte. Jedes Rascheln wurde zu einem näherkommenden Räuber, das Emporflattern eines Vogelschwarms zu einem Warnruf und das Knacken eines morschen Astes unter meinen Sohlen, zu einem sich anschleichenden Meuchelmörder, der es auf mein Land abgesehen hatte.
Tief durch die Nase ausatmend zwang ich mich, voranzugehen. Meine Feigheit hatte mir das Leben lang genug verdorben. Womöglich konnte ich sie nur auf diese Art überwinden. Wenn ich meine tiefsten Ängste konfrontierte, eröffnete sich mir ein Ausweg, so musste es sein. Eine letzte Chance. Mut und Tapferkeit waren nie Stärken gewesen, auf die ich mich verlassen konnte, doch wenn ich nicht enden wollte, wie das was ich an so manchen Tagen im Spiegel betrachtete, ging es nicht anders.
Die Erde unter mir war in meinen Gedanken überfüllt von Toten, deren verrottende Leichen mit Wurzeln verwoben und von Kriechtieren zerfressen waren. Jedes Mal, wenn der Boden einsank, nahm ich an, dass es nicht das Laub war, das meinen Schritten nachgab, sondern ein Grab, kurz unter der Oberfläche, in welches ich herabstürzen würde, wie ein Hirsch in die Falle eines Jägers.
Es schüttelte mich und ein kaltes Ziehen glitt über meine Arme, wie die sanfte Berührung des Todes. Während ich mich wieder beruhigte, bemerkte ich, wie weit ich schon in den Forst vorgedrungen war. Etwas blitze mir inmitten des dunklen Gangs entgegen, welchen ich durchquerte. Beschleunigten Schrittes lief ich voran zum hellen Schein und trat auf eine Lichtung. Ich stoppte.
Inmitten des furchterregenden Waldes tat sich eine Oase der Schönheit auf. Schräg eintreffend, über den Spitzen einiger Bäume hinweg, schien das Licht auf einen See wie aus purem Silber, inmitten der Landschaft. Er war weitläufig und zog sich bis in die Ferne. Da er an einer Stelle abbog, war er nicht in seiner Gänze zu erblicken. In Größe und Breite überragte er einiges, was ich zuvor auf meinen Reisen gesehen hatte. Selbst nach all den Malen, die ich den Forst durchschritten hatte, war er mir dabei nie begegnet. War ich immerzu an den Rändern entlanggeeilt, so dass ich das wundersame Herz dieses toten Ortes nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte oder hatte es sich mir erst in jenem Moment offenbart?
Um das ruhige Wasser herum sprossen Schilf, Seggen, Weidengebüsche, sowie einige gelbliche Blumen und vielzackige Kräuter. Wie ein Schutzwall zwischen See und Wald trennte ein Weg aus dunkler Erde die beiden Welten. Er umrahmte die Pflanzen und grenzte das hohe Gras des Forsts ab.
Kröten, Libellen, Fische und Enten bevölkerten das Süßwasser, während Bienen und anderes fliegendes Getier die Blumen bestäubten. Ein fröhliches Summen und Quaken drang in meine Ohren und ließ mich beruhigt aufatmen. Dieser Ort war wie eine Offenbarung. Als hätte sich das Innerste der Seele danach gesehnt.
Mit neuer Lebensfreude beflügelt setze ich mich in Bewegung, den See zu erkunden. Mich streng an den vorgelegten Pfad haltend, um nicht ein Stück der unberührten Natur an diesem Ort zu zerstören, machte ich mich auf. Die Luft war eine andere an jenem Ort, als wäre sie reiner, unberührter. Nicht vom Gestank der Felder und Leute verpestet.
Der Weg krümmte sich und ich folgte. Er führte mich, nahm mich an die Hand, erleichterte das Denken. Es war befreiend. Ein einfacher Ablauf. Erst der linke Fuß, dann der rechte und nochmal. Die Biegungen nahm ich automatisch. Nach einer Weile riss mich eine an mir vorbeifliegende Biene aus der Trance, da ich nicht bemerkt hatte, dass ich weiterhin vorangekommen war. Einen Teil des Weges war ich vollkommen gedankenleer gelaufen, doch es gab keine Erinnerungen davon. Als hätte der See etwas Mystisches, was einen all seine Sorgen vergessen ließ.
Doch wie als ob mich das Schicksal für dieses flüchtigen Moment der Ruhe bestrafen wollte, ertönte etwas hinter mir. Es war das Auftreten auf dem erdigen Boden. Erst in diesem Moment fiel mir auf, wie eigenartig es doch war, dass jener Ort so seelenverlassen da lag. Niemanden hatte ich hier gesehen, keiner meiner Angestellten hatte den See auch nur erwähnt. Wäre dies kein optimaler Ort für ein morgendliches Bad oder einen abendlichen Spaziergang? Wo blieben nur die frisch Verliebten, die am Wasser ihre Treue schworen, oder die wandernden Prediger, welche von der Schönheit göttlicher Schöpfung sprachen? Hatte ich hier eine Oase gefunden, unbekannt bei denen die sonst notgedrungen den Wald durchqueren mussten?
Was die Leute dazu veranlasste den Ort zu meiden, war vermeintlich der grässliche Ruf, den der Forst an sich hatte. Vermutlich dachte man, dass das Wasser hier vergiftet war. Der ganze See war schließlich verwunschen, durch die Sünden der Verstorbenen, welche im Moment des Todes Flüche ausgesprochen hatten, bevor sie auf ewig in das Land der Dunkelheit verbannt worden waren, wo der Leichenkönig sie nie wieder hervorkommen lassen würde.
Ich entschied mich, zu glauben, dass dieser Ort unbekannt geblieben war, da die meisten den großen Pfad nicht verließen, welcher durch den Wald führte. Niemand schritt abseits des Weges und die meisten umgingen der Forst komplett. Auf eine gewisse Art tat mir dies leid, weil ihnen allen die Schönheit des Sees entging.
Die Schritte kamen näher. Freude wich der Wissbegierde und diese wiederum der Furcht. Ich wurde verfolgt. Jemand wollte mich nicht hier. Dies war kein Ort für die Lebenden, sondern ein letztes Paradies der Verlorenen und die Ruhestätte der Toten. Mahnende Blicke kamen aus den Astlöchern, durchdrangen das Schilf und stiegen vom Grund des trüben Wassers empor. Verschwinde hier, versuchten sie zu sagen, doch hatten keine Münder.
Ich ging ihrer Aufforderung nach. Mit suchenden Augen hielt ich nach dem Ausgang Ausschau. Mittlerweile musste ich den See umrundet haben, doch fand ich keine Orientierungspunkte. Ein Baum glich dem nächsten. Wie Soldaten in voller Montur blockierten sie den Ausweg. Ich würde mich verirren, wusste ich, wenn ich den Pfad nicht zu finden vermochte, der mich hierhergeführt hatte.
Panisch zum Himmel aufblickend suchte ich die Sonne, doch ein Meer aus Wolken war aufgezogen. Sie waren weiß, wie die Kleider der Prinzessin und doch brachten sie eine erstickende Finsternis mit sich. Wie dünnes Tuch, das sich über die ganze Lichtung legte, engten sie mich ein. Es wurde stiller, als wären einzig die Sonnenstrahlen, was diesen Ort am Leben erhielten. Die Oberfläche des Sees war nun weniger ein silbriger Spiegel und mehr ein braungrüner Tümpel in dem Wasserleichen mit aufgequollenen Gesichtern im Schlamm trieben.
Ein säuselnder Wind stimmte eine fremde Melodie an, welche nur von den alten Bäumen verstanden wurde, die über Generationen hinweg aus dem verfluchten Boden gesprossen waren. Das Gras bog sich wie die Saiten einer Laute und die Blätter raschelten dazu. Das Trommeln der Schritte erreichte seinen Höhepunkt.