Gegenwart, Laura
Mein erster Gedanke ist, Marie vor den Häschern der Agentur schützen, vor den Konsequenzen, die für meinen Diebstahl drohen. Dann ist da die Furcht, sie könnten Marie verraten, was es mit der Zeitmaschine auf sich hat. Warum fürchte ich mich davor? Warum will ich Marie nicht die Wahrheit verraten? Durch die Glastür erhasche ich einen Blick auf sie, wie sie auf der Bank lümmelt und mit ostentativer Langeweile mit ihrem Mobiltelefon spielt. Manchmal frage ich mich, ist das überhaupt dieselbe Marie wie die, die ich damals in unserer Mansardenwohnung zurückließ?
Ein Räuspern lenkt meine Aufmerksamkeit auf das jetzt Wichtige. Mit verschränkten Armen stehen mein Chef und seine Stellvertreterin vor mir im Vorraum, vor der zweiten Glastür, die nach draußen führt. Dieser Raum ist wie eine Schleuse, die die Katzen daran hindern soll, nach draußen zu entkommen, und gerade auch mich. Immerhin sind die Türen aus Glas, sie können mir nichts ungesehen antun, außer es ist ihnen egal, was in dieser Zeitlinie passiert. Draußen eilen Menschen vorbei, keiner achtet auf uns, die Wintersonne leuchtet auf den frisch angestrichenen Fassaden, der Ruß des Kohlezeitalters übertüncht. Ich schlucke und balle die Fäuste. „Was wollt ihr von mir?“ Meine erhöhte Stimme verrät wieder einmal meine Aufregung.
„Das weißt du ganz genau, Laura“, sagt mein Chef. „Du hast eine Zeitmaschine gestohlen und regelwidrig gebraucht. Gib sie uns wieder.“
Ich zögere, fühle, wie die harte Form der Uhr in einer Innentasche meines Blazers gegen meinen Bauch drückt. Mein einziger Ausweg, falls es zu schief läuft, meine Möglichkeit, etwas zu verändern, die Welt zu gestalten, wieder und wieder. Ohne sie bin ich den Verhältnissen ausgeliefert.
„Zwinge uns nicht, Gewalt anzuwenden.“
„Gewalt?“ Ich lache höhnisch. „Ist euch klar, dass Strukturen und Verhältnisse längst mehr Gewalt sind, als ihr mit euren Waffen ausüben könnt?“ Ich unterbreche mich, als sie eine kaum merkliche Bewegung machen, ein Zucken der Hände in Richtung besagter unter den Sakkos verborgenen Waffen, und hole zitternd Luft. „Ich gebe sie euch wieder, unter der Voraussetzung, dass diese Zeitlinie erhalten bleibt. Die Änderungen, die ich vorgenommen habe, sollen so bleiben.“
Mein Chef schüttelt nachsichtig den Kopf wie über einen Schüler, der den Dreisatz nicht verstanden hat. „Laura, du hast keine Veränderungen vorgenommen. Du hast Paralleluniversen erschaffen. Mit jedem Mal, dass du in der Vergangenheit etwas änderst, spaltet sich ein neues Paralleluniversum ab.“
Mein Mund wird trocken. Wieso wusste ich das nicht? Wahrscheinlich, weil ich nur ein paar Gesprächsfetzen mitangehört hatte, als ich von der Zeitmaschine erfahren hatte. Heißt das, ich habe gar nicht wirklich etwas verändert?
Langsam, mit schweißnassen Fingern, öffne ich meinen Blazer, greife in die Innentasche und ziehe die Uhr heraus. Schwer und kühl liegt das blattgoldbedeckte Messing in meiner Hand, mit den erhabenen Schnörkeln und arkanen Mustern, den geriffelten Rädchen, die die Zeiger aus Iridium und Wolfram in Bewegung versetzen. Die beiden Agenten spannen sich an, bereit, mir die Uhr zu entreißen, falls ich versuche, sie zu betätigen. Dies wäre meine letzte Gelegenheit, in eine andere Zeit zu entkommen, meine letzte Gelegenheit, etwas zu ändern. Bin ich mit dieser Zeit zufrieden? Kann ich ihr trauen? Kann ich mich ihrer vorgeblichen Sicherheit überlassen? Einer Sicherheit, die so fragil ist wie die Knochen der Katzen, die in diesem Refugium herumstreunen. Ich werfe einen Blick durch die Glastür, zu den Trinkgästen in ihren seltsamen Verkleidungen, mit ihren albernen bunten Perücken und Rüschenkleidchen, zu den jungen Stadtbewohnenden mit ihren Vollbärten, Dutts und runden Drahtbrillen. Ist ihnen klar, wie fragil ihre Blase ist, wie leicht sie zerstochen werden kann?
Mein Blick wandert zu Marie, die, das Kinn in eine Hand gestützt, aus dem Fenster blickt. Marie, die ich meine Seelenverwandte und Busenfreundin nannte, meine Geliebte, meine Lebenspartnerin, vielleicht einmal meine Verlobte oder Ehefrau, Marie, für die es in so vielen Zeitlinien keinen Begriff gibt. Für die ich diese Reise unternommen habe, um mit einem Wort zu ihr zurückzukehren, das sie ablehnt. Marie, die ich in Kleid und langen Haaren zurückließ und die hier kurze Haare und Jeans trägt und Stecker mit zentimetergroßen Löchern in den Ohren. Ich erinnere mich, wie wir in der kleinen Dachwohnung im Bett lagen, in Angst vor den Nachbarn, wie wir, über den Rand der Gesellschaft gestoßen, uns aneinander festhielten wie zwei Ertrinkende. Marie, die ängstlich und verhuscht war, und die jetzt Dinge fordert, von denen ich nicht weiß, ob ich sie ihr geben kann.
Schließlich übergebe ich die Uhr in die gierigen Hände meines Chefs, der sie begutachtet und in seine lederne Aktentasche steckt. Sogleich fühle ich mich um einiges leichter und leerer.
Das Gefühl der Leere weicht selbst dann nicht, als er eine altmodische Pistole aus der Jacke zieht, so, dass sein Körper sie vor dem Innenraum verdeckt, auf mich richtet und sagt: „Und nun muss ich leider ein Exempel statuieren. Schließlich soll man der Agentur nicht nachsagen, dass man sie ungestraft bestehlen kann.“
Wie betäubt starre ich auf den glänzenden Lauf mit seiner todesschwarzen Mündung, ohne etwas zu fühlen außer einer müden Resignation. Ich denke an all die, die untergegangen sind, in der Grausamkeit der menschlichen Gesellschaft ertrunken. Auch wenn es jetzt so ist, als hätte es sie nie gegeben, als hätten die Wellen der ruhigen See sich nicht einmal gekräuselt. Aber ich weiß, dass es sie gab. Dass es sie immer noch in den Paralleluniversen gibt, von denen der Chef gesprochen hat. In den Umerziehungslagern, den Folterkellern, den Gefängnissen, den psychiatrischen Anstalten, auf dem Schafott. In der alltäglichen Hölle einer erzwungenen Ehe, eines lieblosen Haushalts. Deformiert und gebrochen, so wie die Marie, die ich in so vielen Iterationen nicht retten konnte.
Vielleicht ist es richtig so. Vielleicht passe ich ohnehin nicht in diese Zeit, in diese friedliche Blase. Vielleicht hatte ich niemals ein Recht, etwas anderes zu fordern. Die Gesellschaft der Verlorenen und der Toten ist die einzige, die mir bleibt. Und ich wünsche mir geradezu, dass er den Abzug betätigt und es beendet.
Nach einer Zeit, die mir wie mehrere Minuten vorkommt, aber wahrscheinlich nicht mal eine Sekunde beträgt, klappert die Innentür. Ich reiße meinen Blick von der Pistole, die der Chef unauffällig wieder in die Jacke steckt, und wende mich um, ebenso wie er. In der Tür steht Marie. „Laura, was ist los?“
Jetzt durchbricht doch Angst meine Taubheit, Angst um Marie. Um diese Iteration von ihr. Eine weitere, der ich nicht helfen kann. „Nichts. Geh wieder rein“, zwänge ich mit rauer Stimme hervor.
Marie schüttelt den Kopf. „Ich sehe doch, dass hier was nicht stimmt.“ Und direkt zum Chef: „Was wollen Sie von meiner Freundin?“
Der Chef zieht die Augenbrauen hoch. „Ach, die Mitbewohnerin. Wir müssen etwas mit Laura besprechen. Ungestört.“
Wird er davor zurückschrecken, eine Unbeteiligte in einem Paralleluniversum zu töten, das ihm egal ist? Bevor ich reagieren kann, schiebt sich Marie vor mich. „Sie machen Laura Angst. Lassen Sie sie in Ruhe.“
Wie kommt diese Marie zu der Einschätzung, dass ich Angst habe, und was gibt ihr den Mut, sich Leuten entgegenzustellen, vor denen sie sich vorher weggeduckt hätte? Ich spüre die Wärme ihres Rückens vor mir, atme den Duft ihrer zerstrubbelten, mit Henna gefärbten Haare. Ich sollte sie beiseite stoßen, aber ich kann mich nicht rühren. Kann nur beobachten, wie der Chef sie anstarrt, und wie sie seinem Blick anscheinend standhält, da er nicht triumphiert, bis sich eine Art Begreifen auf seinem Gesicht ausbreitet. „Sie sind nicht nur eine Mitbewohnerin, oder?“
„Das geht Sie gar nichts an. Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei.“ Marie winkt mit ihrem Mobiltelefon.
Er nickt, als hätte er eine Debatte in seinem Kopf abgeschlossen. „Nun, wenn Sie hier in diesem Universum bleiben, wird keiner erfahren, wie Sie die Agentur blamiert haben. Gehen wir!“ Mit unverständlicher Heiterkeit winkt er seiner Assistentin, die zögert. „Aber … das kann man doch nicht einfach durchgehen lassen …“
Er ignoriert sie und tritt nach draußen, mit beschwingtem Schritt, bis sie ihm schließlich mit einem letzten finsteren Blick auf mich folgt. Knallend fällt die Tür hinter ihnen ins Schloss. Marie und ich bleiben im Vorraum zurück. Plötzlich wechseln meine Beine den Aggregatzustand und ich sinke gegen die Wand. Marie dreht sich zu mir um. „Geht es dir gut?“
Ich richte mich auf und versuche zu lächeln. „Alles in Ordnung.“
Sie legt den Kopf schief, betrachtet mich forschend, besorgt. „So sieht das nicht wirklich aus.“
Ich will ihr widersprechen, aber die Worte meutern, verweigern den Dienst. Es ist so anstrengend, zu lügen, zu beschützen, stark zu sein. Allein zu sein.
Sie streckt eine Hand nach mir aus, hält zögernd inne. Mein Herz klopft, aber ich verbiete mir, mich prüfend umzusehen, bevor ich ihre Hand ergreife. Sie ist warm und drückt fest zu. Ich räuspere mich. „Ich muss dir einiges erzählen.“