Gegenwart, Marie
Manchmal finde ich es schwierig mit Laura. Einerseits ist sie super gebildet und hält mir dauernd Vorträge über Feminismus und lesbische Sichtbarkeit. Wenn ich sage, dass ich keine Label mag, dass ich mich nicht in eine Schublade stecken und so viele Möglichkeiten ausschließen will, hält sie einen weiteren Vortrag, wie wichtig ein klares Bekenntnis ist und sieht mich dabei fast schon mit Enttäuschung an.
Aber wenn wir in der Stadt unterwegs sind, will sie mich nicht berühren. Sie zuckt zusammen, wenn meine Finger nach ihren suchen, und sieht sich hastig um, als wäre da irgendjemand, der ein Problem damit hätte. Rückt vorsorglich einen Sicherheitsabstand von mir weg, als wäre ich ansteckend. Es geht mir so auf die Nerven. Mehr noch, es verletzt mich. Als würde sie sich meiner schämen, als wäre ich nicht gut genug für sie. Gerade laufen wir durch die Stadt auf dem Weg zum Katzencafé, berührungssichere 20 cm zwischen uns, als uns ein vermutlich lesbisches Pärchen entgegen kommt, ganz selbstverständlich händchenhaltend. Bei dem Anblick steigt Wut in mir auf. Ich will so nicht fühlen, aber ich kann es nicht kontrollieren. „Siehst du?“, zische ich Laura an. „Die tun es auch! Und sieht du hier irgendwo einen Mob mit Fackeln und Forken, der die beiden an den nächsten Baum knüpft?“
Laura betrachtet die beiden mit einem skeptischen, traurigen Lächeln, als würde sie sie schon am Strick baumeln sehen. Sie verrenkt den Kopf, bis sie hinter uns in der Menge verschwunden sind. Ihr Lächeln verschwindet ebenfalls. „Tut mir leid, Marie“, murmelt sie. „Ich kann die Angst einfach nicht loslassen. Ich werde es versuchen, aber ich kann dir nichts versprechen.“
In 80 Jahren oder was? Ich verzichte auf eine Antwort und gehe schneller. Sie hat mir ein bisschen von ihrem Hintergrund erzählt, aber nicht viel. Aufgewachsen auf dem Dorf, wo jeder jeden kennt, katholische Gemeinde. Genaueres will sie nicht erzählen, weicht meinen Fragen aus. Verstehe ich ja alles. Versuche ich zumindest. Aber wir leben nicht mehr auf dem Dorf. Will sie dieses Versteckspiel auch noch durchziehen, wenn wir heiraten? Den Ring vom Finger ziehen, sobald sie zur Arbeit geht, oder von ihrem Mann reden? Getrennt zu unserer gemeinsamen Wohnung gehen, damit ja kein Nachbar etwas merkt? Falls wir heiraten. Laura ist ganz scharf darauf, dieses Symbol unserer Gleichberechtigung, aber so wie sie drauf ist, traut sie sich nicht mal im Standesamt, meine Hand zu nehmen, und ich weiß nicht, ob ich überhaupt so viel Bock darauf habe. Heiraten ist doch was aus dem letzten Jahrhundert.
Laura macht einen schnellen Schritt, um neben mich zu kommen, und holt Luft. „Marie, jetzt scheint die Gesellschaft tolerant zu sein. Aber weißt du, wie schnell sich das ändern kann? Wie schnell die Hydra der öffentlichen Verachtung ihr Haupt erhebt?“
Die Hydra der öffentlichen Verachtung? Die klingt manchmal, als hätte sie ein Geschichtsbuch verschluckt. „Also willst du darauf warten wie ein Kaninchen in Schockstarre, ja?“
Laura scheint getroffen. „Warten? Ich habe nie nur gewartet. Ich habe immer etwas unternommen, um etwas zu verbessern! Im Gegensatz zu manch anderen Leuten!“
Ist das jetzt eine Spitze gegen mich, weil ich nicht in hundert linksfeministischen Gruppen aktiv bin? Ich gehe nicht darauf ein. In angespanntem Schweigen legen wir den restlichen Weg zum Katzencafé zurück.
Drinnen in dem gemütlichen Raum mit Teppichboden und bunten Lampions an der Decke werde ich etwas ruhiger. Ich mag die Atmosphäre hier. Flauschige Katzen, die um die Stühle schleichen, auf Kletterbäumen sitzen und über Bretter an der pinken Wand stolzieren, und die Leute, die an den Tischen sitzen und Hafermilchshakes oder Misosuppe schlürfen, Hipster, cosplayende Teenager und Kellner*innen, die Katzenöhrchen tragen.
Nachdem wir uns auf eine der Polsterbänke am Fenster gesetzt haben, neben eine Katze, die sich auf dem mit Kissen bedeckten Fensterbrett rekelt, will ich meine Gefühle loslassen und den Moment genießen. Verlange ich zu viel? Bin ich egoistisch, missbrauche ich Laura für meine Bedürfnisse? Sollte ich meine Bedürfnisse einfach runterschlucken, mich mit dem zufrieden geben, was sie mir freiwillig gibt, wenn wir unbeobachtet sind? Aber es gelingt mir nicht, als Laura eine Hand auf mein Knie legt, stattdessen flammt die Wut wieder auf. „Ach, jetzt auf einmal?“, frage ich sarkastisch und rutsche von ihr weg in Richtung Katze, die vom Fensterbrett springt und wegläuft. Na toll, auch die will nicht in meiner Nähe sein.
Laura zieht ihre Hand weg. „Hier sind wir in der richtigen Blase“, sagt sie leise.
Ich schnaube und beschäftige mich damit, den auf dem Tisch aufgeklebten QR-Code mit meinem Handy zu scannen und die Speisekarte herunterzuladen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Lauras Kiefer arbeitet. „Ich kann dieser Zeit einfach noch nicht trauen“, sagt sie schließlich, „Ich versuche es, aber ...“
„Was soll das heißen, diese Zeit?“
Laura setzt zu einer Antwort an, erstarrt aber in der Bewegung, den Mund halb offen, die weitaufgerissenen Augen zur Tür gerichtet. Dort sind gerade zwei Personen eingetreten, die das Durchschnittsalter im Raum um 20 Jahre anheben und geschäftsmäßige dunkle Hosenanzüge tragen.
„Warte auf mich, ich muss kurz was klären.“ Laura springt auf und läuft zu ihnen, während sie auf unseren Tisch zukommen, sodass sie sich in der Mitte des Raumes treffen. Nach einem kurzen Wortwechsel gehen sie in Richtung Ausgang. Lauras Rücken wirkt angespannt, die Schultern gekrümmt wie vor Angst. Kurz vor der Tür blickt sie über die Schulter und lächelt mir zu, was eher nach einer Grimasse aussieht. Natürlich frage ich mich, was das Theater soll und ob sie Hilfe braucht. Vielleicht sind das Mitglieder ihrer katholischen Gemeinde, die das verlorene Schäfchen zurückholen wollen, denke ich halb im Scherz, halb in Sorge. Aber eine böse kleine Stimme in mir sagt, soll sie doch alleine klarkommen. Wollen wir mal sehen, ob sich Laura gegen die durchsetzt und zu mir steht, oder nicht. Ich werde sie nicht aufhalten. Ich hasse mich selbst für diese Gedanken, aber während ich noch unschlüssig mit meinem Handy spiele, knallt die Tür zu.