Gegenwart, Marie
Liebste Laura,
ich kann dich nicht erreichen, und ich weiß nicht, an wen ich mich wenden kann, also schreibe ich dir einen Brief in Gedanken. Zwei Tage, nachdem du aus dem Haus gegangen warst, ohne zurückzukommen, ist dein Chef zu mir gekommen. Zwei Tage, die sich wie Äonen anfühlten, ohne eine Ahnung, was aus dir geworden war, nur die Worte im Ohr: „Bis bald, Marie.“ Zwei Tage allein am Küchentisch, auf dem der Blumenstrauß verwelkte, in der Luft noch ein letzter Hauch deines Lavendeldufts.
Und dann dein Chef und seine Vasallen, die hineinstürmen, kaum habe ich die Tür geöffnet, und alles von oben bis unten durchwühlen. Unser Refugium, das wir mühsam der Welt abgerungen haben. Was hast du getan, um solch ein Durchsuchungskommando auf unsere kleine Dachwohnung zu hetzen? Sie sagen, du habest einen Apparat gestohlen. Bist du wirklich zur Diebin geworden? Aber ich kann es dir nicht verdenken, habe ja selbst schon etwas mitgehen lassen, wenn ich nicht anders konnte. Wenn niemand mir eine Wohnung oder Arbeit gab, weil sie die Ausgestoßene witterten. Dein Chef umkreist das Wohnzimmer wie ein Tiger, inspiziert die Bücher, als wären dort Hinweise versteckt. Ein unangenehmer Zeitgenosse. Dass du Tag für Tag für diesen Menschen arbeiten, seine Befehle ausführen musst ... Du bist so tapfer gewesen für uns beide, anders als ich. Hilflos habe ich mich in die Zimmerecke zurückgezogen und sehe ihnen zu, die Hände in die fadenscheinigen Blusenärmel verkrochen, damit ihr Zittern nicht auffällt. Endlich sind sie fertig und gehen, nicht ohne mir noch einen drohenden Blick zuzuwerfen. Ach Liebste, was soll ich tun?
Nun fürchte ich, dass sie etwas gefunden haben, das uns verrät. Auf einmal erscheint mir alles verräterisch, die Blumenvase, die Teelichter, das Kokosöl im Schrank, mit dem wir uns massiert haben … Ob man an Abdrücken auf der Matratze oder Haaren an der Bettdecke erkennen kann, dass wir zu zweit in deinem Bett schlafen, dass das Bett in meinem Zimmer unberührt ist? Wenn sie herausfinden, dass ich nicht nur deine Mitbewohnerin bin, sondern ... Dabei weiß ich nicht mal, was wir sind. Wir leben wie ein Ehepaar, sind es aber nicht. Manchmal denke ich, wir sind falsch, asozial, Verbrecherinnen gegen die Volksgemeinschaft, wie sie es nennen. Dann wieder denke ich, was geht es sie an, wie wir leben, zwei Freundinnen, zwei Seelenschwestern. Aber wenn sie uns finden, wenn sie alles ans Licht zerren, im kalten Tageslicht wird alles, was im sanften Kerzenlicht lieb und gut war, abstoßend und ein Gräuel, wie sie sagen, schmutzig, wir sind schmutzig. Im Tageslicht wird man jeden Fleck sehen. Ich sehe vor mir, wie wir im Steinbruch landen, Ketten zerren an meinen Füßen, hartes Metall scheuert an deinen Knöcheln, deine Finger bluten von der Arbeit, die Haare abrasiert, der magere Körper in ein graues Sträflingshemd gehüllt. Hat nicht die Nachbarin letztens erwähnt, wir wären laut gewesen, und dabei so komisch geguckt? Was, wenn sie uns schon verraten hat, wenn heute Nacht die fensterlosen Wagen der Sittenpolizei vor dem Haus halten und Uniformierte mich aus dem Bett zerren? Was, wenn sie dich schon haben? Vielleicht bringen sie dich jetzt gerade dazu, meinen Namen zu verraten. Ich kann hier nicht bleiben, ich muss hier weg.
Hastig ein paar Kleider in die Tasche gepackt, nicht zu viel, um nicht verdächtig zu erscheinen. Ich treibe durch die Stadt, weiß nicht wohin. Kalter Regen schlägt mir ins Gesicht. All die Menschen, die mir entgegenkommen, potentielle Feinde. Männer und Frauen, die Hand in Hand gehen, Mütter mit Kindern. Wenn sie wüssten, was ich bin, würden sie mir vor die Füße spucken. Ich laufe schneller und finde schließlich Zuflucht im Museum. Die dicken Sandsteinmauern schließen sich um mich wie eine Burg. Ich bilde mir ein, dass dieses Gebäude uns mit Wohlwollen betrachtet, ein Gebäude, das soviel Vergangenheit, soviel menschliches Tun und Streben und Irren beherbergt. In der Nachbarschaft der besiegten Fürsten, der untergegangenen Dynastien und der verbrannten Hexen. Ich sitze im Kuriositätenkabinett, aus meinem Mantel tropft der Regen auf den Parkettboden und bildet Pfützen, Dreck, den ich hereingebracht habe. Um mich Mahagoniwände und Vitrinen mit versteinerten Ammoniten und bemalten Schnupftabakdosen, über mir hängt das Skelett eines ausgestorbenen Vogels, die Knochen schwanken leise in den Windzügen der Klimaanlage, der Geruch von Staub und Alter hüllt mich ein. Hier haben wir uns in die Ecken gedrückt und, wenn kein Besucher zu sehen war und der Wachmann wegguckte, verstohlen gestreichelt. Sind wir das, eine Kuriosität? Passen hier genauso rein wie die aufgespießten Schmetterlinge? Während ich hier sitze, komme ich langsam zur Ruhe, stelle mir vor, dass die Toten mich mit Gnade betrachten. Es sind die Lebenden, die ich fürchte.
Nachdem ich mich ein wenig gefangen habe, gehe ich durch die Ausstellung. Ich versuche mich an deine leuchtenden Augen zu erinnern, wie du auf eine goldene Halskette zeigen würdest und sagen, dass der Sinn für Schönheit durch alle Zeiten erhalten bleibt. Und dann sehe ich das Bild. Es hängt an einer Wand mit der Überschrift „Hygienegeschichte“, die mir neu vorkommt. Es zeigt einen altertümlichen Hörsaal, hinter dessen Katheder ein Mann steht und doziert, doch dieser Mann bist du. Deine Augen blickten direkt in die Kamera, trotzig und herausfordernd, grau statt blau, das ganze Bild schwarzweiß. Laut der winzigen Bildunterschrift auf der Messingplakette, die mir vor den Augen verschwimmt, zeigt die Ambrotypie eine Juristentagung im Jahre 1867. Merkt man so, dass man verrückt wird? Die Wände scheinen zu zittern, an den Rändern auszufransen wie ein aufgeribbelter Pulli, der Boden schwankt unter mir. Atmen, ich muss atmen, hastig blicke ich mich um, die Menschen sind weit weg, der Wächter sieht in die andere Richtung und bewegt sich nicht wie eine Statue, als wäre er Teil der Ausstellung geworden. Ich brauche dieses Bild. Wenigstens ein Stück von dir, einen Beweis deiner Existenz, wenn ich auch nicht begreife, was du vor über hundert Jahren getan hast, wie kann das sein? Aber da ich meinem Verstand und Urteilsvermögen sowieso nicht mehr trauen kann, und da ich keinen Ort habe, wo ich hingehen kann, da ich bereits alles verloren habe, folge ich einem Impuls und reiße das Bild von der Wand. Alarm schrillt und ich renne. Das zerbrechliche Glas des Bildes unter meinen Mantel gepresst wie ein Kind, das Kind, das ich nie haben werde. Werde ich deshalb von der Gesellschaft ausgestoßen, weil ich keine Kinder kriegen kann, nicht zum Fortbestand der Menschheit beitrage? Reicht das, um mich zur Kriminellen zu machen? Jetzt bin ich tatsächlich zur Kriminellen geworden. Auf der Flucht vor dem Gesetz renne ich aus dem Museum, dränge mich durch die Menschenmengen, meine abgenutzten Stiefel klappern über das Pflaster, das hinter mir zu verschwimmen scheint. Liegt es nur am Regen oder löst sich die Welt an den Rändern auf? Ich bin zur Diebin geworden, wieder, wie du angeblich. Aber ich habe immer nur aus Hunger gestohlen. Sie folgen mir, ihre Stahlkappenstiefel trampeln über das gerade noch existierende Pflaster, während es hinter ihnen zerbröckelt. Bald werde ich über den Rand der Welt stürzen. Ich renne auf die Brücke, unter der sich schwer und braun von Abfällen der Fluss dahinwälzt. Der widerliche Gestank nach Kloake und Chemieabfällen weht herauf mit dem Wind, der mir den Regen ins Gesicht peitscht. Wenn sie mich haben, ich ahne schon ihren Atem im Nacken, ihre brutalen Hände und Schlagstöcke, wenn sie mich in eine Zelle sperren und ich nie mehr den Himmel sehen werde, wenn sie mich im Steinbruch zugrunde richten, dann kann ich genauso gut dieser Verfolgung selbst ein Ende setzen. Ich klettere über das schmiedeeiserne Geländer, ignoriere die darin eingearbeiteten Eichenblätter und Adlerwappen, ignoriere die Rufe hinter mir. Ihre gemachten Regeln und Grenzen können mich nicht halten. Liebste Freundin, ich flehe zu Gott, dass wir uns wieder sehen, doch vor Gott sind wir ein Gräuel, also flehe ich zum Teufel, zum Universum, zum Weltgeist, während ich vom nassen Beton abspringe und mich von allen Begrenzungen löse.