Dass er nach seinem ersten Auftritt einen fiesen Husten entwickelt hatte, verwunderte niemanden auf der Burg. Jean las heimlich die genauen Symptome des Keuchhustens nach, um sein Schauspiel überzeugender zu machen. Verwalter Ottone, ein älterer, übergewichtiger Elf mit warmen Augen, der ebenfalls die Rolle eines Medikus‘ innehatte, sprang am Morgen des dritten Tages auf den Köder an und brachte Jean eine Phiole mit einer braunen Flüssigkeit, in der Stückchen von Kräutern und getrockneten Pilzen schwammen.
Damit wartete er nach Einbruch der Nacht in jenem Gang, wo er Indro zum ersten Mal getroffen hatte. Die Bühne war inzwischen abgebaut, auch alle anderen Spuren des Festes waren beseitigt. Jean hatte sich, so gut es sein Schauspiel zuließ, an den Arbeiten beteiligt. Er wollte nicht untätig im Bett liegen. In der Gauklerschule hatte man die Jungen und Mädchen zu Strebsamkeit erzogen.
Schließlich bewegte sich die schwere Pforte am Ende des Ganges, die offenbar nie verriegelt wurde. Herein trat ein schlanker Elf mit beiger Haut und seidigschwarzem Haar. Obwohl er diesmal keine Maske trug, erkannte Jean Indro sofort an dessen geschmeidigen Bewegungen. Der Rebell schlich wie ein junger Kater, nervös und wachsam, aber elegant.
Diesmal trat Jean bereits früh aus dem Schatten und stellte sich in das Mondlicht, das durch die Fenster hereinfiel. Indro richtete sich auf und blieb einen Moment stehen, ehe er den Abstand zwischen ihnen überwand. Natürlich – der Ort war gut geeignet für einen Hinterhalt, wenn das Jeans Ziel gewesen wäre. Doch er war allein und das stellte wohl auch Indro fest, als er vor ihm stand.
„Bitte.“ Jean hielt die Phiole hoch, dann reichte er sie Indro, der auf das schmale Fläschchen in seiner Hand starrte wie auf einen unfassbaren Schatz.
„Ich … war nicht einmal sicher, ob du hier sein würdest“, sagte er ernst. „Danke, Jean le Picco. Meine Familie steht in deiner Schuld! Unter anderen Umständen würden wir dir das mit allen Ehren vergelten, doch …“
„Wären die Umstände anders, hättet ihr meine Hilfe nicht benötigt.“ Jean lächelte traurig. „Schon gut, ich erwarte keine melerischen Lorbeeren. Ich möchte nur helfen.“
„Selbst dann! Du riskierst viel für uns.“ Indro sah auf. Im Licht der Monde wirkten seine Wimpern dicht und lang.
Er war ein hübscher Junge, man sah ihm die aristokratische Herkunft an. Für einen Sumpfjungen hatte er ausgezeichnete Manieren, sicherlich hatten seine Eltern auf dem alten Erbe bestanden. Seine Haut, etwas dunkler als in Celyvar üblich, und das schwarze Haar deuteten darauf hin, dass die Pavanneau zu den Yvari zählten, einem der ältesten Völker dieses Landes. Wie interessant, dass er nie von ihnen gehört hatte! Doch die Verbannung war auch vor Jeans Geburt gewesen. Und Vergehen gegen die Krone unterlagen oft der Geheimhaltung, um Nachahmern und Trittbrettfahrern vorzubeugen.
„Ich glaube fest daran, dass niemand leiden sollte, wenn es die Rettung im Überfluss gibt“, antwortete Jean ernst. „Selbst Verbrecher. Und ich denke nicht, dass du Schuld an der Verbannung deines Volkes trägst.“
„Du hältst wohl nicht viel von Anarchisten, wie?“
Jean musterte Indro. Dessen Worte bestätigten, dass wenigstens dieser Teil der Erzählungen stimmte. Ob die Kiebitzrebellen auch tatsächlich Reisende überfielen und töteten? Er hatte einmal mit Adelina darüber gesprochen, als er der Köchin beim Aussortieren der Kartoffeln zur Hand ging. Sie hielt alles für Märchengeschichten und hatte offenbar noch nie erlebt, dass jemand im Sumpf getötet worden wäre. Einige Reisende waren wohl vom Weg abgekommen und versunken, doch ebenfalls nicht sehr viele. Das hatte Jean mit dem Verrat an seinem Herrn etwas versöhnt, denn wegen der vorgetäuschten Krankheit und der damit erschlichenen Medizin hatte er ein schlechtes Gewissen gehabt.
Auch nun musste er ehrlicherweise den Kopf schütteln. „Könige machen Fehler, ja. Niemand wüsste das besser als ein Hofnarr. Aber es braucht Könige, eine klare Führung, damit das Land nicht im Chaos versinkt. Trotzdem, mir ist es egal, welche Ansichten ihr vertretet. Solange ihr niemandem schadet, sehe ich keinen Grund, euch zu verraten.“
„Und wenn wir nun heimlich deinen Herrn meucheln?“, fragte Indro herausfordernd.
Jean schluckte. Allein die Vorstellung, indirekt Komplize einer solchen Tat zu sein, weil er nicht rechtzeitig Alarm geschlagen hätte! Instinktiv hatte er Indro vertraut, doch einen Anhaltspunkt, warum, hatte er nicht. Damit hatte er schon die ganze Zeit gehadert.
„Tut mir leid, Jean“, sagte Indro ernst. „Das war ein dummer Scherz. Natürlich haben wir nichts dergleichen vor.“
Er merkte, dass er sich sofort entspannte. Er vertraute Indro. Jean wünschte nur, diese Geschichte über Anarchisten würde nicht zwischen ihnen stehen. Wäre Indro jemand anderes, kein Anarchist, dann hätte Jean gerne mehr über ihn gelernt. So blieb es hierbei: Die dringend nötige Hilfe, doch nichts, was über bloße Freundlichkeit hinausging.
„Du solltest besser gehen“, sagte er mit einer Stimme, in der das Bedauern deswegen hoffentlich nicht hörbar war. „Bevor die Wachpatrouillen noch vorbeikommen.“
Einen Moment sahen sich die Jungen in diesem von Mondlicht gestreiften Gang in die Augen. Ob Indro ähnlich wie Jean fühlte? Für einen Moment war er sich dessen sicher und sein Herz schlug etwas höher. Dann wandte Indro sich ab und die Realität riss Jean aus dem kurzen, unmöglichen Traum.
Nein, mit Königsverrätern wollte er nichts zu schaffen haben. Er half, denn den Tod hatte niemand als Strafe verdient, doch er würde sich niemals gegen das Königshaus der Scricciale stellen.
⁂
Casa Charada di Marai lag wirklich außerordentlich abgeschieden. Es gab kein Dorf in der Nähe, nur eine Handvoll Bauernhöfe. Alle Bediensteten und Helfer wohnten im Anwesen selbst, in weitläufigen Flügeln mit vielen kleinen Zimmern, von denen Jean eines bewohnte. Als Hofnarr stünde ihm wohl eigentlich etwas Besseres zu, doch die wenigen anderen Zimmer waren für Adelige bestimmt und entweder vom Fürsten und seinen Nichten bewohnt oder für etwaige Besucher freigehalten.
Auch bei der Arbeit musste Jean helfen, nachdem er nun vollends ‚genesen‘ war. Er half beim Abwasch und beim Hereintragen von geliefertem Feuerholz, versorgte die Ochsen der Händlerskarren oder polierte mit den Wachen Rüstungen und Waffen, die scheinbar nie eingesetzt wurden. Dieses Leben genoss er. Bei den Arbeiten lernte er nach und nach alle Bewohner des Sommerhauses und die freundschaftliche Atmosphäre kennen. Von den Händlern aus Lavanya erfuhr er Neuigkeiten. König Giamo Scricciale hatte die Abgaben erneut erhöht, doch keinen Gesandten nach Casa Charada geschickt. Vielleicht war ihm nicht bewusst, dass das Anwesen mehr als ein Zweitwohnsitz war. Daraus ließ sich eine lustige Geschichte spinnen, die Jean beim Abendessen zum Besten gab.
Er hatte oft nur eine Stunde pro Tag, um zu trainieren. Da er das Anwesen auch erkunden wollte, nahm er seine Keulen, Bälle und Tücher oft mit auf den Wehrgang. Ringsum lagen vor allem Hügel und einige einsame Zirbelkiefern, während im Südosten, wo die Berge begannen, Kastanien und Lavendelfelder zu erahnen waren. Der Sumpf lag hinter den Hügeln, doch manchmal, gerade im Morgen, stieg dichter, gräulicher Nebel von der Ebene auf, in dem die wenigen Kiefern dieses fernen Landes wie die Klauen von Monstern erschienen.
Auch wenn der Sommer nun immer näher rückte, war es so weit im Süden oft nachts sehr kalt. Jean konnte nicht umhin, sich ab und an zu fragen, wie jemand in der abweisenden Wildnis überleben konnte.
Fürst Marcello beanspruchte seine Zeit auch gelegentlich, denn er lud Jean mehrmals zum Abendessen ein.
„Ich wünschte, ich könnte dir eine bessere Unterkunft bieten, eine, die dir zusteht“, sagte er bei einem der ersten Treffen dieser Art. „Die le Picco sind Adelige, auch wenn sie sich selbst nicht so schrecklich ernst nehmen wie viele andere Familien. Doch die Gästezimmer sind begrenzt. Somit ist das hier hoffentlich eine akzeptable Alternative.“
„Wer braucht schon ein weiches Federbett, wenn er Panna cotta haben kann!“, scherzte Jean. „Doch im Ernst, Marcello, ich bin mit meiner Unterkunft mehr als zufrieden. Ich habe Augen im Kopf und sehe die Lage. Du musst dich nicht entschuldigen. Im Gegenteil, ich bin froh, so freundlich hier aufgenommen worden zu sein.“
„Ich hoffe, du nimmst diese Entschuldigung doch an.“ Marcello war ein ernster Mann, doch in diesem Moment schmunzelte er. „Oder wenigstens die Panna cotta.“
Danach fanden diese Treffen regelmäßiger statt, etwa alle drei Tage, aber wenigstens einmal in der Woche. Sie speisten zusammen und sprachen über alles Mögliche. Fürst Marcello gab Jean viele Tipps zu seinen Auftritten. Manchmal sprachen sie auch über das Kiebitzvolk, wobei Jean stets Angst hatte, dass man ihm etwas ansehen konnte. Zweimal war er noch daran beteiligt gewesen, als Vorräte aus dem Lager gen Sumpf verschwunden waren. Er hatte Angst, dass seine Rolle in den Vorfällen irgendwann offenbar werden würde. Doch seine ahnungslosen Fragen schienen Marcellos Verdacht, falls er ihn hegte, erlöschen zu lassen.
Der Hausherr war Jean sehr sympathisch. Marcello hielt nicht viel von der strengen Hierarchie, wie sie an anderen Höfen herrschte. Er war sich nicht zu schade, mit den Mägden zu plaudern und den Stallknechten eine seltene Süßigkeit zu spendieren. Auf ganz Casa Charada spürte man, dass sich die Bewohner zu einer großen Familie zusammengeschlossen hatten. Für Jean, der mit einem distanzierten Vater und dann fern der Heimat in der Gauklerschule aufgewachsen war, eine völlig neue Erfahrung.
So zogen die Tage dahin, verwandelten sich in Wochen und schließlich in den ersten Monat. Jean war auf Casa Charada angekommen und alles schien perfekt. Bis zu einer Nacht, in der es an seine Tür klopfte.
⁂
„Ja?“, rief er schlaftrunken. Keine Antwort, nur ein weiteres, leises Klopfen.
Einen Moment überlegte Jean, ob er liegenbleiben sollte. Die Decken waren warm, der Steinfußboden würde kalt sein. Doch das nächste Wummern am Holz überzeugte ihn, sich aus dem Bett zu quälen. Er tappte, die Decke über den bloßen Oberkörper geworfen, zur Tür und öffnete.
Seine Augen weiteten sich, als sich sofort jemand hereindrängte. Indro, wie er erkannte, nachdem der Rebellenjunge die Tür zugeworfen hatte.
„Was machst du hier?“
Indro schwieg einen Moment und betrachtete Jean, der sich der nackten Füße und des unbedeckten Bauches unangenehm deutlich gewahr wurde. Er schlang die Decke enger um die Schultern.
„Ich …“ Indro schluckte. „Tut mir leid. Ich hatte Angst, dass mich jemand sieht.“
„Woher weißt du, wo ich wohne?“
„Die Unterlagen des Verwalters.“ Ein freches Lächeln zauberte Grübchen auf Indros Wangen. Er war nicht länger hohlwangig wie bei ihrem ersten Treffen. „Tut mir leid, dass ich dich so überfalle. Aber ich konnte ja schlecht einen Boten schicken.“
„Was brauchst du?“ Jean seufzte. Er hatte den nächtlichen Treffpunkt in der letzten Zeit gemieden. Langsam fühlte er sich bedrängt, gezwungen dazu, weiterhin hinter dem Rücken eines so wohlmeinenden Herrn zu handeln.
„Wir brauchen nichts“, widersprach Indro. „Wir wollen dir danken. Mein Vater ist vollkommen genesen, dank deiner Hilfe. Und die Werkzeuge, die du uns verschafft hast, waren … ein Lebensretter, wirklich. Nun haben wir endlich ein Zuhause.“
„Gern gesehen.“ Jean unterdrückte ein Gähnen. Dafür hatte der andere ihn wecken müssen?
„Das ist nicht alles. Wir haben uns besprochen. Vater sagt, dass du zu uns kommen darfst. In unser Lager.“
„I-in den Sumpf?“
„Wir haben nicht viel, aber es ist ein Empfang.“ Indros Lächeln saß schief. „Du wärst … Du wärst der erste Fremde, den wir dorthin führen. Es ist ein Vertrauensbeweis. Solltest du unseretwegen Ärger kriegen, könntest du dich mit dieser Information freikaufen!“
„Ich könnte euch verraten“, murmelte Jean wie betäubt.
„Aber das wirst du nicht, oder, Jean le Picco?“
Verdammt, er mochte es, wie Indro seinen Namen aussprach. Indro Pavanneau. Dieser etwas schüchterne, etwas schmächtige, verlorene Adelssohn, der ihm nun die Hand hinhielt.
„Bitte nimm die Einladung an.“
Jean berührte die schmalen Finger. Ein Prickeln durchfuhr ihn, doch er überspielte es mit einem Scherz. „Nur, wenn ihr mich nicht zur Anarchie bekehrt!“
„Niemals.“ Indro grinste breit.