Langsam wetzte die stumpfe Miene des Bleistiftes über die freie Seite des Heftes und hinterließ dort, ungenaue, nichts bedeutende Spuren. Grade und krumme Linien zogen sich von der obersten Ecke, bis in die Unterste. Willkürlich und unbedeutend. Waren einzig zum Zeitvertreib gedacht. Lautes Ticken der Uhr, gemischt mit dem Kratzen von Mienen, auf trockenen Blättern, erfüllte den Raum und rief in mir ein vertrautes Gefühl hervor. Gerüche von Parfum und Schweiß lagen in der Luft, doch zusammen rochen sie nicht ansatzweise so schlimm, wie es sich anhörte. Stille umgab uns. Keiner wagte es, ein Wort von sich zu geben. Man hörte jedes Räuspern und Seufzen. Jeden Schluck, den jemand aus seiner Falsche nahm und jeden lauten Atemzug.
Einzeln waren diese Geräusche nervig, unausstehlich, doch zusammen ergaben sie eine eigenartig, angenehme Atmosphäre, in der ich mich konzentrieren konnte, wenn ich denn wollte.
Gelangweilt sah ich meinem Bleistift zu, wie er immer mehr graue Striche auf die Seite meines Blattes brachte. Ich warf einen verstohlenen Blick zu Uhr. Noch zehn Minuten. Zehn Minuten, bis der letzte Block für heute beginnen würde. Sport. Schritte unterbrachen meine Gedanken und ließen mich verkrampft werden. Schnell versuchte ich die Mathe Unterlagen an die Oberfläche zu holen und meine unnützen Zeichnungen zu verdecken. Doch bevor mir das richtig gelingen konnte, stand sie längst vor mir und musterte meine Aufzeichnungen kritisch.
„Schon fertig?“, fragte sie streng und zog dabei eine Augenbraue mahnend nach oben. Seufzend schüttelte ich den Kopf und nahm mir die Aufgaben wieder vor. Eigentlich war ich längst fertig, aber die meisten waren gerade mal bei der Hälfte angekommen und ich hatte keine Lust, an die Tafel gehen zu müssen, um das Zeug anzuschreiben. Immer noch wollte ich nicht aus der Masse stechen und passte mich einfach dem Tempo der anderen an. In Mathe jedenfalls. Wenn es allerdings um Physik oder Chemie ging, hing ich ziemlich hinterher und musste zusehen, dass ich überhaupt etwas vom Stoff verstand. Nachdenklich sah ich zu Maya rüber, die auch erst bei der Hälfte angekommen war und einen Gesichtsausdruck machte, als müsste sie die Wurzel von 17.436 im Kopf rechnen. Vertieft starrte sie ihr Mathebuch an und versuchte verzweifelt auf die Lösung der Aufgaben zu kommen.
Kurz musste ich schmunzeln, ehe ich den Kopf wieder senkte und mich der konzentrierten Stimmung anpasste. Gelangweilt schrieb ich das Datum von heute in die Ecke des Blattes und gab mir dabei besonders viel Mühe, da ich sowieso nichts mehr zu tun hatte. Dienstag, 10. 09. 2017
Wie sich herausgestellt hatte war unsere Mathelehrerin die stellvertretende Direktorin. Doch sie war nur halb so streng, wie ihr Titel vermuten ließ. Ohne Frage, sie war eine Autoritätsperson, die wusste, wie sie ihren Unterricht zu führen hatte. Trotzdem war sie kein Unmensch, was die meisten Leute wohl von stellvertretenden Mathelehrern erwarten würden. Für ihr Fach erschien sie sogar unerwartet freundlich und war bereit auf Wünsche einzugehen, wenn sie dafür respektiert wurde.
Die ruhige Arbeitsatmosphäre wurde unterbrochen, als die Klingel zu läuten anfing und Frau Malack ein letztes Mal, für diesen Tag, das Wort ergriff:
„Die Aufgaben beenden Sie bitte bis zum Donnerstag. Dort schreiben wir zum eine tägliche Übung und im Anschluss werden wir die Hausaufgaben kontrollieren.“
„Ist das jetzt ein Test?“, erklang die pipsige Stimme von Valerie. Diese nervtötende Stimme würde ich überall wiedererkennen. Sie war so schrill und hoch, dass einem fast das Trommelfell platzte und schon alleine diese Frage verriet, dass nur sie es sein konnte.
„Natürlich nicht. Ich möchte mir zunächst einen Überblick verschaffen, was die Ferien über hängen geblieben ist und auf welchem Stand unsere neuen Schüler sind.“ Zögernd blickte ich auf und bemerkte dabei, wie sie uns intensiv anstarrte. Wir haben einen Namen!
„Schönen Nachmittag noch“, verabschiedete sie sich und verließ den Raum, bevor wir es tun konnten.
Endlich wurde ich aufmerksamer und fing an meine Sachen in den Rucksack zu packen. Zum unzähligen Mal an diesem Tag, ließ ich meinen Blick durch die Menge schweifen und hielt nach Lucas Ausschau, doch er war immer noch nicht gekommen.
„Beeil dich, der Sportlehrer ist ziemlich streng und wenn wir nicht rechtzeitig umgezogen vor ihm stehen, gibt’s Strafrunden und glaub mir, die willst du nicht rennen“, sagte Maya gehetzt und lief mit gestapelten Sachen, auf ihren Armen, an mir vorbei. Zögernd tat ich es ihr gleich und zog Leandro hinter mir her, der den ganzen Trubel gar nicht mitbekommen hatte.
„Wie weit bist du mit den Aufgaben gekommen?“, fragte er seufzend und versuchte seine abstürzenden Sachen jonglieren zu können. Melina hatte ihre Sachen schon vor dem Klingeln zusammengepackt und hatte nun die Arme frei. So lief sie also Leandro hinterher und sammelte die hinunterfallenden Sachen auf. Er nickte ihr als Gegenzug nur lächelnd zu, ehe er sich wieder mir widmete.
„Bin fertig.“
„Was?“, fragten sie beinahe alle zur gleichen Zeit und starrten mich an, als hätte ich das Unmögliche, möglich gemacht.
„Das waren drei Aufgaben, die wir bis g und h rechnen müssen.“
„Ich weiß, ich saß im selben Unterricht, aber die halbe Stunde hat mir wohl gereicht“, gab ich schulterzuckend zu und hoffte wir könnten es dabei belassen.
„Okay wow, hast du irgendwie vor Mathe zu studieren“, lachte Maya. Kopfschüttelnd sah ich sie an und legte mein Mathebuch von der linken Hand, in die Rechte.
„Bestimmt war nicht mal Valerie so weit“, antwortete Melina, als wir endlich im Sportbereich angekommen waren. Ein muskulöser, durchtrainierter Mann stand vor uns und begrüßte uns mit einem falschem Lächeln. Streng musterte er uns. So wie er aussah, würde er wohl wirklich viel von der Klasse verlangen. Eigentlich hatte ich keine Lust mir dort viel Mühe zu geben, aber ich versuchte das als Ersatz für das ausfallende Training mit Leandro anzusehen und mich seinen Wünschen anzupassen. Das wäre wohl immer noch die beste Variante, um nicht aufzufallen.
„Das lass sie aber bloß nicht wissen“, lachte Leandro und reihte sich zwischen Melina und mir ein.
„Tag“, knurrte Maya, während sie sich am Sportlehrer vorbei drängte und mürrisch den Kabinenschlüssel entgegennahm.
„Zwei neue Gesichter? Ich bin gespannt was ihr drauf habt. Heute starten wir jedenfalls mit Ausdauerlauf.“ Seufzen von Maya und Melina war zu hören, während wir den Flur betraten und Leandro sich von uns trennen musste. Ihren Reaktionen nach zu urteilen, würde diese Stunde wohl mehr, als nur anstrengend werden.
„Warum hat Leandro keinen Schlüssel bekommen?“, fragte ich besorgt und stellte meine Sachen auf einer der langgezogenen Bänke ab.
„Keine Ahnung, vielleicht waren schon welche vor ihm da“, vermutete Maya und seufzte ein weiteres Mal, während sie schnell aus ihrem Oberteil schlüpfte. Ein Zucken durchfuhr meinen Körper, als ich mich an die Verbände um meine Handgelenke erinnerte und den Biss... Scheiße, ich könnte doch niemals mein T-Shirt anziehen! Warum hatte ich daran nicht gedacht? Stöhnend drehte ich mich von meiner durchwühlten Sporttasche weg und musterte die anderen, die sich schon fast fertig umgezogen hatten.
Mittlerweile waren auch die anderen Mädchen dazugestoßen, die sich genauso hektisch umzogen, wie es Maya und Melina getan hatten. Zunächst zog ich mir nur meine Sporthose an und band meine Haare zu einem Zopf zusammen, doch dann stand ich wieder vor dem selben Problem, was Melina nicht übersehen hatte:
„Was ist?“
„Ich... habe mein Sportoberteil vergessen.“
„Oh verdammt! Ich würde dir meins anbieten, aber das brauche ich selbst und ein Zweites habe ich nicht dabei.“ Schulterzuckend blickte ich in die Runde und bemerkte, wie alle die Blicke sinken ließen. Sie wollten mir auch nicht helfen und darüber konnte ich nur froh sein. Schließlich hatte ich das Oberteil nicht vergessen und hätte keine Ahnung gehabt, wie ich irgendein Angebot ablehnen sollte.
„Ich lass meinen Pulli einfach an, wird er schon nicht bemerken.“
„Das wird ganz schön heiß werden“, mischte sich ein anderes Mädchen ein, deren Namen ich immer noch nicht kannte.
„Ja, aber besser als nichts.“
„Er wird bestimmt nicht mitbekommen haben, dass du den Pullover schon anhattest. Immerhin hattest du eine Jacke drüber. Sag halt einfach, dass dir schnell kalt ist.“ Unzufrieden nickte ich und dachte darüber nach, wie ich mein Problem auch noch die nächsten Wochen verstecken sollte. Ich konnte doch nicht jede Stunde mit einem Pullover antanzen. Irgendwann würde ihnen das mit Sicherheit komisch vorkommen und dann müsste ich mir irgendwelche Ausreden einfallen lassen...
„Wie auch immer. Ihr könnt gerne noch ewig hier rumstehen und euch extra Runden einfangen, ich werde jedenfalls vorgehen“, beschloss Maya und machte sich auf den Weg. Seufzend folgten wir ihr und traten zusammen in die große Halle. Auf den ersten Blick wirkte sie klein, doch als die Trennwände hochgezogen wurden, fing ich an zu staunen. Meine alte Sporthalle hatte ich immer für riesig gehalten, aber diese hier, war mindestens doppelt so groß. Vorbildlich setzten wir uns auf die vorgesehenen Bänke und warteten, bis der Rest auch kam.
„Denkst du er wird heute so richtig loslegen?“, fragte Maya seufzend und blickte Melina schüchtern in die Augen.
„Schätze schon, solange er uns wenigstens mit dem Kraftkeis in Ruhe lässt.“ Auch sie seufzte und verstummte dann. Sein Blick lag schwer auf uns und hatte die beiden wohl dazu gebracht, mit dem Reden aufzuhören.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er so streng war, jedenfalls nicht so sehr, wie die beiden taten. Er wirkte nicht so verbittert, wie man es bei ihren Erzählungen und Reaktionen vermuten würde, eher als hätte er Freude an seine Job. Freundlich lächelte er uns entgegen und erwähnte gar nicht, dass einige Schüler zu spät gekommen waren. Unter ihnen war auch Leandro, der getrödelt haben musste. Trotz meines Misstrauens gegenüber der Vorurteile, schwieg ich und verhielt mich, wie der Rest, einfach ruhig.
Nachdem sich alle sortiert auf die Bänke gesetzt hatten, ging er die Anwesenheit durch, ehe er uns mit seinem heutigen Plan bekannt machte. Von dem befürchteten Kraftkreis verschonte er uns, jedoch rief seine Alternative auch nicht gerade Begeisterung hervor. Es gab murmelnde Beschwerden über sein Vorhaben, die er definitiv mitbekommen hatte. Trotzdem ließ er sich zu nichts anderem überreden und schickte die Klasse schließlich los. Nur Leandro und mich bat er um ein weiteres Gespräch.
„So, ihr seid also die neuen Schüler?“
„Ja, Alex und das ist Leandro“, antwortete ich knapp und überlegte was er von uns wollte.
„Schön, ich bin Herr Schubert. Natürlich werdet ihr aus dem heutigen Programm nicht rausgenommen, trotzdem werde ich Nachsicht haben“, sagte er und führte uns weiter weg von den anderen. Die gesamte Klasse hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und lief ihre Bahnen. Alle hielten sie ein gleichmäßiges Tempo, ohne dabei abzukürzen oder ein Wettrennen zu starten.
„Über Ihre Sportkleidung müssen wir noch mal reden. Nächstes Mal ziehen sie sich bitte ein
T-Shirt an.“
„Ja natürlich“, entgegnete ich knapp.
„Woraus besteht denn die Übung?“, hakte ich nach, während Leandro immer noch die laufenden Schüler beobachtete.
„Es geht ausschließlich um Ausdauer. 70 Minuten einfach laufen, ohne ins Gehen zu fallen. Hört sich viel an, weiß ich, dient jedoch dazu, den inneren Schweinehund zu überwinden und durchzuhalten.“
„Okay, sollen wir dann anfangen?“
„Motivation? So lob ich mir das“, entgegnete er lächelnd und warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr.
„Ihr habt noch 65 Minuten, versucht euer Glück.“
Nickend verschwanden Leandro und ich auf der Rennfläche und mischten uns zu den anderen. Für die erste Stunde, nach den Ferien, erwartete er echt viel, trotzdem war er nett dabei und wenn man sich nur gut genug bemühte, wäre er wohl okay. Das sah ich jetzt so, nach den 65 Minuten könnte das jedoch anders aussehen. Ausdauer war noch nie mein Ding gewesen, aber ich wollte es ausprobieren und ich war mir sicher, dass er mir keine Extrarunden aufbrummen würde, wenn ich es wenigstens versuchen würde.
Die ersten Runden vergingen schnell und auch Weitere machten mir keine Probleme. Trotzdem musste ich mich bemühen, nicht ständig auf die Uhr zu schauen oder nach Lucas zu suchen.
Leandro und ich joggten die ganze Zeit nebeneinander, wobei wir jedoch kein Wort miteinander wechselten. Man könnte denken, dass wir es einfacherer, als die anderen hatten. Nur gab es da ein Problem. Unsere Kräfte konnten wir nur nutzen, wenn wir schneller, als dieses Joggingtempo rannten und das wäre in dieser Umgebung leider viel zu auffällig gewesen. Also mussten wir, genauso wie alle anderen, durchhalten. Ab der Hälfte der Zeit schaltete er Musik ein und motivierte die ganze Gruppe weiterzulaufen. Einige waren ziemlich langsam geworden und es konnte nur noch wenige Minuten dauern, bis sie anfangen würden zu gehen. Zehn Minuten nachdem er die Musik an gemacht hatte, gaben die ersten auf und liefen nur noch entspannt ihre Runden. Ihnen folgten immer mehr, sodass nur noch 14 der Schüler bis zum Schluss durchhielten. Sogar Valerie gab nicht auf und lief durch die Turnhalle, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht.
Zugegebener Maßen hatte ich die Zeitspanne zu Beginn ziemlich falsch eingeschätzt und musste die letzten Minuten mit mir selbst kämpfen, nicht jede Sekunde aufzugeben. Wir schleppten uns die letzten fünf Minuten nur noch durch die Turnhalle und nahmen unsere Augen nicht mehr von der Uhr. Meine Knie schmerzten von dem harten Boden und ich spürte, wie die Seitenstechen immer intensiver wurden. Trotzdem gab ich nicht auf. Die letzten Minuten würde ich auch noch durchhalten. Endlich pfiff Herr Schubert ab und wir konnte aufhören uns zu quälen. Damit wir uns erholen konnten, liefen wir noch ein paar Schritte entspannt, bevor wir uns erschöpft neben Melina und Maya auf die Bank fallen ließen und verschnaufen konnten. Mein Gesicht brannte vor Hitze und ich war mir sicher, dass ich mindestens genauso rot war, wie alle anderen auch.
In meinem Pullover war es noch tausend mal heißer, als es in einem T-Shirt gewesen wäre, aber das war okay, denn ich spürte, wie mir das Amulett meine verlorenen Kräfte langsam wiedergab. Meine Seitenstechen verschwanden, meine Lunge hörte auf zu brennen und meine wackligen Knie waren wieder wie neu. Durch den Pullover hatte der Lehrer das Amulett nicht gesehen und ich hatte es für den Unterricht nicht abnehmen müssen. Leandro hatte seinen Pullover ebenfalls angelassen, wahrscheinlich auch, damit er das Amulett nicht abmachen brauchte. Das wäre viel zu riskant gewesen.
Schnell zogen wir uns um, packten die Sachen zusammen und verschwanden aus dem Gebäude.
„Das ist so unglaublich unfair, wie kann ein Mensch nur in allem talentiert sein?“, beschwerte sich Maya kopfschüttelnd, während wir den Weg zu den Fahrradständern einschlugen.
„Keine Ahnung. Die brauch sich echt nicht wundern, wenn sie keiner leiden kann“, ergänzte Melina schwer atmend und rückte ihre Tasche zurecht.
„Redet ihr von Valerie?“
„Na klar, von wem sonst?“, knurrte Melina und rollte mit den Augen.
„In irgendetwas ist sie bestimmt schlecht. Was ist mit Kunst oder Musik?“, mischte sich Leandro ein und drängte sich zwischen Melina und mich, um mehr im Geschehen zu sein.
„Nein, sie kann einfach alles! Sie kann zeichnen, sie schreibt nur gute Noten und sie ist sportlich!“, zischte Melina angepisst und beschleunigte ihre Schritte.
„Na und, was bringen ihr die Noten, wenn sie eh keiner leiden kann?“, antwortete ich. Ich spürte Mayas und Melinas Neid, aber das nahm ich ihnen nicht übel. Sie taten sich in Mathe ziemlich schwer, ungefähr so, wie ich es bei Physik und Chemie tat und Valerie konnte einfach alles. Da war es wohl klar, dass man irgendwann neidisch wurde.
„Das ist einfach nicht fair, ich hasse sone Leute“, sagte Melina sauer und schloss ihr Fahrrad ab, als wir endlich dort angekommen waren.
„Ich auch. Wurdet ihr denn benotet?“, fragte ich neugierig. Leandro und ich hatten eine Eins bekommen und ich überlegte, ob Herr Schubert an alle Noten verteilt hatte. Beide schüttelten sie die Köpfe und schwangen sich auf ihre Räder.
„Das ist doch gut oder?“
„Bestimmt, wir sehen uns Morgen“, antwortete Maya und zusammen fuhren sie davon.
„War doch kein schlechter Tag“, sagte Leandro völlig aus dem Kontext gerissen und legte seine Hände sachte auf meine Hüfte, während er mich näher zu sich ran zog. Lächelnd fuhr er mir durchs Haar und streifte eine Strähne hinter mein linkes Ohr.
„Du bist so unglaublich hübsch“, flüsterte er und küsste mich. Lächelnd erwiderte ich den Kuss und vergaß für einen Moment, dass wir immer noch in der Mitte des Schulhofes standen. Ich drückte ihn eng an mich und sog seinen unwiderstehlichen Geruch ein. Trotz Allem war er perfekt in meinen Augen und ich hatte ein gutes Gefühl, dass uns eine relativ konfliktfreie Zukunft bevorstehen würde.
„Gehen wir nach Hause?“, fragte ich und hoffte wir könnten uns einen entspannten Nachmittag machen, wo wir nur zu zweit in seinem Bett liegen und uns einen Film, nach dem anderen reinziehen würden.
„Geh du schon mal vor, ich habe noch was zu erledigen.“
„Du hast was zu erledigen? Ich kann doch mitkommen“, antwortete ich misstrauisch und löste mich aus seinen Armen.
„Nein, geh schon vor,... soll eine Überraschung werden.“
„Schon wieder?“
„Ja, aber ohne dich kränken zu wollen, dusche vorher“, antwortete er lachend und verschwand, nachdem er mir einen Abschiedskuss auf die Stirn gegeben hatte. Schon wieder hatte er eine Überraschung für mich geplant? Wenn das so weiter ging, würde ich mich deswegen irgendwann noch schlecht fühlen. Ob das nur eine Ausrede gewesen war? Vielleicht traf er sich ja doch heimlich mit Laureen und wollte mir davon nichts sagen? Ich schüttelte den Kopf. Tausend Vermutungen überfluteten meine Gedanken, wo ich sowieso nicht wusste, ob ich damit richtig lag. Ich musste anfangen ihm zu vertrauen. Bestimmt hatte er einfach nur eine Überraschung für mich geplant und da war nichts, worüber ich mir Sorgen machen brauchte. Außerdem brachte es ja eh nichts, wenn ich mir den Kopf zerbrach. Also trat ich seufzend den Heimweg an und hörte der Musik meiner Kopfhörer verträumt zu. Heute morgen hatte es leicht genieselt, weshalb Leandro und ich nicht mit Fahrrad gefahren waren, sondern den Bus genommen hatten. Den Rückweg allerdings lief ich lieber, da ich keine Lust hatte mich in den überfüllten Bus zu quetschen und mit irgendwelchen Leuten aus meiner Klasse Smalltalk zu halten. Irgendwann tauchte vor mir ein blonder Typ auf, dem ich am Anfang gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Erst als er sich zu mir umdrehte und mir erschrocken in die Augen sah, erkannte ich ihn plötzlich und wurde schneller.
„Bleib stehen!“, rief ich, als auch er schneller wurde und vor mir wegrennen wollte. Doch meine Worte brachten ihn nicht mal zum Zögern. Stattdessen raste er davon und verschwand im dunklen Wald. Das ließ ich doch nicht auf mir sitzen! Entschlossen folgte ich ihm. Auch, wenn mir das Amulett viel meiner Energie wiedergegeben hatte, war ich immer noch etwas erschöpft. Es fiel mir schwer mit Lucas mithalten zu können und ich spürte, wie ich schnell aus der Puste war. War es wirklich zu viel verlangt, mir ein paar Minuten zuzuhören? Gerade als ich dachte aufgeben zu müssen, bog er scharf nach links ab und hatte den Abstand zwischen uns falsch abgeschätzt. Das war meine Chance ihm näher zu kommen. Schnell sprintete ich ihm hinterher und warf mich auf seinen Rücken. Zusammen fielen wir zu Boden und landeten unsanft auf den harten Wurzeln der Bäume.
„Du bist verrückt, lass mich endlich in Ruhe!“, fluchte er und schob mich von sich runter. Kraftlos schnaufte ich, rappelte mich auf und versuchte den dunklen Schlamm aus meiner hellen Jeans rasuzureiben.
„Ich bin nicht verrückt! Hör mir einfach ein paar Minuten zu“, forderte ich und versuchte ihm durchdringend in die Augen zu starren.
„Einen Scheiß werde ich tun. Geh mir aus den Augen“, zischte er kalt und schubste mich aus dem Weg, als wäre ich nur ein lästiges Mädchen, das ihn nicht in Ruhe lassen konnte.
„Wie kannst du nur so zu mir sein? Ich dachte du würdest mir wenigstens ein bisschen vertrauen.“
„Vertrauen? Du hast beschissene Vampirbisse an deinem Hals und hast sie freiwillig entstehen lassen. Sonst wären sie schon längst verschwunden! Du bist und bleibst eine Bluthure und mit diesem Abschaum will ich nichts zu tun haben.“ Kalt drehte er sich um und wollte ein weiteres Mal vor dem Konflikt davonlaufen.
Verdattert blieb ich an meinem Fleck stehen, als er schon längst wieder losgelaufen war und starrte ihm hinterher. Er konnte doch unmöglich glauben, dass ich diesen Biss wirklich gewollt hatte. Ich wollte ihn nicht verlieren und so startete ich eine weitere Verfolgung. Mit meinen Kräften war ich eigentlich schon völlig am Ende, doch für diesen letzten Sprint sammelte ich sie noch mal, sodass ich ihn schnell eingeholt hatte und ihn dieses Mal gegen den Stamm eines Baumes drängte, damit er nicht schon wieder abhauen könnte.
„Scheiße, ich habe echt keine Lust mehr dir hinterher zu jagen. Hör mir gefälligst zu und lass mich den Biss erklären. Es ist nicht das, für was du es hälst“, knurrte ich erschöpft und genoss die kurze Atempause, in der er das Wort ergriff:
„Ich kenne Mädchen wie dich und es ist immer das Gleiche. Ich habe ihnen mein Vertrauen geschenkt und sie haben es missbraucht. Sie sagten sie würden es nie wieder tun und ein paar Tage später fand ich die nächsten Spuren. Es ist wie eine Sucht und du kommst da nicht raus, wenn du ein Mal angefangen hast.“
„Das kann ja sein, aber ich habe mich nicht beißen lassen! Ich wurde gebissen, ohne, dass ich es wollte.“
„Ich bin nicht blöd. Die Wunde wäre längst verheilt, wenn es so gewesen wäre. Du trägst das Amulett. Sie verheilt nur nicht, wenn es freiwillig geschieht.“
„Oder, wenn der Biss von einem Geist stammt“, sagte ich und schaute ihm ernst in die Augen. Doch er glaubte mir nicht. Er glaubte mir keine Sekunde lang. Stattdessen fing er an zu lachen und stieß meine Arme weg, die ihn bis eben noch gegen den Baum gedrückt hatten.
„Es ist echt ein beschissenes Gefühl sich so in dir getäuscht zu haben.“ Ungläubig lehnte ich meinen Kopf in den Nacken und sah für einem Moment dem wolkenverhangenen Himmel entgegen. Was sollte ich noch sagen, um ihn endlich überzeugen zu können? Ich hatte alles probiert, jede Formulierung, aber so langsam gingen mir die Worte aus.
„Was ist damit? Denkst du ich hätte mich selbst auch so tief geschnitten?“, fragte ich mit aufgerissenen Augen und schob die Ärmel meines Pullovers nach oben. Falten legten sich auf seine Stirn, während er den tiefen Schnitt an meinem linken Arm anstarrte.
„Nichts davon war ich und ich hab mich auch nicht freiwillig beißen lassen, verstehst du?“ Zögernd schob ich auch den Ärmel meines rechten Armes nach oben.
Für mich vergingen Stunden, für ihn wohl nur Sekunden, während er mich immer noch fassungslos anstarrte und nachdachte.
„Lucas, sag endlich was.“
„Ich... ähm, weiß nicht was ich dazu sagen soll.“ Ich konnte seine Blicke nicht deuten und ich hatte Angst, dass er mir immer noch nicht glauben würde. Ich wusste nicht wie ich es ihm noch erklären sollte. Es war nun mal dieses bescheuerte Geistermädchen gewesen und ich konnte an der Situation nichts ändern. Was wollte er noch hören, dass er mir endlich glaubte?
„Glaub mir doch“, versuchte ich mich weiter zu erklären, als er plötzlich einen Schritt auf mich zu machte und mich in den Arm nahm. Erleichtert atmete ich auf und legte meinen Kopf an seine Schulter. Er glaubte mir.
Im Gespräch versunken liefen wir wieder aus den Wald raus und versuchten alle Missverständnisse aus der Welt zu schaffen. Ich erzählte ihm alles von dem Mädchen und auch von unserem Deal. Er verstand mich plötzlich und seine ganze Wut war mit einem Mal verschwunden. Er erzählte mir auch von Mädchen, die er gekannt hatte und die sich immer wieder von ihren Freunden beißen ließen. Er meinte sie wurden süchtig danach und drehten vollkommen durch. Ich verstand zwar noch immer nicht richtig was daran so schlimm war, doch ich fragte Lucas auch nicht weiter danach. Ich konnte mir nicht vorstellen wieso sie danach durchdrehen sollten. Zugegebener Maßen hatte ich diesen überraschenden Biss auf eine schräge Art und Weise genossen, aber ich war definitiv nicht süchtig danach. Und selbst wenn, was wäre daran so schlimm?
Wir redeten bis wir zu seinem Haus kamen und ich dort etwas von den Blutbeuteln mit nach Hause nahm. Er wusste nicht ganz, wie er sich bei mir entschuldigen sollte, aber das war okay. Ich war nicht sauer auf ihn und ich machte ihm auch keine Vorwürfe. Ich war einfach froh, dass wir uns wieder vertragen hatten und er mir endlich glaubte.
Schnell machte ich mich auf den Heimweg. Ich musste noch duschen, bevor Leandro nach Hause kam und der Streit mit meiner Mutter war auch noch offen. Wenn ich das endlich hinter mir hatte, hätte ich vielleicht eine Weile Ruhe. Das hoffte ich zumindest.
„Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie ich hungern musste?“, schrie das Geistermädchen, als ich gerade in mein Zimmer kam und mich eigentlich auf mein Bett werfen wollte, um ein paar Minuten Zeit für mich zu haben. Mit angepisster Miene kam sie auf mich zu. Sie legte ihre Hand auf meine Schulter und jagte damit einen gewaltigen Stromstoß durch meinen Körper. Erschrocken fuhr ich zusammen und machte einen Schritt zur Seite, damit sie mich nicht mehr berührte. Seufzend suchte ich ihr ein paar Beutel raus und warf sie unachtsam zu Boden. Den Rest versteckte ich in meiner Tasche. Ich hatte heute noch nichts getrunken und ich war mir sicher, dass sie mehr verlangen würde, wenn sie diese zu Gesicht bekommen würde.
„Das ist mir so was von egal. Dich interessiert es ja auch nicht, was ich wegen dir für einen Ärger hatte!“, zischte ich wütend und suchte meine Sachen für die Dusche zusammen.
„Da hast du eigentlich Recht, aber anscheinend macht es dich wütend und das interessiert mich dann doch.“
„Kannst du dir das nicht selbst zusammenreimen? Dein Biss und die Schnitte waren nicht gerade einfach zu erklären“, entgegnete ich unfreundlich und wollte mich zu ihr umdrehen, doch da war sie längst, mit dem Blut in der Hand, verschwunden.
„Typisch“, murmelte ich unzufrieden und verschwand unter der Dusche. Ich würde dieses arrogante Miststück niemals mögen. Sie war einfach nur egoistisch. Ich war dumm, dass ich ihr helfen wollte. Sie behielt doch eh alle Informationen bei sich, sie verriet mir ja noch nicht mal ihren Namen.
Unter der Dusche beeilte ich mich, damit meine Haare noch genügend Zeit hatten, um zu trocknen. Es war gerade mal 16 Uhr und ich hatte das Gefühl, dass Leandro vor 17 Uhr nicht nach Hause kommen würde. Mir blieb also noch etwas Zeit, um zu entspannen und mir etwas Blut zu gönnen, ohne das Leandro davon Wind bekam. Ich machte meine Lieblingsserie an und versank nebenbei in den Welten von Social Media. Ich wurde unterbrochen, als die Haustür ins Schloss fiel. Schnell sprintete ich nach unten und hoffte Leandro zu begegnen. Doch stattdessen kamen nur meine Mum und mein Bruder nach Hause. Still zogen sie ihre Jacken aus. Tom verschwand nach oben und meine Mum warf sich auf die Couch, nachdem sie sich einen heißen Tee gekocht hatte. Sie sprachen kein Wort mit mir. Sagten mir nicht mal hallo. Also setzte ich mich zu meiner Mum auf die Couch und wollte versuchen die Sache zwischen uns aus dem Weg zu schaffen.
„Alles okay?“, fragte ich vorsichtig. Eigentlich wollte sie den Fernseher einschalten, doch als sie sah, dass ich mich um ein Gespräch bemühte, wartete sie damit.
„Hm, nur ein anstrengender Tag.“
„Wo warst du denn?“
„Arbeiten“, antwortete sie knapp und wusste genau, dass sie damit meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Seit unserem Umzug hatte meine Mum nicht mehr gearbeitet und ich wusste nicht mal, dass sie sich nach einer neuen Stelle umgesehen hatte. Die letzten Wochen hatten wir eigentlich nur aneinander vorbeigelebt und kaum mit einander gesprochen, das verstand ich allerdings erst jetzt so richtig.
„Arbeiten? Wo und wann hast du dich dafür beworben?“
„Ich bin wieder bei der Polizei. Leandro hat mir natürlich mit einigen Komplikationen geholfen.“
„Das hättest du bestimmt auch alleine geschafft. Warum hast du nichts gesagt?“, fragte ich unüberlegt und bereute es schon im nächsten Moment. Ihre Antwort war mir schon jetzt klar. Das war eine ziemlich dumme Frage gewesen.
Ihre Augen waren irgendwie leer und ausdruckslos, trotzdem wusste ich was sie mir damit sagen wollte. Tom hatte sie es mit Sicherheit erzählt, aber der hatte sich auch nicht mit ihr gestritten. Selbst Leandro hatte kein Wort darüber verloren. Manchmal kam es mir so vor, als würde er besser in diese Familie passen. Besser als ich. Sie hatte ihn eingeweiht und ihn um Hilfe gebeten, während sie mit mir kein Wort darüber gewechselt hatte.
Ich seufzte und blieb für einen Augenblick in Gedanken versunken, doch dann fing ich mich wieder und versuchte ein versöhnendes Gespräch zustande zu bekommen:
„Und wie war der erste Tag so?“
„Anstrengend, ich wurde direkt integriert und war bei einigen Einsätzen dabei. Nichts wildes, aber die ganze Fahrerei, ohne Pausen, kann einen ganz schön schaffen.“
„Das glaub ich.“ Ich wusste nicht ganz wie ich auf den Streit zu sprechen kommen sollte. Ich hatte mir ihr in letzter Zeit kaum geredet und wusste offensichtlich nicht mehr, was bei ihr los war. Also hatte ich auch keine Ahnung, wie ich daran anknüpfen könnte. Also schwieg ich wieder. So lange, bis sie nach der Fernbedienung griff und die Konversation auflösen wollte.
„Wegen letztens...“
„Ja?“
„Ich war wohl nicht ganz fair und wollte mich entschuldigen...“, antwortete ich zögernd.
„Ist schon okay irgendwie, du ich war nicht so fair zu dir und vielleicht hattest du ja auch ein bisschen Recht, ich...“ Die Worte gingen nur schwer über ihre Lippe und ich merkte, dass auch sie etwas bereute. Es war einfach eine scheiß Situation gewesen und wir alle hatten wohl noch mit anderen Dingen zu kämpfen, wovon der andere einfach nichts wusste. Ich wollte mich mit meiner Mutter wirklich vertragen, ich wollte ihr mehr über mich und mein Leben erzählen, aber irgendwie ging das immer noch nicht so richtig. Wir redeten viel und nach außen wirkte es vielleicht so, als hätten wir das wieder hinbekommen, aber ich wusste genau, dass sie der letzte Mensch wäre, zu dem ich gehen würde, wenn ich wieder Streit mit Leandro hätte. Ich konnte ihr immer noch richtig erzählen, wie es mir ging und ich spürte, dass sie das auch nicht konnte. Es war eigenartig und ich wusste nicht was es war, geschweige denn, was ich dagegen machen könnte, also ließ ich es. Es war besser so, als es davor gewesen war. Wir redeten immer noch nicht über Mia und über meinen Vater erst Recht nicht. Gerne hätte ich ihr erzählt was ich über meinen Vater wusste. Ihr von dieser Affäre erzählt, aber ich konnte es nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich ihr jemals davon erzählen sollte. Er war tot. War es da nicht besser für sie, wenn sie ihn so in Erinnerung behielt, wie sie ihn jetzt hatte? Andererseits hatte sie vielleicht ein Recht darauf es zu erfahren.
Ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte und deswegen geriet dieser Gedanke wieder in den Hintergrund. Wir redeten noch etwas über ihre Arbeit und die Schule. Es waren Themen, die vielleicht etwas über den Smalltalk hinausgingen, aber auch nicht wirklich tiefgründig waren. Aber das war vielleicht auch okay, für den Anfang. Vielleicht hatte ich zu viel von diesem Gespräch erwartet. Wir mussten uns wohl einfach langsam wieder annähern und bis es so weit wäre, würde ich einfach so tun, als gäbe es nichts zwischen uns, über das wir reden müssten.
Unsere Gespräche wurden unterbrochen, als Leandro durch die Tür kam und mich aufforderte, heute Abend noch etwas zusammen mit ihm zu unternehmen. Nach Mum´s Ermahnung, nicht später als 23 Uhr wieder da zu sein, verließen wir gemeinsam das Haus und machten uns auf den Weg.
„Und wohin willst du mich entführen?“, fragte ich und verschränkte meine linke Hand mit Seiner.
„Wirst du noch sehen, es ist nichts besonderes, aber das wolltest du ja auch nicht. Du wolltest Normalität und ich habe gehört, dass normale Menschen so etwas nun mal tun“, antwortete er.
„Ich bin gespannt.“ Auf dem Hinweg war ich ziemlich ruhig. Ich dachte immer noch über meine Mum nach. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich mit ihr nicht so reden wollte, wie ich es als ihre Tochter vielleicht sollte. Ich wusste ja nicht mal wirklich, warum ich so dachte. Ich meine, klar ich wollte vor ihr nicht weinen, aber das wollte ich ja vor niemanden. Das war auf eine bestimmte Weise sicherlich normal. Leandro weinte auch nie und ich glaubte auch, dass Lucas das ebenfalls nicht tat.
„Keine Sorge, Lucas wird bestimmt wieder kommen. Spätestens nächste Woche muss er sich ja langsam wieder in der Schule zeigen. Er kann ja nicht schon am Anfang des Halbjahres so lange fehlen“, redete er mir gut zu, als er bemerkte, dass mich etwas bedrückte.
„Das ist süß von dir“, sagte ich lächelnd und drückte seine Hand für einen Moment etwas fester. Zusammen liefen wir durch den Wald, bis wir zu den belebteren Straßen kamen.
„Irgendwann muss er dir zuhören, du wirst ihn eh nicht in Ruhe lassen.“
„Das stimmt wohl“, lachte ich
„Aber er hat mir schon zugehört.“
„Ach ja?“
„Ich habe ihn auf dem Nachhauseweg getroffen. Nachdem ich ihm mehrmals verfolgen musste, konnte er mir endlich zuhören.“
„Verfolgen?“
„Ja, er hat sich natürlich stur gestellt und wollte kein Wort von mir hören. Also musste ich ihn ein bisschen durch den Wald jagen, bis er mir endlich zuhören wollte. Aber glaubt mir nun und das ja das Wichtigste an der Sache.“
„Wenn du meinst.“
Wir hatten es nun weiter ins Stadtinnere geschafft und umso länger wir liefen, desto größer wurde meine Neugierde, was wir wohl so „normales“ tun würden.
„Du wolltest mir noch etwas über Mia erklären?“, riss ich ihn aus dem Kontext, als er anfing über die alltäglichen Dinge zu sprechen.
„Wenn ich dir davon erzähle wird dieser Abend aber nicht mehr so normal.“
„Wir können ja danach über „normale“ Dinge reden, aber das mit Mia ist mir nun mal wichtig.“ Er seufzte schwer und blieb für einen Augenblick stehen. Langsam legte er seine Hände auf meine Schultern und schaute mir durchdringend in die Augen. Sein Blick machte mir etwas Angst, denn immer wenn er so ernst schaute, dann folgte nichts Gutes.
„Aber du musst mir bitte versprechen, dass wir danach den Abend einfach genießen?“ Gespannt nickte ich und wartete darauf, dass er endlich beginnen würde.
„Ich kenne mich auf diesem Gebiet nicht so gut aus, wie du. Ich bin schließlich noch nie gestorben, aber es braucht eine Bedingung, um jemanden vor dem Tod zu retten. So, wie du es bei deiner Mum gemacht hast.“
„Eine Bedingung? Ich habe da keine Bedingung eingehalten, ich habe es mir einfach gewünscht und... es hat halt funktioniert.“
„Ja natürlich musst du dir das wünschen, aber auch du musst kurz vor dem Tod stehen. Du brauchst eine starke Verbindung zu ihr und zum Tod.“
„Also hätte ich mich umbringen müssen oder fast umbringen, um Mia zu retten?“ Schüchtern nickte er und musterte mich von oben, bis unten, eher er weiter sprach.
„Ja, aber das Amulett hätte dir nicht helfen können. Du weißt ja, selbst zugeführte Wunden heilt es nicht.“
„Aber du hättest mich verletzten können.“
„Nein, das hätte ich eben nicht. Ich kann nicht auf dich einstechen, das kann ich einfach nicht. Außerdem hättest du es gewünscht, es zugelassen und das blockiert die Kraft des Amuletts genauso.“
„Was sind das nur für bescheuerte Regeln? Und bei Mum wurde ich unfreiwillig so schlimm verletzt, dass ich diese Verbindung hatte? Dass ich dem Tod nah genug war?“
„Genau, du hattest sozusagen Glück, dass sie dich vergiftet hat. Das Gift hatte so etwas wie einen Blocker in sich, weshalb das Amulett nicht sofort wirken konnte.“
„Und wenn ich dieses Amulett nicht gehabt hätte, wäre ich gestorben?“, fragte ich unsicher.
„Nein, ich denke nicht. Du warst in dieser Zwischenwelt offensichtlich bei so klarem Verstand, dass du deine Mum vor dem Tod retten konntest, also hättest du dich auch alleine retten können. Das Amulett hat das Zeitfenster eigentlich nur schneller geschlossen. Ab dem Moment, wo es diesen Blocker überwunden hatte, hat es dich aus dieser Zwischenwelt rausgeholt.“
„Verrückt“, antwortete ich erstaunt und war über diese klaren Regeln verblüfft. Es schien wirklich so, als gäbe es an der Sache keine Ausnahmen. Als wäre das alles in ihrer Welt logisch.
„Traurig, dass es bei Mia nicht funktioniert hat.“
„Ja das stimmt, aber du kannst daran nichts ändern. Ja? Also bitte komm mir nicht auf blöde Ideen!“
„Ich mag ja manchmal merkwürdig sein, aber dumm bin ich deshalb nicht. Mia ist doch schon längst auf der anderen Seite“, zischte ich und machte einen Schritt zurück. So was brauchte er mir doch nicht zu sagen. Ich war nicht Selbstmordgefährdet, auch wenn das nun viele vielleicht von mir denken könnten. Weder Selbstmordgefährdet, noch dumm und ich hatte gehofft, dass er das von alleine wüsste.
„Das weiß ich doch Baby, ich will nur sichergehen, dass ich dich nicht verliere“, entgegnete er süß und schloss mich in seine Arme. Da hatte er sich geradeso noch retten können.
Auf dem restlichen Weg konnten wir unsere „unnormale“ Seite nicht ganz vergessen und so beantwortete ich ihm einige Fragen, zu dieser merkwürdigen Zwischenwelt. Ich hatte den Ort genau vor meinen Augen und ich konnte mich perfekt an dieses mulmige Gefühl in meinem Bauch erinnern, doch wenn ich versuchte diese Eindrücke in Worte zu fassen, blieb ich erfolglos.
Nach nur wenigen Minuten kamen wir dann an seinem Ziel an und standen vor einem Kino, in dem ein schnulziger Liebesfilm laufen sollte. Vielleicht hörte es sich langweilig an und nach etwas, was jeder Zweite machte, aber genau deswegen war es wohl perfekt. Ich wollte diesen ganzen Ärger vergessen und mich einfach mal wieder, wie ein stinknormaler Teenager fühlen. Zwischen uns war es perfekt. Wir lachten viel und die Sorgen, die ich mir vorhin noch gemacht hatte, waren mit einem Mal komplett verschwunden. Es fühlte sich fast wie Urlaub an und ich begann mein normales Leben, vor ihm, zu vermissen. Doch dann erinnerte ich mich, dass ich ihn sonst nie getroffen hätte. Es war also gut so, wie es war. Denke ich jedenfalls. Es war irgendwie wieder perfekt und das machte mich glücklich. Er machte mich glücklich.
Wir kauften Popcorn und Cola. Zusammen setzten wir uns in die Mitte des Saales und waren fast für uns alleine. Der Abend war perfekt und gab mir wieder etwas Luft, um atmen zu können. Ich behielt ihn noch sehr lange in Erinnerung.