Das Lager befand sich tief im Sumpfland. Es grenzte, vermutete Jean, sogar an Lirhajn, denn die Landesgrenze Celyvars konnte nicht mehr weit sein. In Friedenszeiten gab es hier keine Wachen, sodass dieser abgeschiedene Landstrich das ideale Versteck für das Lager der Kiebitze bot.
Dieses bestand aus einer Handvoll Unterstände, zusammengezimmert aus Ästen und Zweigen. Es gab einen Unterstand, in dem Jagdbeute über qualmenden Feuern trocknete, Fässer, um Regenwasser zu sammeln, und ansonsten offenbar nur das Nötigste. Ein größeres, jedoch flaches Schlafhaus, gepolstert mit Moos, eine Art Gemeinschaftshalle und ein halb in die weiche Erde gegrabenes Kühlhaus.
Die Zahl der Rebellen war klein. Es gab knapp zwei Dutzend Elfen, allesamt vom Volk der Yvari. Nicht ein treuer Diener schien bei den Kiebitzen geblieben zu sein. Nicht, dass noch ein großer Unterschied zwischen Adel und Gemeinem bestanden hätte. Alle hier waren schlammverschmiert, mager, zäh.
Dennoch wurde Jean von freundlichen Gesichtern empfangen. Man führte ihn in die große Halle, die durch ein frisch wirkendes Dach aus duftenden Kiefernzweigen trocken war, und bot ihm einen von nur drei Stühlen an, um zu sitzen. Auf einem weiteren saß ein älterer Elb mit ergrautem Haar, das Gesicht gezeichnet von Sorge und Entbehrung.
„Alain Pavanneau.” Er reichte Jean die Hand und neigte den Kopf, da er offenbar nicht aufstehen konnte, jedoch seinen Respekt ausdrücken wollte.
„Jean le Picco.“
Alain lächelte. „Mein Sohn hat viel von dir erzählt, Gaukler. Wir alle sind dir zu tiefstem Dank verpflichtet. Es ist eine Schuld, die wir nicht abzahlen können.“
Er ließ sich zögerlich auf dem Holzschemel nieder, der aus Totholz gemacht schien. Er war dunkel und fühlte sich selbst durch den Stoff von Jeans Hose feucht an. Doch er würde sich nicht beschweren. Sie boten ihm hier den größten Luxus, den sie besaßen!
Die Gastfreundschaft rührte ihn, die Mühe, die hinter den einfachsten Dingen steckte. Die Kiebitze waren gute Leute. Und Indro stand an seiner Seite.
Es gab etwas, das das Kiebitzvolk sicherlich als Festmahl ansehen musste. Frische Beeren aus dem Sumpfland, Eier der heimischen Enten, Kaninchenfleisch, Salat aus wilden Kräutern und essbaren Blüten. Sogar Alkohol wurde gereicht, zwar kein teurer Wein, aber selbstgebrauter Cider aus wilden Bergäpfeln. Dazu gab es hartes Brot, Käse und ein paar andere Vorräte, die noch von Indros letztem Diebstahl geblieben waren. Jean probierte von allem, doch er wollte die mageren Vorräte des Kiebitzvolkes auch nicht aufbrauchen.
Was für ein seltsamer Empfang! Irgendwann – wenn er Casa Charada lange hinter sich gelassen hatte – würde das eine gute Geschichte abgeben.
Schale um Schale wanderte durch seine Hände, einen Tisch gab es offenbar noch nicht. Doch mit den gelieferten Werkzeugen würde das Kiebitzvolk sich etwas bauen können. Solange sie die dichteren Sträucher behielten, die ihre Heimstätte tarnten, könnten sie hier noch lange leben.
Als er satt wurde, schien Alain das sofort zu bemerken. Der gestürzte Fürst gab einen Wink, worauf andere Lumpengesellen Jeans letzte Mahlzeit forttrugen und ihm dafür eine Beerenschale reichten. Auch sein Becher mit Cider wurde aufgefüllt. Jean hatte mäßig getrunken, denn er wollte an diesem Ort nicht die Kontrolle verlieren.
Nun wandte sich Alain Pavanneau ihm zu und musterte ihn mit einem Blick, der besser zu einem Falken als einem Kiebitz passen würde. „Du fühlst dich nicht wohl, richtig?“
„Ich …“ Jean war wie vor den Kopf geschlagen. Zu überrumpelt, um seinen Schock zu überspielen, stammelte er etwas davon, dass es spät würde und er morgen bereits zum Frühstück erwartet wurde. Doch mit diesen ersten Worten, die über belangloses Geplänkel hinausgingen, hatte Alain bewiesen, dass er einst auf dem Parkett der Mächtigsten getanzt hatte und das Ränkespiel noch immer meisterlich beherrschte. Besser jedenfalls als ein junger Gaukler in seiner ersten Stellung.
„Wie stehst du zum König?“, fragte Alain.
Jean konnte nicht antworten. Er dachte daran, dass man seine Leiche in diesem Sumpf niemals wiederfinden würde. Sein Blick flog zu Indro. Hatte er sich blenden lassen, wie die Fischer in den Märchen, welche die Meerjungfrauen in die Stromschnellen lockten?
Alains Sohn ging neben ihm in die Hocke. „Dir geschieht nichts. Sei einfach ehrlich, Vater schätzt einen Diskurs.“
Alains Blick zu seinem Sohn war scharf, mahnend. Jean räusperte sich. „Könige machen Fehler, ja. Manche sind wahnsinnig oder machtgierig. Aber alles in allem ist es gut, eine starke Führung zu haben. Ich bin dafür, dass ein Rat Einfluss übt, sodass die Geschicke eines Landes nicht in den Händen einer Familie liegen. Ich sehe auch den Nutzen von Wahlen wie in Meleris, denn Blut allein befähigt vielleicht nicht zum Herrschen. Dennoch, ich … ich bin kein Anarchist.“
Ein Lächeln trat auf das längliche, von Auszehrung gezeichnete Gesicht Alains. Der Elb mit dem dunklen Haar wirkte mit einem Mal sicherlich hundert Jahre jünger. „Das bin ich auch nicht.“
„Nicht?“ Jean setzte sich auf, heftiger, als er es wollte. „Aber …“
„Die Märchen? Sind nicht viel mehr als das. Märchen. Allerdings waren es Märchen, die König Scricciale bedauerlicherweise glaubte. Gestreut von Feinden meiner Familie.“
Überrascht nahm Jean die Neuigkeiten auf. Wenn das stimmte, waren die Kiebitze nicht nur zu Unrecht verbannt, sie waren keine gefährlichen Rebellen mehr, sondern Opfer eines Komplotts. „Gibt es …“ Sein Hals war trocken. Er nahm einen Schluck Apfelwein. „Gibt es Beweise?“
„Hätten wir sie, würden wir nicht hier verfaulen.“ Alain lehnte sich zurück. „Nur Vermutungen. Rückschlüsse. Du musst mir nicht glauben, Jean le Picco, hör einfach nur zu.“
Jean lauschte einer Erzählung aus glücklicheren Tagen, als die Familie Pavanneau mit dem Kiebitzwappen über beträchtliche Ländereien verfügt hatte. Die Yvari gehörten zu den wichtigeren Adelshäusern, allerdings mischten sie wenig im Ränkespiel mit. Sie führten vor allem Bauernvölker an, versorgten den Rest Celyvars mit beliebten Süßigkeiten wie Apfeltaschen und Beerenküchlein. Als sie verstoßen wurden, übernahmen neue Herren die Hoheit über die Felder und Bäckereien, sodass sich für das einfache Volk nichts änderte.
„Unser Name wurde aus den Büchern gestrichen. Wir waren gerade unbedeutend genug, dass wir verschwinden konnten.“
„Wer hatte Interesse daran, ein solch bescheidenes Haus auszulöschen?“, fragte Jean.
Alain zeigte beim Lächeln schiefe Zähne, was ihn gefährlich wirken ließ. „Meine Schwester, die uns damals anführte – Thyrmal sei ihrer Seele gnädig – war bestrebt, aus der Bedeutungslosigkeit zu entkommen. Dabei ist sie den falschen Häusern auf die Füße getreten.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich hatte es zwar kommen sehen, doch nicht geahnt, wie plötzlich das Verderben kommen könnte. So verzichtete ich darauf, sie zu warnen. In meinem jugendlichen Übermut glaubte ich, meine Spione könnten jede Gefahr abfangen. Aber wir haben uns mit den Capi angelegt. Und den Silva-Capi.“
Der Hochadel von Avorigio. Gerade die Silva-Capi waren für ihr Netzwerk von Spionen bekannt.
„Damals ging es um die Position des Beauftragten für Handel in Katalia. Der letzte Beauftrage war zu alt geworden und der König suchte Ersatz. Die Capi glaubten die Stelle sicher – Avorigio grenzt immerhin an Katalia.“
Jean nickte. Die Landkarte war ihm vertraut, wie auch die Hauptsitze der wichtigeren Adelsfamilien.
„Doch meine Schwester wollte einen Pavanneau in der Position wissen. Es hätte viel Ruhm und einen hohen Lohn bedeutet.“ Alain seufzte. „Sie sprach häufig mit den anderen Beamten und Ratsherren und hatte wohl einige überzeugt. Schließlich waren mein Großvater, eine Händlerin und einer der Capi die letzten im Rennen und es schien, als würden wir als Sieger herausgehen. Da tauchten die Gerüchte auf, wie aus dem Nichts. Einem Lauffeuer gleich verbreiteten sie sich von Feier zu Feier, Ball zu Ball. Als wir davon erfuhren, erging auch bereits der Haftbefehl. Mein Großvater und meine Schwester wurden überrollt, sie starben später im Gefängnis. Andere von uns konnten fliehen. Das Leben, was wir retteten, fristen wir nun hier. Im Sumpf.“
Die Beerenschale in seinen Händen hatte Jean beinahe vergessen. Sprachlos saß er da und verdaute nicht nur das Sumpfmahl, sondern auch das Gehörte. Capi waren bekannt dafür, Tratsch zu verbreiten. Sicherlich würden sie das auch zu ihrem Vorteil einsetzen. Ein schneller, grausamer Streich, doch als Wächter über Katalias Handel besaß eine Familie viel Einfluss. Katalia lag im Herzen Celyvars. Kontrollierte man Katalia und Avorigio, so beherrschte man sicherlich 90 Prozent allen Warenflusses. Wäre es das wert, ein anderes Haus in den Abgrund zu stoßen? Was machte er sich vor, solche Geschichten geschahen ständig! Adelige mordeten für weniger, viel weniger.
Alain regte sich und lenkte Jeans Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. „Ich hoffe, du glaubst uns. Du hast dich als Freund unseres Volkes bewiesen. Ich wollte dich auch kennenlernen, um zu erfahren, warum du so handelst. Ob aus Freundlichkeit oder als Sympathisant. Doch du bist kein Anarchist, und du sollst wissen, dass du auch keinen Anarchisten hilfst.“ Alain lächelte. „Ich kann nur erneut dafür danken, dass du uns geholfen hast, auch wenn du uns für Königsverräter gehalten hast.“
„Ich sah nur Elfen, die Hilfe brauchten“, widersprach Jean wie betäubt. „Doch ihr seid unschuldig! Damit hätte ich nie gerechnet.“
„Schuld oder nicht, das spielt schon lange keine Rolle mehr“, sagte Alain abwinkend. „Es sind hundert Jahre vergangen. Wir sind längst das, was sie uns in den Geschichten nennen. Kiebitzvolk. Sumpfleute. Was einmal war ist schon lange vergessen.“ Indem er auf die Oberschenkel schlug, erhob sich der verrate Fürst. „Ich hoffe, du kannst den Abend hier nun genießen. Indro wird dich heimführen, wenn du müde wirst. Auch so bist du uns jederzeit hier willkommen, sollte es dich herziehen.“
Ein Lächeln huschte um den hartumrissenen Mundwinkel des Mannes. Er wollte die schlichte Halle verlassen. Indro rückte etwas näher zu Jean, sicher, um das Wort an ihn zu richten, sobald sein Vater fort wäre.
„Wartet“, rief Jean leise. „Fürst Alain … Ihr spracht von drei Kandidaten im Rennen um den Posten. Euer Großvater, ein Capi … und wer noch?“
Alain furchte die Stirn. „Eine Sticelli, glaube ich. Doch ich wüsste nicht, welche Rolle das spielt.“
„Danke.“ Jean atmete auf. Auch diese Lücke war geschlossen. Es gab also keinen Grund, an der Erzählung zu zweifeln. Er bedankte sich auch für das Mahl und die Gastfreundschaft des Fürsten. Endlich ging Alain und Jean blieb mit Indro zurück.
„Ich hoffe, ich habe dich hiermit nicht zu sehr erschreckt“, sagte der Junge entschuldigend.
Jean lächelte ehrlich. „Ich hatte kurz Sorge, doch, aber im Endeffekt freue ich mich, dass nicht länger ein Missverständnis zwischen uns steht.“
„Darauf hatte ich gehofft“, gab Indro zu. „Und ich wollte auch nicht, dass du das Gefühl hast, dich zwischen der Königstreue und uns entscheiden zu müssen.“
Die Nacht war bereits weit vorangeschritten, sodass Jean bald darum bat, dass Indro ihn zurück zum Anwesen der Passa-Matta brachte. Auf dem Weg dorthin waren sie schweigsam. Indro konzentrierte sich darauf, den Weg zu finden, Jean dachte über die Geschichte der Pavanneau nach. Stets misstrauisch suchte er nach Ungereimtheiten, doch er fand keine. Wäre es wahr, dann wäre es beinahe zu schön. Er mochte Indro. Dem anderen schien es nicht allzu unähnlich zu gehen. Und nun wusste Jean, dass er sich nicht mit einem Verbrecher einließ.
Nur würde es niemand sonst wissen. Und das Kiebitzvolk würde für immer im Sumpf unter erbärmlichen Bedingungen leben müssen, in Nässe und Kälte. Voller Angst vor den Häschern, denn Verrat wurde niemals vergeben.
Während er über das traurige Schicksal seines neuen Freundes nachdachte, stieß er wieder auf den Namen Sticelli. Die andere Familie im Rennen um den Posten als Handelsaufseher. Die Sticelli waren ihm gut vertraut, ihr Sitz lag in Lavanya. Wenn die Capi damals alle Konkurrenz beseitigt hatten, musste es doch noch andere Spuren geben …