1969, Laura
Liebste Marie,
ich bin zu spät gekommen. Von brutalen Armen in den feuchtklammen Rasen gedrückt, musste ich durchs Fenster zusehen, wie dieser sich Arzt schimpfende Folterer dir deinen Geist nahm. Bevor sie mich zur Polizei brachten, konnte ich mit dem Apparat entkommen. Natürlich kehrte ich sofort zu einem früheren Zeitpunkt zurück und es gelang mir, dich noch vor der Lobotomie aus der Klinik zu retten und an einen sicheren Ort zu bringen. Doch der Schaden, den die sogenannte Therapie angerichtet hatte, war irreparabel. Du stießest mich von dir, schriest mir den Hass entgegen, den sie dir eingepflanzt hatten und der sich, ohne dass ich dir zu helfen vermochte, unausweichlich gegen dich selbst richtete, sodass du dir schließlich das Leben nahmst. Worte können nicht ausdrücken, was ich empfand, und hätte ich nicht die Zeitmaschine, wäre ich sicherlich verrückt geworden.
Was jetzt? Natürlich könnte ich noch einmal zurückreisen und dich noch vor der Zwangseinweisung retten - aber was würde das bringen? Diese veränderte Zeitlinie scheint genauso miserabel zu sein wie die ursprüngliche. Nein, ich werde zu einer weiter zurückliegenden Vergangenheit reisen und es anders angehen, das mit der Krankheit war eine schlechte Idee. Wir brauchen etwas anderes, ich weiß noch nicht was, aber vielleicht brauchen wir erst einmal das: Ein „Wir“.
1969, Freitag Abend im Club „Violetta“. Hier trifft sich alles, was kein Zuhause hat oder dessen Zuhause unerträglich ist, um dem eigenen Leben zu entfliehen, mit zertanzten Füßen, zerknutschten Lippen und zertrunkenem Hirn. Im Qualm von Zigaretten mit zweifelhaftem Inhalt, getaucht in Schwarzlicht, wiegen sie sich auf der Tanzfläche oder beäugen das Angebot von der Seite aus, in cooler Pose an die Bar oder die schwarze Wand gelehnt. Die Kessen Väter in ihren Holzfällerhemden und Raspelhaarschnitten, die Femmes mit ihren High Heels und Federboas. Ich habe mich immer gewundert, warum diese übertriebene Zurschaustellung von angeblich männlichen oder weiblichen Merkmalen, handelt es sich um Unterwerfung unter die Regeln des Patriarchats oder um deren Aneignung?
Ich lehne an der Bar, ein Glas Bier neben mir. Eine von den Holzfällerhemden lehnt sich mit einer Flasche der billigsten Sorte neben mich, holt eine Packung Zigaretten raus. „Willst du eine?“
„Nein, danke.“ Ich spüre, wie sie mich unverhohlen beäugt, gehe aber nicht darauf ein. Erstens, bin ich mit dir - ja was? liiert? Auch wenn ich dich schon subjektive Jahrzehnte nicht mehr gesehen habe, aber meine Hoffnung, eines Tages zu dir zurückzukehren, lässt mich weitermachen. Zweitens möchte ich nicht abgelenkt sein, denn ich weiß, was passieren wird. Ich weiß es, weil ich es schon in 7 Iterationen beobachten konnte.
Holzfällerhemd wird zu einer Bemerkung ansetzen, von lautem Krachen unterbrochen. Sie wird erstarren, die Augen weit aufgerissen, jegliches Bravado aus ihrem Gesicht gewischt, denn auch sie weiß instinktiv, was passieren wird.
Es kracht. Sie erstarrt. Langsam wendet sie den Kopf zum Treppenaufgang.
Dort, über die schmale Treppe, die zum Hinterhof hinaufführt, wo hinter stinkenden Mülltonnen der nichtssagende Eingang des Etablissements liegt, wo man durch ein Guckloch ein Passwort nennen muss, um eingelassen zu werden, werden Sittenpolizisten in ihren weißen Uniformen hinunterpoltern, Befehle brüllen, während die Menge mitten im Tanz erstarrt.
Die Polizisten poltern die Treppe hinunter, brüllen Befehle. Die Menge erstarrt. Die Musik bricht ab. Weißes Licht flammt auf.
Jetzt werden die Feiernden versuchen zu fliehen, erfolglos, da der einzige Ausgang blockiert ist, werden von den Polizisten zusammengetrieben, an die Wand gestellt, in Handschellen gelegt, die Treppen hinauf- und in die wartenden Wagen bugsiert werden. Sie werden in Zellen landen, demütigenden Leibesvisitationen unterzogen, man wird ihre Namen und ihre Kontakte aufnehmen und es wird eine weitere Verhaftungswelle folgen.
Aber nicht in dieser Iteration.
Als ein Polizist mich anschnauzt, ich solle meine drei weiblichen Kleidungsstücke vorzeigen, die das Gesetz vorschreibt, schütte ich ihm mein Bierglas ins Gesicht. Er und seine Kollegen packen mich, ich kämpfe dagegen an, trete um mich, während die Menge verblüfft zusieht. Sie sehen etwas nie dagewesenes, etwas, das in ihrer Welt nicht vorkommt. Ich schreie: „Warum tut ihr nichts?“
Während die Polizisten versuchen, meinen Kopf nach unten zu drücken, werfe ich Holzfällerhemd, die einige Schritte zurückgewichen ist, einen herausfordernden Blick zu. Sie spannt den Kiefer an, etwas kämpft in ihr, und dann bricht es aus. Etwas, das zu lange eingesperrt war, etwas, das ihr zulange vorenthalten wurde. Zulange hat man sie wie Dreck behandelt, ihr ihre Würde verweigert, sie hatte sich bereits daran gewöhnt, an dieses versteckte Leben, so wie du und ich, sie hatte bereits vergessen, dass da mehr war, dass da ein Versprechen war. Aber jetzt reicht es. Sie schnappt ihre Bierflasche und schlägt zu. Plötzlich losgelassen, stolpere ich in die Menge, die auf einmal ihren Aggregatzustand ändert. Eben noch jeder vor Angst erstarrt auf seinem Platz gefangen wie in einem Kristall, wogen sie nun wie Wasser, brodelnd, überschäumend. Rufe und Gesang werden laut, eine Gruppe von trans Frauen bildet eine Reihe und tanzt, werfen die in High Heels steckenden Füße hoch und singen Spottlieder. Sie wissen, dass es keinen Weg zurück gibt, so viele verschiedene Leute, die in ihrer Wut und ihrem Leid und ihrem Wunsch nach Freiheit vereint sind. Jemand ruft: „Gay power!“ „Wir sind lesbisch, und das ist auch gut so!“
Und auf einmal ist da ein Wort, das man rufen kann, ein Wort, das nicht krank ist, kriminell oder pervers. Ich frage mich, ob es das ist, was du gebraucht hast, ob du ein Wort gebraucht hast. Während die Menge und die Polizei die Bar zerlegen, splitternde Flaschen, Stuhlbeine und Tische durch die Luft fliegen und Bier spritzt, ziehe ich mich zur schwarzgestrichenen Wand zurück, an der Kontaktanzeigen hängen, darunter auch solche für sogenannte Kameradschaftsehen, und denke an dich.