Gegenwart, Marie
Liebste ---
Hier ist alles sauber, hell und nett. Durch weiße Gänge mit schimmerndem Kunststoffboden folge ich dem weißen Kittel vor mir, Schwester Birgit. Saubere Fenster zeigen den Park, grünes Gras, auf einige Zentimeter gestutzt, ordentlich, hier ist alles ordentlich und sauber. Aber heute gehe ich nicht in den Park.
Schwester Birgit bringt mich in den Behandlungsraum. Auch hier ist es hell, sauber und nett. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Neonröhrenlicht schimmert auf weißen Schränken und auf dem braunen Leder des Stuhls, an den sie mich fesseln. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, damit ich mich nicht verletze, sagt Dr. Meier. Die Ledergurte, die meine Handgelenke, Knöchel und Brust umschließen, sind weich und angenehm. Nur wo sie an den Stellen scheuern, wo ich bereits Schürfwunden habe, gibt es Schmerzen, die ich zu ignorieren versuche. Schwester Birgit desinfiziert die Elektroden und befestigt sie an meinen Händen. Unwillkürlich zucke ich zusammen, als das kalte Metall die Haut berührt. Tadelnd schüttelt Schwester Birgit den Kopf, ich schäme mich. Ich weiß doch, dass es allein zu meinem Besten ist, bin dankbar, dass ich diese Behandlung nach dem neuesten Stand der Wissenschaft erhalte, wie Dr. Meier es erklärt hat. Damals, als ich noch so unverständig war, zu schreien und mich zu wehren und sie mir eine Spritze zur Beruhigung geben mussten. Damals, als ich noch glaubte, ich sei nicht krank. Jetzt weiß ich zum Glück, wie sehr ich mich geirrt habe, wie sehr ich der Behandlung bedarf. Die conträre Sexualempfindung, wie sie es nennen, hindert mich an einem gesunden, normalen Leben, aber sie helfen mir, damit ich geheilt werde. Dr. Meier schiebt seinen Stuhl zu mir, die Räder rattern über den Kunststoff, in der Hand hält er die Mappe mit den Bildern. Bei ihrem Anblick wird mir schlecht, meine Hände beginnen zu schwitzen und mein Herz rast, ich versuche unwillkürlich, den Kopf beiseite zu drehen, doch meine Stirn wird vorsorglich von einem Gurt festgehalten. „Aber aber, Marie, Sie wissen doch, da müssen Sie durch. Auch ich finde diese Bilder unappetitlich, aber nur so können Sie geheilt werden.“
Derweil nähert sich Schwester Birgit mit dem Messgerät. Es ist der Teil, an den ich mich am wenigsten gewöhnen kann, selbst nachdem ich die Richtigkeit der Therapie erkannt habe. Sie hebt meinen Kittel aus dünnem hellblauen Stoff hoch, unter dem ich nackt bin. Ich schäme mich, ich weiß nicht, ob mehr vor der Schwester oder dem Arzt, und ob es Heilung bedeuten würde, wenn ich mich mehr vor ihm schämen würde als vor ihr, während ihre gummibehandschuhte Hand zwischen meine Beine greift und das Gerät einführt, mit dem sie die Durchblutung meiner Intimzone messen. Ich bin ihr dankbar, als sie den Kittel wieder über meine Beine deckt.
Dr. Meier schlägt die Mappe auf und zeigt mir das erste der widerlichen Bilder. Diese Bilder, dachte ich, hätten nichts mit uns zu tun, diese obszöne Zurschaustellung von nacktem Fleisch nichts mit der Zärtlichkeit, an die ich mich zu erinnern glaubte. Aber sie haben mich eines Besseren belehrt. Ich habe mich nicht anders verhalten als die Frauen auf dem Foto, verführt von kranker fehlgeleiteter Geilheit. Ich könnte vor Scham sterben, so gewesen zu sein, aber Dr. Meier sagt, dass ich mich nicht schämen muss, dass ich nichts für meine Krankheit kann, solange ich bereit bin, mich heilen zu lassen. „Die Durchblutung steigt“, sagt Schwester Birgit und ich schäme mich noch mehr. Warum tut mein eigener Körper mir das an? Korrumpiert von diesen ekelhaften Bildern? Ich bin eine Gefangene im Gefängnis meines eigenen Körpers. Dr. Meier nickt bedauernd. „95 Volt“. Schwester Birgit drückt den Knopf, mit dem sie die Elektroden mit Strom versorgt.
15 Bilder später bin ich halb bewusstlos auf dem Stuhl zusammengesackt, nur gehalten von den Gurten. Meine Haut ist aufgescheuert, wo ich mich in Krämpfen gegen die Gurte gestemmt habe. Blut füllt meinen Mund, anscheinend habe ich mir auf die Zunge gebissen. Dumpf spüre ich, wie es mein Kinn hinunterrinnt, bis Schwester Birgit es mit einem Taschentuch aufsaugt. Ich will nicht denken, dass es wehtut, schließlich ist es Heilung, aber es tut so weh. Wie kann etwas Gutes so weh tun? Aber man sagt, je bitterer die Medizin, desto wirksamer. Wie von ferne höre ich Dr. Meier sprechen, er klingt besorgt. „Die Durchblutung ist immer noch zu hoch, ich fürchte, mit der Standardmethode kommen wir nicht weiter. Ein schwerer Fall.“
Es tut mir leid, ein schwerer Fall zu sein, ihnen ihre Arbeit schwer zu machen, da sie mir doch helfen wollen.
„Da hilft wohl nur noch eins.“
Schwester Birgit löst die Gurte und fängt mich auf, als ich vom Stuhl rutsche. Sie und ein Pfleger tragen mich in mein Zimmer und schließen die Tür ab, als würde ich weglaufen.
Hier ist alles sauber, hell und nett. Durch weiße Gänge mit schimmerndem Kunststoffboden folge ich Schwester Birgit. Die Bäume draußen sind sehr weit weg. Heute will Dr. Meier mich endgültig heilen. Ich würde mich darüber freuen, wenn ich nicht so schwach und müde wäre. Aber bald wird es mir wieder gut gehen, hat er gesagt. Wieder einmal werde ich an den Stuhl gefesselt. Die Umarmung des Leders fühlt sich vertraut an, die einzige Umarmung, die ich noch bekomme. Wenn es mir wieder gut geht, werde ich jemanden finden, der mich umarmt, in einer gesunden Weise. Falls mich dann noch jemand will. Ich frage mich, wie es mit Dr. Meier wäre. Seine kräftigen Hände sind so sorgfältig. Ich will an seine Hände denken, und nicht an die zarteren, kleineren Hände, deren Bild in mir hochsteigt, ich beiße mir auf die Zunge, um es zu vertreiben. Seine Hände wissen, was sie tun. Sie wandern über ein Tablett, ergreifen ein Werkzeug und desinfizieren es. Hier ist alles sauber und steril. Vor dem Fenster sehe ich den Rasen, und die Mauer, und da ist auf einmal jemand, jemand, der eben noch nicht da war, wie eine Blume aus dem Gras erblüht. Jemand rennt über das Gras. Die Gestalt kommt mir bekannt vor, die flatternden Haare. Aber da sind auch schon die Sicherheitsleute, ergreifen die Person und ringen sie nieder. Das ist gut. Wer weiß, was diese Person vorhatte. Die Wächter beschützen mich. Dr. Meier rutscht auf seinem Stuhl auf mich zu, die Rollen schrappen über den Kunststoff, das metallene Werkzeug in der Hand, auf dem das Neonlicht funkelt. Es besteht aus einem runden Griff und einer daran befestigten langen Nadel. Sie sieht sehr spitz aus. So spitz, als könnte sie ein Loch in die Welt stechen, die Welt, die an den Rändern zerfranst, deren Wände zerfallen, wieder flicken, und alles, was krank und falsch ist, herausschneiden.