Nach gründlicher Suche kehrten die Häscher zur nächsten größeren Stadt zurück. In Lavanya bog ihre Kutsche noch vor dem Stadttor ab, um einem schmalen Pfad zwischen erbärmlichen Hütten zu folgen, der vor einem düsteren Steingebäude endete, einer verfallenen, thyrmalischen Kirche. Sie schien unbewohnt, und doch trat jemand in dunkler Kleidung heraus, als die schlammverschmierte Gruppe eintraf.
„Was hat so lange gedauert?“, herrschte der Mann im Ton eines Adeligen, welcher vor den Mauern nur selten vernommen wurde. „Wir haben gleich drei neue Anfragen und ich musste alle auf unbestimmte Zeit vertrösten! Ist es so schwer, einen vorlauten Gaukler zu fangen? Los, herein mit euch, bevor noch jemand …“
„Herr … wir haben ihn nicht gefunden.“
Stille. Schritte verhallten. Die Spione blieben draußen.
„Was? War er nur ein Pseudonym?“
„Nein, Herr … Jean le Picco existiert, wir haben es überprüft. Wir sind ihm auch gefolgt, aber … er konnte fliehen.“
„Wie?“ Ein schlichtes Wort, alle Wut verraucht.
„Wie ein Geist, Herr. Wir lagerten am Sumpfland. Er tappte in unsere Falle und querte die Straße. Dann … nichts! Keine Spur, kein Schatten. Im See war er nicht und nicht am Ufer, um Sumpf nicht und nicht auf der Straße!“
„Wie konnte euch ein Narr entkommen?“, fragte der Anführer der vereitelten Assassinen. Langsam, leise, besorgt. „Und wichtiger noch, wo ist er?“
„Hier bin ich, Herr.“ Jean wählte diesen Moment, um sich aus dem Kutschdach aufzurichten. Er grinste in Schwerter und Bögen, die sofort gezückt wurden. „Und um Eure Frage zu beantworten, Meister Silva-Capi – damit liege ich doch richtig, oder? – ich entkam, indem ich mich dort versteckte, wo sie nicht suchten. Ein simpler Gauklertrick!“
„Narren!“, fuhr der Anführer seine Leute an. „Senkt die Waffen! Dort oben auf den Mauern stehen Ritter!“
Jeans Grinsen wurde breiter, als die Häscher ihre Mordsinstrumente verbargen. In Lavanya erschlug man niemanden auf offener Straße. Das war etwas für ein Sumpfland oder das abgelegene Heim eines niederen Adeligen, dessen Wort ohne Beweise niemand glauben würde. Eine Burg, die man notfalls mit allen Bewohnern darin niederbrennen könnte, sodass es wie ein Blitzeinschlag aussah.
Doch könnten Blicke töten, der Anführer der Häscher hätte die Tat vollendet.
„Was willst du?“, fragte er leise.
Jean hob die Hände mit einem entwaffnenden Lächeln. Es war wie das Bühnenspiel. Er war ruhig, beherrschte sein Publikum und kannte das Ende der Erzählung. Fast war es ihm, als könnte er das Gauklergewand spüren, ein geisterhaftes, tröstendes Echo um seine Schultern.
„Ich will nur reden. Über das hier!“ Er griff unter sein Wams und präsentierte die Kopie. „Denn deswegen folgt ihr mir ja, oder? Ich bezweifelte, dass Inès-Claire Sticelli euch beauftragte. Warum sollte sie mir helfen, um mich dann zu verraten. Also wisst ihr es von den Capelli! Es stimmt, was man sagt, Capi-Spione sind überall.“
„Gib mir das Papier“, sagte der Anführer. „Dann kannst du leben.“
„Nicht so eilig!“ Jean schüttelte den Kopf. „Das hier ist mein Leben, ich behalte es. Welche Gewissheit habe ich, dass ihr mich nicht in einer anderen Nacht aufsucht, sobald ihr euer Geheimnis sicher wähnt?“
„Dieses Papier darf nicht in der Welt verbleiben!“
„Im Gegenteil, es muss. Doch es wird seinen Weg vielleicht nicht zu König Giamo Scricciale finden. Vielleicht.“ Er hob einen Finger.
Der Kiefer des Mannes ihm gegenüber mahlte. Jean hatte in seiner Zeit bei Fürst Marcello einiges über Verhandlungen gelernt, das meiste jedoch von seinem kurzen Besuch bei Inès-Claire Sticelli. Deswegen hatte er sich gut vorbereitet, während er sich auf dem Dach der Kutsche versteckt hatte.
Der Silva-Capi hatte erkannt, dass Jean kein leichter Gegner war. Mit einem unwilligen Knurren nickte er. „Du willst uns erpressen? Glaubst du, du schaffst das? Was willst du, Gaukler? Geld? Edelsteine? Wirst du darauf ruhig schlafen?“
„Ich denke, den Preis könnt ihr verkraften, und deshalb werde ich ruhig schlafen“, widersprach Jean. „Aber auch, weil ich dieses Papier einem Vertrauten geben werde, mit Instruktionen, es zu lesen, sollte mir etwas zustoßen.“
Der Silva-Capi knirschte hörbar mit den Zähnen. „Dein Preis, Bursche!“
„Die Familie Pavanneau. Ich verlange nicht, dass ihr erlittenes Unrecht richtigstellt. Ich weiß, dass das zu viel Wirbel machen würde, und daraufhin würden andere Familien nachforschen. Ich bitte lediglich um die besondere Fähigkeit der Familie Capi. Gerüchte über ein Kiebitzlied, über falsche Beschuldigung und Intrige. Keine Beweise, das verlange ich nicht. Doch ich bin sicher, dass es in eurer Macht liegt, ganz Celyvar von der Unschuld der Pavanneau zu überzeugen.“
„Dann tust du es für sie?“ Der Tonfall des Adeligen war nachdenklich geworden. „Unfassbar, dass nach all den Jahren immer noch Kiebitze übrig sind!“
„Es wurden auch neue geboren“, erklärte Jean leise. „Sie leben ein Leben in Angst und Elend, ohne Schuld. Keinen von ihnen trifft Schuld, nur jene, die damals nach Macht strebten.“
„So ist der Lauf der Welt“, widersprach der Silva-Capi, der seinen Namen nicht nennen würde. „Man spielt ein Spiel um Leben, manchmal verliert man.“
„Die Pavanneau haben genug gelitten. Sie sollten nicht länger Verfolgung fürchten müssen.“ Jean reckte das Papier. „Das ist mein Preis! Ich werde dieses Geheimnis bewahren, und dafür wird die Jagd nach den Kiebitzen enden.“
Mit verengten Augen sah der Adelige zu ihm herauf. „Sie werden trotzdem nie wieder zu Reichtum gelangen. Ihre alten Ländereien sind fort, ihre Macht erloschen. Ihr Wappen gebrochen!“
„Doch sie werden frei sein.“
Der Adelige nickte. „Du sollst dir nur gewiss sein, wie unser Handel aussieht. Wir können die Pavanneau nicht erneut in Reichtum erheben. Alles, was wir bewirken können, sind Gerüchte.“
Jean akzeptierte mit einem Nicken. Der Adelige gab seinen Leuten einen Wink, die alte Kirche zu betreten. Jean kletterte von der Kutsche und verbarg den Brief erneut.
Mit unbewegter Miene, nicht länger hasserfüllt, sah der Adelige zu ihm herab. „Du hast gut gekämpft, Junge. Ich rate dir jedoch, werde nicht überheblich. Du solltest besser nicht allein sein und einen guten, vertrauensvollen Bewahrer für das Dokument suchen. Denn der klügste Handel kann dich nie völlig beschützen.“
Jean eilte durch die erbärmlichen Gassen zum Stadttor. Den ganzen Weg kribbelte sein Rücken in Erwartung eines geworfenen Dolchs, eines rachsüchtigen Pfeils. Doch sein Glücksspiel ging auf. Lavanya war wirklich ein sicheres Pflaster. Als er durch das Tor lief, vergewisserte er sich noch einmal, dass das Pergament noch unter seinem Wams steckte, als könnte er es verloren haben.
Er würde es Fürst Marcello schicken, vielleicht verborgen in einem Blumengesteck, zusammen mit einer Erklärung und der Beruhigung, dass es ihm gut ging. Nur Casa Chadara und das einsame Sumpfland musste er meiden.
Später. Er sagte sich, dass er ruhig atmen sollte, doch es gelang ihm nicht. Seine Hände bebten. Er hatte mit einem gefährlichen Gegner gepokert, das holte ihn nun ein.
⁂
An diesem Abend gab es ein großes Publikum. Der Anblick vieler Gäste beruhigte Jean, als er sich dem Weingut näherte. Er beschleunigte seine Schritte, um die von einzelnen Laternen beleuchteten Pfade zwischen den dunklen Rebenreihen hinter sich zu lassen.
Viele Augen, das bedeutete Sicherheit. Er atmete durch. Beim Klingeln der Glöckchen drehten sich die Adeligen um. Entzückte Rufe erklangen, Kinder jubelten aufgeregt, dass der Gaukler da sei.
Jean grüßte sie mit einem Lächeln. Er konnte es kaum erwarten, auf die Bühne zu kommen, doch zuvor musste er beim Hausherrn vorsprechen. Dieser empfing ihn in einer ruhigen Kammer, schob das Geld herüber, strich sich über das glatte Kinn.
„Jean le Picco, wie? Ich dachte, du wärst größer.“
„Vielleicht wachse ich ja noch, Herr.“
„Nun, ich habe meiner Tochter einen unvergesslichen Abend versprochen. Ich hoffe, die anderen Geschichten über dich sind nicht auch übertrieben.“
Jeans Lächeln wurde breiter. „Keine Sorge, mein Herr. Das sind sie nicht.“
Der Zweifel blieb im Blick des Hausherrn.
„Eure Tochter wird keinen Grund zur Klage finden, das schwöre ich Euch“, beharrte Jean selbstbewusst. Denn immerhin kannte er seine Stärken, und die konnte keine Geschichte übertreiben.
Der Adelige nickte und wies auf den dicken Geldbeutel. „Die andere Hälfte gibt es nach der Feier. Ich danke dir, dass du so schnell anreisen konntest. Sicher brauchst du nun etwas Zeit, um dich vorzubereiten. Solltest du noch etwas benötigen, scheue dich nicht, die Dienerschaft anzusprechen. Mehrere stehen bereit, um deine Wünsche zu erfüllen.“ Dann atmete der Hausherr tief durch. „Ich bin sicher, dass du uns nicht enttäuschen wirst. Verzeih diesen Empfang, ich bin gestresst.“
Jean winkte ab. Er wusste, dass dem Adeligen sein Lächeln schon in wenigen Minuten viel leichter fallen würde.
Dann blieb er allein zurück. Durch eine große Türe trat er auf die dunkle Seite des Anwesens, wo sich ein weitläufiger Ziergarten mit duftenden Blumen anschloss.
Dunkelheit, jedoch Dunkelheit innerhalb des Rings der Wachen. Jean atmete tief durch.
Wie so oft schweiften seine Gedanken zu Indro. Wo mochte der verlorene Prinz nun sein? Inzwischen hatten die neuen Gerüchte längst Wirkung gezeigt. Die Kiebitze hatten den Sumpf verlassen. Erst diesen Frühling hatte sich Jean in einem Anflug von Wahnsinn davon überzeugt. Die Hütten verfielen, ohne Spur eines Kampfes.
Indro, Alain und alle anderen, sie waren weitergezogen. Vielleicht in einen anderen Teil Celyvars, wo sie neu beginnen könnten. Vielleicht weiter fort.
Schwere erfasste sein Herz. Indro musste wissen, dass er Jean nicht schreiben durfte. Zu groß war die Gefahr, dass die Capi noch immer auf Rache sannen. Jean war sich sicher, dass sie ihm auch zum Sumpflager gefolgt waren, unerkannt, leise. Capi-Spione waren überall. Dennoch wünschte er sich manchmal, dass Indro ein Narr wäre. Nicht im Sinne des bunten Gewandes, natürlich.
In einzigen Jahrzehnten hätte sich die Lage vielleicht beruhigt. Er hoffte sehr, dass er Indro Pavanneau eines Tages wiedersehen würde. Manchmal träumte er gar, dass der andere ebenso lange wachlag, die gleichen Sterne beobachtete, das gleiche dachte.
Doch würde Indro so lange warten? Würde Jean es können?
Ein Vogelruf schreckte ihn aus den Gedanken. Ein später Singvogel, der in den Parkanlagen den Abend begrüßte.
Kiju-wit, kiju-wit. Es klang wie ein Versprechen.
Ein Lächeln vertrieb Jeans Sorgen. Er nahm die Narrenkrone, setzte sie auf. Verwandelte sich, für die nächsten Stunden, in jemanden, der nicht vermisste und nicht sehnte.
~ ⁂ ~
Dir hat die Geschichte gefallen?
Wenn du möchtest, kannst du mir für deine absoluten Lieblingswerke ein paar Brotchips über Ko-fi spendieren: https://ko-fi.com/grauwolfautor
Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!