„Geht es dir gut?“, fragte Leandro und kam näher. Flink nickte ich nur, stand hektisch von der Bank auf und lief dann ein Stück weg von ihm, bevor er sich hätte neben mich setzten können.
„Ich gehe jetzt schlafen.“
„Du willst jetzt schlafen gehen?“ Ich schwieg und hielt für einen Moment die Luft an, als er nach meiner Hand griff und mich vorsichtig zu sich zog. Nun stand er mir näher, als es mir lieb war. Mein Unbehagen spürte er und plötzlich war seine Stimme voller Unsicherheit. Immer noch wagte ich es nicht ihn anzuschauen und richtete meine Blicke starr zu Boden.
„Es ist schon lange dunkel, außerdem war es ein anstrengender Tag“, antwortete ich und versuchte unauffällig seinen Berührungen zu entkommen. Meine Versuche hatte er schnell durchschaut und so ließ er mich los. Es war das, was ich gewollt hatte, trotzdem gefiel es mir nicht. Zwischen uns herrschte eine erdrückende Stimmung, als hätten wir Streit gehabt oder als wären wir gar Fremde. Er machte den Anschein, als hätte er nun sogar Angst davor, mich zu berühren. Tatsächlich ging es mir genauso, nur mit dem Unterschied, dass ich mich nicht einmal traute, ihn anzuschauen.
„Ich dachte wir könnten vielleicht etwas reden?“ Es reichte schon, dass er diese Worte nur aussprach, damit ich so aufgeregt wurde, dass mein ganzer Körper zu zittern anfing.
„Worüber?“, fragte ich, obwohl ich mir ganz sicher war, was er zu bereden hatte.
„Können wir uns setzten?“
„Sicher“, entgegnete ich knapp und setzte mich ans äußerste Ende der Bank. Mit Sicherheit hatte er diesen bewussten Abstand bemerkt, aber er wagte es nicht etwas dazu zu sagen. Die Übelkeit von vorhin machte sich wieder bemerkbar und ich hielt diese Nervosität kaum noch aus. Ich war für dieses Gespräch einfach nicht bereit. Aber vielleicht wäre ich das nie.
„Dein Plan vorhin war sehr gut.“
„Danke.“
„Ich will, dass du weißt, dass ich nicht dir gegenüber misstrauisch war, sondern ihm. Ich habe dir durchaus vertraut und ich halte dich auch für stark, aber ich hatte eben auch Angst um dich. Ich wollte dich nicht verlieren.“ Seine Worte verstummten und nun lag eine Ewigkeit Stille in der Luft. Sie waren so ungewohnt entgegenkommend und sie klangen ehrlich. Eigentlich hätte ich froh über diese Worte sein sollen. Sie waren vielleicht ein gutes Zeichen, aber es widerstrebte mir, ihm einfach glauben zu können. Ich wollte diesen Abstand zwischen uns immer noch. Ich wollte ihm nicht zu schnell vertrauen.
Da saßen wir nun. Mit dem größten Abstand zwischen uns, den diese Bank zu bieten hatte und starrten gedankenversunken aufs Meer. Ich wusste nicht wo ich anfangen sollte. Mein Kopf war leer und ich konnte meine Gedanken plötzlich nicht mal mehr so ordnen, dass sie für mich selbst Sinn ergaben. Unbeabsichtigt drehte ich meinen Kopf zu ihm. Und auf einmal trafen sich unsere Blicke wie zufällig. Ich zuckte zusammen und wollte meinen Blick eigentlich von ihm abwenden, doch seine Augen fesselten mich, wie bei unserer ersten Begegnung. Das Blau in seinen Augen war trüb geworden. Es lag ein heller Schleier darüber, der sein ganzes Gesicht traurig erschienen ließ. Alte Erinnerungen kamen in mir auf. Erinnerungen an unseren ersten Kuss, an den ersten Streit und an unsere erste Versöhnung. Die Gefühle, die ich die letzten Tage vermisst hatte, kamen zurück und überrollten mich. Er saß nur neben mir und schon blieb mir die Luft weg. Er machte mich so nervös, dass ich völlig unruhig wurde und am liebsten einfach davon gelaufen wäre. Meine Atmung ging schnell, obwohl etwas schweres auf meiner Lunge zu liegen schien, das mir das Atmen erschwerte.
„Ich liebe es in deine Augen zu schauen“, flüsterte er und ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Ein unsicheres Lächeln, das sofort wieder verschwand, als ich aufhörte in diese wunderschönen Augen zu starren.
„Ich liebe es auch in deine Augen zu schauen, aber manchmal machen sie mir Angst“, antwortete ich nach langem Zögern. Vielleicht sollte ich einfach aussprechen was ich dachte?
„Wieso?“, fragte er verwundert.
„Weil ich nicht weiß was das manchmal ist.“
„Was was ist?“
„Was wir sind. Ich versteh uns einfach nicht. Ich weiß nicht, ob das so noch funktioniert... ob wir noch so funktionieren.“ Sein Blick war wie versteinert. Mit großen Augen starrte er mich an und brachte kein Wort raus. Das machte mich nervös. Selten hatte ich geradewegs ausgesprochen was ich dachte. Und genau das machte mir jetzt Angst. Ich konnte nicht mehr zurücknehmen was ich gesagt hatte. Ich hatte ihm gesagt, dass ich es so nicht mehr wollte. So, wie es die ganze Zeit über gewesen war. Was, wenn er erst durch mich darauf aufmerksam wurde, dass wir etwas ändern mussten? Wenn ihm vielleicht dadurch auffiel, dass er gar nichts ändern konnte?
„Irgendwie landen wir doch immer wieder an diesem Punkt, wo wir nicht wissen wie wir miteinander reden sollen und wo wir uns unsicher sind, ob wir den anderen überhaupt noch berühren dürfen. Und diese Phase hasse ich. Ich will nicht, dass wir ständig dort landen. Ich will nicht darüber nachdenken müssen, wie ich mit dir reden kann und ob ich dich noch berühren darf“, erklärte ich, nachdem er eine Weile immer noch nichts von sich gegeben hatte.
„Ich weiß genau was du meinst und ich hasse diese komische Stimmung zwischen uns auch.“ Ich schwieg. Und was bedeutete das jetzt für uns?
„Und was machen wir jetzt daraus?“
„Ich weiß es nicht. Sollen wir es weiter probieren?“, fragte ich unsicher. Das war die Frage aller Fragen. Sollten wir? Oder sollten wir es aufgeben? Ich hatte immer noch keine Ahnung und so langsam bekam ich das Gefühl, dass sich auch Leandro nicht sicher war.
„Ja, ich denke wir sollten es weiter probieren. Ich will es jedenfalls versuchen. Ich bin mir nur nicht so sicher, ob du es noch weiterhin probieren willst.“ Erleichterung machte sich breit und ich konnte wieder atmen. Wollte er es wirklich weiter versuchen? Ich war mir fast sicher gewesen, dass er aufgeben wollte.
„Natürlich will ich nicht, dass das endet. Aber ich habe Angst. Wie oft haben wir es schon versucht? Und das, obwohl wir nicht mal so lange zusammen sind. Ich will einfach nicht mehr dieses Gefühl haben, nicht zu wissen, wie du denkst. Manchmal glaube ich sogar, dass ich gar nichts über dich weiß und das macht mich unsicher. Du machst mich unsicher.“ Er seufzte.
„Deine Worte klingen nicht besonders gut für einen Neustart. Du kannst mich alles fragen. Das weißt du oder?“
„Nein, ich kann dich nicht alles fragen. Vielleicht ist genau das, das Problem. Du bist so verdammt mysteriös und verschlossen. Ich habe wirklich das Gefühl, dass ich dich nicht kenne. Ich habe einfach keine Kraft mehr darüber zu philosophieren, welche Geheimnisse du vor mir versteckst.“
„Ich habe keine Geheimnisse“, protestierte er überzeugt.
„Oh doch, die hast du und selbst wenn du anfängst zu erzählen, habe ich das Gefühl mir nie sicher sein zu können, ob du die Wahrheit sagst.“
„Es tut echt weh, dass du mir so wenig vertraust“, antwortete er plötzlich ganz verletzt. Vielleicht verletzte ihn das wirklich, aber was sollte ich dagegen tun? Das waren meine Gedanken, meine Gefühle. Das wollte ich vor ihm nicht länger zurückhalten. Das hatte ich viel zu lange getan. Vielleicht wurde ihm erst jetzt so richtig bewusst, wie eigenartig die Sache zwischen uns war. Wie eigenartig und unsicher.
„Verwundert dich das etwa noch? Du hättest mir von dem Treffen mit Laureen erzählen müssen.“
„Das weiß ich“, unterbrach er mich schnell, bevor ich ihm weitere Vorwürfe zu diesem Thema machen konnte.
„Ja, ich hätte dir davon erzählen sollen. Du hättest mitkommen können. Du hast Recht, das war mein Fehler. Das war dumm von mir.“ Schmunzelnd nickte ich. So einsichtig hatte ich ihn selten erlebt. Aber es fühlte sich gut an. Endlich wieder wie etwas, das in die richtige Richtung ging.
„Und warum hast du mir nichts von der Variante mit dem Blut erzählt?“
„Ich versuche mich gerade bei dir zu entschuldigen und du machst mir die nächsten
Vorwürfe?“, fragte er kopfschüttelnd und sah mir enttäuscht in die Augen.
„Es tut mir leid, das sollte nicht wie ein Vorwurf klingen. Ich versuche nur dich zu verstehen.“
„Ich möchte aber nicht darüber reden, okay?“
„Dann fängt doch aber das Gleiche von Vorne an, ich meine wenn du nicht drüber sprechen möchtest, dann verheimlichst du wieder etwas.“
„Du hast doch auch tausend Geheimnisse vor mir! Ich muss dir doch nicht gleich meine ganze Lebensgeschichte erzählen!“ Gleich war gut. Wir kannten uns fast ein halbes Jahr lang. Da könnte man schon erwarten, dass er sich langsam öffnete.
„Nein, die habe ich nicht mehr. Alles was ich vor dir verheimlicht habe, war die Sache mit dem Blut. Und das nur aus dem Grund, weil ich mir sicher war du würdest es mir ausreden wollen. Dabei ging es mir gut damit. Besser, als es mir ohne ergangen war. Was das angeht, vertraue ich dir also. Nur du vertraust mir anscheinend nicht.“
„Das hat doch nichts mit Vertrauen zu tun. Ich will nur nicht, dass du alles über meine Vergangenheit weißt. Ich bereue viele Entscheidungen und die Vergangenheit hat nichts mit unserer Zukunft zu tun.“
„Das sehe ich anders. Deine Vergangenheit gehört nun mal zu dir und deswegen will ich auch etwas darüber wissen. Ich will dich endlich richtig kennenlernen.“
„Ich werde dir aber nichts darüber erzählen können!“, sagte energisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Gut, dann werde ich jetzt gehen und ich denke, dann sollten wir das mit uns wirklich lassen“, zischte ich unfreundlich und stand auf. Wenn er mir nach all dem, was wir zusammen durchgemacht hatten, immer noch nichts aus seiner Vergangenheit erzählen konnte, dann hatte das mit uns sowieso keinen Sinn mehr. Zwischenzeitlich hatte ich sogar den Eindruck gehabt, dass wieder zusammenfinden würden und ja, ich hatte es auch gehofft. Nun aber war es aussichtslos und ich musste mir endlich eingestehen, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben könnten. Nicht in diesem Leben und nicht mit seiner Einstellung!
„Doch nicht wegen so etwas Alexandra! Wenn du mich wirklich lieben solltest, dann könntest du über diese Kleinigkeit hinwegsehen.“
„Über diese „Kleinigkeit“, wie du es nennst, kann ich eben nicht hinwegsehen und das liegt nicht daran, dass ich dich nicht lieben würde. In einer Beziehung verschweigt man sich nun mal nichts
und wenn du mir davon nichts davon erzählen kannst, dann wird es auch andere Sachen geben, die du verheimlichen wirst. Verdammt Leandro, wir kennen uns doch nicht erst seit gestern! Wir haben so viel zusammen durchgestanden. Was auch immer dich davon abhält, es ist unberechtigt. So beschissen es auch sein mag, manchmal ist Liebe wohl einfach nicht genug.“ Meine Worte waren hart. Aber anscheinend waren sie die Wahrheit. Ich zerbrach langsam in mir selbst. Von Minute zu Minute wurde mir klar, dass er an dieser Entscheidung nichts ändern würde. Er würde es weiterhin vor mir verheimlichen wollen. Und damit war doch eigentlich alles entschieden oder? Wie sollte ich mit jemanden zusammen sein, der tausend Geheimnisse vor mir hatte?
„Ich kann dir nicht davon erzählen, du würdest gehen, du würdest verdammt noch mal gehen!“, antwortete er laut und sah mir mit aufgerissenen Augen entgegen. Seine Augen flehten mich beinahe an zu bleiben. Es einfach zu akzeptieren. Aber das konnte ich nicht mehr. Ich hatte seine merkwürdigen Taten viel zu selten hinterfragt. Ich hatte ihm einfach blind vertraut. Aber damit war jetzt Schluss! So konnte es nicht weitergehen!
„Wieso sollte ich gehen? Ich kenne so viele, verschiedene Seiten an dir. Du hast mich schon so oft verletzt und angelogen. Wieso sollte ich dann gehen, wenn du mir ein Mal die Wahrheit sagst?“
„Ich weiß, dass du gehen wirst. Ich hasse meine Vergangenheit und ich denke, dass du mich für jemand ganz anderes hältst.“ Was sollte das sein? Was konnte schon so grausames in seiner Vergangenheit liegen? Etwas, das mich dazu bringen würde ihn zu verlassen?
„Ich werde nicht gehen, wenn du mir die Wahrheit sagst. Ich werde nur gehen, wenn du mir diese Dinge weiterhin verschweigst. Das ist jetzt deine Entscheidung“, sagte ich ernst, drehte mich jedoch immer noch nicht zu ihm um. Wie konnte man sich nur so unheimlich stur stellen?
„Okay. Ich werds dir erklären“, sagte er schließlich seufzend und legte seine Handfläche neben sich, um mir zu sagen, ich solle mich wieder setzten. Seiner Aufforderung kam ich nur zögernd nach. Ich war davon ausgegangen, dass er weiter diskutieren würde. Ich hatte mir allem gerechnet, nur nicht damit.
„Wo fang ich da am besten an?“, dachte er laut und seufzte erneut. Gespannt musterte ich ihn und rückte ein Stück näher zu ihm. Wir hatte immer noch einen ungewöhnlich großen Abstand zwischen uns. Aber er war etwas kleiner geworden.
„Du weißt, dass ich meine Mum und meine Schwester vor einiger Zeit verloren habe?“
„Ja.“
„Natürlich hat mich das ziemlich fertig gemacht und...“
„Und da bist du auf die Variante mit dem Blut gekommen?“, führte ich seinen Satz weiter, nachdem er ein paar Sekunden geschwiegen hatte.
„Ja, du weißt, dass ich von den Vampiren in dieser Gegend nicht viel halte, da sie wirklich schreckliche Angewohnheiten haben, aber mit einem Mädchen von dort konnte ich ganz gut und sie verriet mir, was es bewirkte und wie ich es wohl richtig einsetzten würde.“ Ein Mädchen? Typisch! Manchmal fragte ich mich, ob er überhaupt männliche Freundschaften hatte.
„Hat sie es selbst so gemacht?“
„Ja, hier machen sie es fast alle so. Vor allem die, die dem Quartier angehören. Wie du, habe ich ihr geglaubt und war froh, dass es funktionierte.“
„Ja es funktioniert und das sogar verdammt gut. Deshalb verstehe ich immer noch nicht, wieso du versuchst es mir auszureden.“
„Eine lange Zeit ging es gut und ich spürte, wie ich weniger über sie nachdenken musste und wie sie anfingen mir egal zu werden. Für´s Erste freute ich mich darüber. Ich fühlte mich frei. Frei von der Last und der Trauer. Ich konnte mich endlich wieder auf wichtigere Dinge konzentrieren. Ich lernte fleißig und bekam immer mehr das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Während ich vermeintlich immer stabiler und stärker wurde, wurde sie plötzlich wieder verletzlich und unberechenbar. Sie hatte verstanden was es auf lange Sicht mit einem tut und versuchte davon loszukommen. Doch sie war mit diesem Entschluss allein. Ich wollte nicht verstehen warum sie aufhörte und vor allem, warum sie wollte, dass ich das gleiche tun würde. Wie du, war ich naiv und gutgläubig, sodass ich vorübergehend den Kontakt zu ihr abbrach und mich um meine eigenen Dinge kümmerte.
Nach einigen Monaten fing mein Körper an, sich mehr und mehr an das regelmäßige Blut zu gewöhnen und auf einmal wollte er immer mehr. Schon nach kurzer Zeit reichten keine kleinen Mahlzeiten mehr und ich wurde immer gieriger. Da das Blut mein Gewissen mehr und mehr verschwinden ließ, hatte ich angefangen meine Werte zu verlieren und kümmerte mich nicht mehr um die Bedürfnisse anderer. Am liebsten würde ich diesen Teil meines Lebens vergessen und nie wieder ein Wort darüber verlieren, aber ich muss wenigstens versuchen, dich vor dem gleichen Fehler zu bewahren.“ Heldenhaft, wie immer.
„Du denkst also, das Blut würde einem die Empathie und das Gewissen nehmen?“, fragte ich ungläubig und musterte ihn. Ja vielleicht war er manchmal nicht besonders einfühlsam und hatte wenig Verständnis für mich, aber doch nur wenn aufhörte sich für mich zu interessieren. Es hatte tatsächlich Zeiten gegeben, in denen er so fürsorglich und süß gewesen war, dass ich ihm diese Geschichte einfach nicht abnehmen konnte. Trotzdem gab ich meine Einwände nicht kund und hörte seinen Erzählungen weiter zu.
„Wenn man es lange so verwendet, dann tut es das, ja. Die meisten Vampire von hier leben mit dieser Variante und keiner von ihnen schert sich auch nur annähernd um das Wohl der anderen. Nur sie selbst sind sich am nächsten. Anders könnte man nicht erklären, wie sie die unschuldigen Seelen von Kindern quälen können, ohne dabei mir der Wimper zu zucken.“
„Hm.“
„Du hast sie noch nicht erlebt und wenn du es tun würdest, dann hättest du schon lange keine Zweifel mehr. Ich gehörte einst auch diesen grausamen Gestalten an und hatte angefangen mich bei ihnen einzunisten. Wie sie, tötete ich unzählige Menschen und quälte sie, weil es einen nur noch mehr in Rage brachte. Ich hasse mich so sehr für diesen Kontrollverlust und hätten mich mein Vater und dieses Mädchen damals nicht gezwungen aufzuhören, dann würde ich immer noch bei ihnen sein.“ Leandro hatte schon zu Beginn unserer Begegnung so gewirkt, als hätte er immer alles unter Kontrolle. Er wirkte so, als würde er jede Tat überdenken, als wüsste er genau, was er tat. Er wirkte irgendwie vernünftig. Umso schwerer fiel es mir also, ihm diese Geschichte zu glauben.
„Dein Vater hat dir geholfen? Hättest du ihm dafür nicht unheimlich dankbar sein müssen?“
„Nein, was ich damals von ihm gedacht hatte... da reichte dieser Gefallen nur dafür aus, dass ich bei ihm blieb. Nur aus eigennützigen Gründen, denn so war ich mir sicher, dass ich nicht erneut auf die falsche Bahn geraten würde. Außerdem hatte ich erst Jahre später wirklich Einsicht. Noch Ewigkeiten nachdem sie mir versucht hatten zu erklären, was es mit mir anstellte, wollte ich es immer noch nicht glauben, obwohl ich es selbst erlebt hatte.“
„Klar das Töten ist nicht gut, darüber brauchen wir nicht zu sprechen, aber was ist daran so schlimm härter und weniger verletzlich zu werden? In dieser Gesellschaft ist es wirklich von Nutzen.“
„Scheiße Alex! Es macht dich abhängig, du wirst sein Sklave und irgendwann kommt der Punkt, an dem du anfängst alles dafür zu tun. Es ist eine verdammte Droge, wenn man es falsch benutzt. Es nimmt dir jegliches Einfühlungsvermögen und macht dich unheimlich kalt,... emotionslos. Du fängst an nichts mehr fühlen zu wollen, weil es dich nun mal schwach macht und das ist einfach nicht richtig. Du fühlst gar nichts mehr. Nichts! Keine Liebe, keine Trauer, kein Glück. Nichts! Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, dann wirst du mir zustimmen. Du bist voller Liebe und Güte, lass dir das doch nicht nehmen!“
„Ist ja gut!“, knurrte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Schon wieder tat er es! Plusterte sich besserwisserisch auf und fühlte sich in der Position mir einen Vortrag über Anstand und Ordnung halten zu können.
„Außerdem ist die Abgewöhnung eine wahre Qual. Immer wieder hatte ich die Kontrolle verloren und war wahllos über einige Menschen hergefallen, bis ich sie komplett leer getrunken hatte und im gleichen Blutrausch schwebte, wie du es getan hast. Ich kann dich also mehr als verstehen und kenne die Gedanken, die dann in einem existieren. Meine Rettung kam spät, aber deine könnte noch genau rechtzeitig kommen, wenn du dir helfen lässt“, sagte er und legte seinen Arm um meine Schulter, während er etwas näher an mich ran rutschte. Prüfend schaute er mich an und wartete auf eine Reaktion.
Wenn ich mich nicht wehren würde, dann würde ich automatisch seine Hilfe annehmen und wir würden wieder zueinander finden, dessen war ich mir bewusst. Nur wusste ich nicht, ob ich das wollte. Eigentlich wollte ich Zeit haben, um darüber nachdenken zu können, doch die bekam ich nicht und so willigte ich ein, ohne mich entschieden zu haben. Aber das störte mich nicht lange. Eigentlich hatte ich mich schon entschieden. Auch, wenn ich es selbst nicht wirklich wahrhaben wollte. Wahrscheinlich würde ich immer zu dieser Entscheidung kommen, früher oder später...
Seufzend rückte nun auch ich näher und lehnte mich an ihn. Ein vertrautes und wohliges Kribbeln durchflutete meinen Körper und machte mir bewusst, wie sehr ich ihn vermisst hatte.
„Okay. Ich werde damit aufhören und ich werde auch Lucas davon erzählen. Aber ich denke nicht, dass ich deine Hilfe brauchen werde. Immerhin trinke ich es noch nicht so lange. Regelmäßig jedenfalls. Und Hunger habe ich auch nicht.“
„Noch nicht. Ich will dir keine Angst machen, aber ich will dich auch nicht anlügen. Das wird echt nicht leicht werden. Ich weiß wovon ich spreche, aber ich bin mir sicher, dass du das hinbekommen wirst.“ Noch konnte ich nicht glauben, wie schwer es wirklich werden würde und deshalb tat ich es auch nur mit einem Schulterzucken ab. Obwohl ich mir vorgenommen hatte weniger naiv zu sein, tat ich genau das Gegenteil, aber das würde ich schon bald zu spüren bekommen.
„Wie lange hast du es so genommen?“
„Zu lange. Fast zwei Jahre.“ Bei seinen Erzählungen hätte man glatt glauben können, dass sofortige Langzeitschäden eintreten würden, aber selbst nach zwei Jahren gab es da nichts? Jetzt verstand ich diese ganze Aufregung immer noch nicht.
„Zwei Jahre? Und du hast keine Nebenwirkungen davon? Außer, dass du einen Entzug machen musstest?“
„Nein, ganz so schön ist es leider nicht. Danach hatte ich tausende Nebenwirkungen. Ewigkeiten noch wies ich alle von mir ab und erzählte niemanden etwas. Ich fiel in ein tiefes Loch. Es war ja nicht nur das Blut, auf das ich verzichten musste. Ich hatte die Trauer nur vor mir hergeschoben. Ich hatte sie verdrängt und plötzlich kamen all diese negativen Gedanken zurück. Sie kamen alle auf einmal und ich wusste nicht mehr wo mir der Kopf stand. Ich wusste nicht mehr, was ich mit meinem Leben anstellen sollte. Ich hatte den Fokus wieder komplett verloren und war ein einziges Wrack geworden.
Bis ich auf Laureen traf. Ihr vertraute ich zum ersten Mal danach und alle schlechten Eigenschaften, die ich nach diesem Konsum beibehalten hatte, verschwanden mit einem Mal. Das dachte ich zumindest. Für sie tat ich alles und merkte gar nicht, wie sehr ich anderen damit weh tat. Sie machte mich blind und hätte sie auch nur ein wenig von ihrem Charme spielen lassen, dann hätte sie mich mit einer Leichtigkeit wieder dazu bringen können, der Versuchung nicht mehr widerstehen zu wollen.“
„Warum hat sie es nicht getan?“
„Ich weiß, dass du sie auf den Tod nicht ausstehen kannst und das kann ich vollkommen verstehen, aber ich will nicht leugnen, dass sie mich glücklich gemacht hat. Und ob sie es zugeben möchte oder nicht, auch sie war mit mir glücklich, bis sie sich neu verliebte.“
„Mag sein, trotzdem hätte es zu ihr gepasst“, erklärte ich trotzig und seufzte, während ich mich etwas enger an ihn kuschelte.
„Ich hatte ihr nichts getan, sie war Diejenige gewesen, die gegangen war.“
„Sie ist ja auch völlig verblödet. Jeder der dich gehen lassen würde.“ Schmunzelnd sah ich ihn an und genoss seine ehrliches Lächeln, in dieser sternenklaren, kalten Nacht. Auch, wenn ich immer noch nicht sagen konnte, dass ich ihn gut kannte, wusste ich wenigstens wann er wirklich ehrlich lächelte und wann er mich küssen wollte. Seine Miene war wieder freundlich geworden. Erleichtert sah er mich an und kam mir immer näher. Schmunzelnd biss er sich auf die Unterlippe und schloss langsam seine Augen. Ich tat es ihm gleich und konnte es kaum noch erwarten, seine Nähe spüren zu können. Sanft trafen seine Lippen meine und verstärkten dieses Kribbeln in meinem Bauch. Die Dinge, die immer noch zwischen uns standen, waren längst vergessen und traten in den Hintergrund. Ob das gut war, keine Ahnung. Aber jetzt galt dieser Moment nur noch uns. Ich klammerte mich immer fester an ihn. Dieses Gefühl war unvergesslich. Trotz all der Probleme liebte ich es, wie er mich küsste, wie er mich berührte. Sein Lächeln reichte schon aus, um mich so vieles vergessen zu lassen.
Eine Weile noch lag ich schweigend in seinen Armen und starrte in den Sternenhimmel. Ich liebte diesen Typen so sehr, dass es mich beinahe umbrachte.
Ich konnte und wollte nicht anders als zu lächeln. Es schien mir das Ende von einer langen und anstrengenden Reise zu sein. Von einer Reise, in der ich geliebt, verletzt, getrauert und gehasst habe. Eine Reise in der ich viel gelernt habe, doch nur die Zeit wird zeigen, ob ich das Gelernte auch anwenden kann.
Es war das Ende von etwas Schrecklichen und trotzdem Schönem und der Start in etwas Unbekanntes und Aufregendes. Doch diesen Start würde ich erst beginnen lassen, wenn ich meine Pause gehabt hätte und endlich, einfach nur unbeschwert und glücklich in seinen Armen liegen konnte, ohne Angst haben zu müssen, jede Sekunde wieder alles verlieren zu können. Ohne trauern zu müssen und verdammt noch mal, ohne ein Funken Reue.