Erst am Vorabend der Feierlichkeiten traf der Bote der Sticelli ein. Im Grunde war das keine Überraschung, denn die Blumen sollten in der verstrichenen Zeit nicht vertrocknen können.
Nun atmete Jean auf, als er einem vom Sommerregen durchnässten Burschen die Tür öffnete, welcher ein kronförmiges Gesteck verschiedener, gelber Blüten im Arm trug. Auf dem kurzen Weg von der Kutsche zum Tor war das verbergende Papier vom vorwitzigen Wind gestohlen worden.
„Bringt es am besten an einen sonnigen Ort und wässert es vor dem morgigen Abend noch einmal“, wies der Bote mit dem Wappen des sticellischen Spiegelstars ihn an. „Und die Rechnung solltet ihr vor den Augen der Beschenkten verbergen!“ Er wies auf ein Papier, das auf dem Kronengesteck auflag. „Belastet auch Euren Herrn nicht damit.“
Sein Tonfall war merkwürdig drängend bei diesen letzten Worten. Jean nickte und nahm Abschied. Offenbar war es kein Zufall gewesen, dass er den Liefertermin in einem persönlich an ihn adressierten Papier erhalten hatte. Natürlich gingen solche Belange einen Adeligen nichts an, doch eigentlich hätte Verwalter Ottone dieses Papier erhalten sollen. Dass die Sticelli nicht wussten, wer den Haushalt auf Casa Charada führte, glaubte Jean nicht.
Somit brachte er das Geschenk verborgen vor den neugierigen Nichten unter und öffnete den versiegelten Brief in dem wenig benutzten Nebenraum beim Lager. Nebst einer etwas durchnässten Rechnung kam noch ein anderes Pergament zum Vorschein, als Abschrift ausgewiesen und mit dem Wiedehopf-Stempel der Capelli versehen.
Die Rechnung ließ Jean auf den staubigen Tisch dieses vergessenen Zimmers sinken. Mit geweiteten Augen überflog er die Zeilen des Dokuments, dann faltete er es hastig und verbarg es unter seinem Hemd. Er ergriff die Rechnung und überbrachte sie Verwalter Ottone wie betäubt. Kaum nahm er die Fragen wahr, die der noch junge Verwalter ihm stellte, etwa bezüglich des Ortes, an dem die teure Krone nun lag. Jean jedoch konnte es kaum erwarten, auf sein Zimmer zu gelangen.
Endlich, endlich war er mit dem Dokument allein. Die Unterlagen breitete er auf dem kleinen Tischchen seiner Kammer aus, nahe am Fenster, um das Licht des bereits schwindenden Tages zu nutzen. Was sich bei fortschreitender Rötung des Himmels und folglich seines Gemachs offenbarte, war ungeheuerlich.
Es war ein Vertrag zwischen den Sticelli und den Capi. Erstere verzichteten auf ihre Ansprüche an dem besagten Handelsposten, im Gegenzug stand man ihnen ein zuvor umkämpftes Gehöft im nördlichen Rualin zu, mit dessen Hilfe sich Teile der Pferdezucht kontrollieren ließen. Ein magerer Preis im Vergleich zum Handel in ganz Katalia. Vielleicht waren Druckmittel im Spiel gewesen. Vielleicht hatten die Sticelli den Hof, welchen sie als Blumenbinder nicht benötigten, in Verhandlungen mit anderen Familien aufbringen können. Das war egal, doch das Dokument bewies eine geheime Absprache, um die Capi auf den Aufseherposten zu bringen. Es war der Beweis, dass Alain Pavanneau nicht gelogen hatte!
Zwar entlasteten die Dokumente die Kiebitze nicht, doch die Absprachen waren verboten. Und es verstärkte den Verdacht, dass die Capi auch andere unlautere Mittel verwendet hatten.
Der Vertrag war ihnen sicherlich ein Dorn im Auge, überlegte Jean. Doch die Sticelli hatten klug auf einer Absicherung bestanden. Und immer gerieten solche Dokumente an die Capelli. Die Wissenssammler waren nicht befugt, selbst Anklagen zu erheben, doch sie konnten Kopien erstellen und den richtigen Leuten zuspielen. Wie viele Hebel hatte Inès-Claire Sticelli dafür in Bewegung setzen müssen?
Am liebsten würde Jean zu Indro laufen und ihm davon berichten, wie nah sie einer Erlösung waren. Doch heute ging das nicht mehr. Er musste proben für die Vorstellung am nächsten Abend. Während des Festes würde Indro sich ebenfalls nicht zeigen. Er würde es erst erfahren, wenn Jean le Picco den ersten Schritt gemacht hatte, um das Kiebitzvolk zu befreien.
Die Kopie war bestimmt nicht unbemerkt geblieben. Capi-Spione gab es überall, sicherlich auch im Hause der Capelli. Jean würde schnell handeln müssen.
Zum Glück hatte er einen Plan. Was wäre leichter für einen Gaukler, als die Wahrheit hinauszuposaunen, ohne dass jeder sogleich Verdacht schöpfte? Er hatte beschlossen, eine Posse über die Kiebitze zu spielen, in welcher ihre Unschuld offenbar wurde. Das Schauspiel würde auf den ersten Blick nichts als eine lustige Geschichte sein. Ein Einfaltspinsel in einem finsteren Sumpfwald, der paranoid von Banditen faselte. Bis er diese dann traf und sie sich als Gefolge einer verwunschenen Prinzessin herausstellten. Beide Rollen, den Einfaltspinsel und den Banditen, spielten zwei Sockenpuppen. Louise liebte das Sockenpuppentheater. Über die Handlung würde sich kaum jemand Gedanken machen, sie war gerade verfremdet genug, dass die Ähnlichkeit zu den Kiebitzen erst später klarwerden sollte.
Als Gaukler lernte man, dass Geschichten und Märchen mehr Macht besaßen als jeder ehrliche Bericht. Die Erzählungen entfalteten ihren eigenen Zauber, schlichen sich in die Herzen und blieben im Gedächtnis.
Stundenlang feilte Jean an seiner Geschichte, bis sie perfekt war. Das ging bis tief in die Nacht und bis zum Vormittag des nächsten Tages, nachdem er geschlafen hatte. Von den Vorbereitungen war er befreit, denn er musste auch ein paar andere Kunststücke eintrainieren.
Viel zu schnell war der Abend heran. Die Gäste waren in den vergangenen drei Tagen herbeigeströmt, mehr, als Jean auf Casa Charada bisher gesehen hatte. Anders als beim Karneval hatten sie jedoch keine anderen Verpflichtungen. Diese Feier würde größer werden. Jean merkte, dass er erneut nervös wurde, anders als bei den vielen Abendaufführungen. Ruhig atmen, sagte er sich. Nicht darüber nachdenken, wie viele Augen auf ihm ruhen würden. Nicht daran denken, welches gefährliche Geheimnis er auf die Bühne trug.
Fürst Marcello begrüßte die Gäste im Namen seiner Nichte. Dann wurden Geschenke dargeboten, allen voran das Kronengesteck. Louise freute sich sehr darüber, was Jean erleichterte. Da er seinen Herrn in dieser Hinsicht belogen hatte, hatte sich ein schlechtes Gewissen eingestellt. Doch das Geschenk war unabhängig von der Intrige gut gewählt gewesen!
Durch die lichtspiegelnden Fenster versuchte er, einen Blick auf die aufziehende Sommernacht zu gewinnen. Was Indro nun dort draußen trieb? Saß er im Sumpf oder hatte er sich gar trotz der vielen potentiellen Zeugen zur Burg vorgewagt, um Jeans Auftritt zu sehen? Würde er sich über die Geschichte freuen?
„Nun lasst mich den Gaukler des Abends vorstellen, Jean le Picco!“
Jean fuhr zusammen. Marcellos Worte beendeten die Übergabe der Geschenke und leiteten den festlichen Teil des Abends ein. Mit weichen Knien trat Jean auf die Bühne. Jeder Schritt ließ sein Narrengewand klimpern. Er holte die Bälle hervor, um mit einer leichteren Übung zu beginnen.
Bälle – drei, vier, fünf. Keulen, Tücher, Ringe. Die glitzernden Lichter leuchteten auf der bunten Bemalung der schon etwas abgegriffenen Materialien. Jean merkte, wie sein Atem sich dem Rhythmus des Jonglierens anpasste. Als tosender Applaus das letzte Kunststück belohnte, kündigte er die eigens für Louise verfasste Geschichte später am Abend an. Zunächst würden sich alle am Buffet bedienen, die Aufmerksamkeit würde auf Gesprächen und Geplänkel liegen. Jean begleitete dies mit leisem Gesang im Wechsel mit einigen Feuertricks. Er wusste, wann er sich zurücknehmen und wann in die Hauptrolle des Abends drängen musste.
Er gewöhnte sich an das Gedränge, den Stimmenlärm, die verschiedenen Parfumdüfte der Damen. Wie immer, wenn er erst auf der Bühne stand, übernahm das Narrengewand die Kontrolle. Jean wurde ruhig, ging ganz in seiner Rolle auf. Es zählten nur jene, die vor der Bühne stehen blieben, es galt nur, ihnen ein Lächeln auf die Gesichter zu zaubern, sie zum Lachen zu bringen.
Sogar die Gedanken an Indro standen dahinter zurück. Der Kuss folgte Jean wie ein Geist selbst in seine Schlafkammer. Ein angenehmer Geist, doch er war froh, die bittersüße Sehnsucht eine Weile vergessen zu können.
Schließlich wurde der Abend ruhiger. Die Adeligen hatten einander gesprochen und waren nun, gesättigt und noch nicht betrunken, auf der Suche nach Zerstreuung. Jean unterbrach für einen Moment, um den Dienern zu erlauben, die Puppenspielbühne aufzubauen, eine Art kleines Haus, vorne ein Sichtfenster mit Vorhang, hinten offen bis auf einen Sitz für den verborgenen Spieler.
Adelina hatte ihm auch heute, an diesem für sie sicher stressigen Tag, Wasser und Verpflegung bereitstellen lassen. Mit einem Handtuch trocknete Jean den Schweiß auf seiner Stirn und nahm einen Schluck Wasser. Wieder sah er zu den Fenstern.
Ob Indro dort in der Nacht war? Greifbar? Jetzt, mit dem Dokument, das er sicher unter seinem Wams trug, konnte er erstmals hoffen. Die Lüge um die Kiebitzleute würde sich aufklären. Indro Pavanneau wäre frei. Sie beide wären frei, ihre Freundschaft, ihre Beziehung offen zu machen. Jean war kein Thronfolger, somit hätten seine Eltern sicher kein Interesse, sich in seine Heiratspläne einzumischen. Dafür war es noch zu früh, viel zu früh, und dennoch war es eine Erleichterung, dass er diese Gedanken nicht länger im Keim ersticken musste.
Er konnte träumen. Träumen von einer Zukunft an Indros Seite!
Die Bühne war bereit. Jean holte die selbstgenähten Sockenpuppen hervor und stieg in den Kasten unter dem Sichtfenster.
Seine Geschichte begann. Der Einfaltspinsel brachte das Volk zum Lachen, auch das Gelächter von Louise und Lisette hörte er heraus. Dann trat, auf Jeans anderer Hand, ein krähender Vogel auf.
„Kiju-wit, kiju-wit“, rief der Kiebitz. „Komm mit, komm mit!“
Der Einfaltspinsel floh dagegen unter dem Gelächter der Zuschauer, stürzte, flehte verschiedene Götter an. „Thyrmal! Oder M’bube, meinetwegen! Der Teufel, wenn er mich nur rette!“ Das Publikum johlte.
Wieder rief der Kiebitz. „Kiju-wit, kiju-wit!“ Weitere Flucht, bis der tragische Held in eine Sackgasse gelaufen war. Um die Felsen aufzubauen, musste Jean den Kiebitz kurz verschwinden lassen. Dann zitterte der Held, panisch, verloren.
„Kiju-wit, kiju-wit!“
In die Ecke gedrängt, blieb der Sockenpuppe nur die Flucht nach vorne. Da merkte sie, dass sie nicht durchbohrt war. Sie sah ulkig an sich herab und dann zum Vogel. „Du schon wieder! Bist wohl ein Fan, der von meinem Mut hörte! Na gut, ich komme doch, kein Grund, zu brüllen!“ Der so offensichtlich gefälschte Mut seines Helden ließ Jeans Publikum applaudieren und gröhlen.
Dann jedoch wurde es ernst, als der Held, dem Kiebitz nach, auf die verwunschene Prinzessin mit ihrer Krone aus kleinen Blumen traf. Sie flehte ihn um Erlösung aus dem Sumpf, um Gerechtigkeit für die Lügen. Nicht gewillt, als Feigling dazustehen, stimmte der Held zu, die von Verrätern gepflanzten Rosen zu durchbrechen und das Königreich der Prinzessin so zu befreien. Das Gelächter kehrte mit seinen Bemühungen zurück, doch es klang leiser.
Jean hatte es geschafft, seine Zuschauer zum Nachdenken zu bewegen.
Im Folgenden konzentrierte er sich auf das Geburtstagskind. Die Prinzessin in ihrem Ebenbild griff nämlich rettend ein und befreite ihr Land am Ende selbst. Als die Sockenpuppe des Helden in letzter Sekunde selbst den Ruhm dafür ernten wollten, schlug sie ihn kurzerhand unter den empörten und anfeuernden Rufen der jüngsten Besucher nieder. So wurden die Prinzessin und ihre tapfere Schwester zu den wahren Helden der Mär, und sie kehrten Heim zu ihren Eltern, die beide schon sehnlich erwartet hatten.
Jean hoffte, dass er mit seinem Werk etwas Heimweh gelindert hatte. Jedenfalls wirkten beide Mädchen, als er zu der normalen Vorführung zurückkehrte, fröhlicher als seit Tagen.