Es waren einmal zwei junge Leute, die hießen Gränsel und Hetel. Die beiden wohnten in völliger Armut in der Nähe eines großen, finsteren Waldes. Ihr Häuschen war so winzig, das eigentlich nur Zwerge darinnen Platz hatten. Und trotzdem lebten sie dort mit ein paar Ziegen und Schafen.
Die beiden waren arm wie die Kirchenmäuse und hatten nur ganz wenig zu essen. Die Schafe und Ziegen konnten sie auf der Wiese hinter dem Haus anpflocken, wo sie Gras fressen konnten. Für Gränsel und Hetel war Gras natürlich nichts, es sei denn, sie rauchten es in der Tabakspfeife. Manchmal mussten sie sogar den Kitt aus den Fenstern kratzen, um nicht zu verhungern. Von schöner Kleidung, Ausgehen und anderem Luxus konnten sie nur träumen.
Gränsel und Hetel versuchten, sich so gut es ging, über Wasser zu halten. Hetel bot sich sogar als Dirne im waldeigenen Bordell an, während Gränsel als Callboy arbeitete und die reichen Königinnen und Prinzessinnen zu Galaabenden oder ins Theater begleitete. Ab und an musste er denen auch zu Willen sein, was zwar mehr einbrachte, aber auch an die geldgierige Zuhälterhexe oder den krummbeinigen Räuber Züberahl abgegeben werden musste. Für Gränsel war es ein Graus, die hässlichen Weiber begatten zu müssen. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu fügen, wenn er und Hetel nicht verhungern wollten. Weigerte er sich, kamen die bösen Zwieben Serge, die Handlanger Züberahls und verprügelten ihn, bis ihm das Vaterunser aus den Ohren krümelte.
Die Jobs boten Gränsel und Hetel kaum die Möglichkeit, große Sprünge zu machen. So lebten sie von der Hand in den Mund und versuchten, das Beste draus zu machen.
Ihre Zuhälterin, die krummbucklige Hexe Jababaga, die in einem großen, pompösen Haus aus Lebkuchen und Zuckerguss mitten im Wald lebte, beutete sie bis aufs Blut aus. Sie presste alles, was sie verdienten, aus ihnen heraus. Während Jababaga in Saus und Braus lebte, vegetierte Gränsel mit seiner Hetel vor sich hin.
Eines Tages war Hetel im Wald unterwegs. Das Geld war wieder so knapp, dass sie sich nicht mal ein Brot kaufen konnten. Daher wollte sie für ein mageres Abendessen Wurzeln ausgraben und Beeren sammeln. Dabei kam sie auch an der Hexenluxusvilla vorbei. Hetels Magen knurrte so laut, dass sie sich aus Angst öfters umschaute, ob ihr doch nicht der verrückte Wolf, der letztens erst Koträppchens Großmutter und die Gieben Seißlein gefressen hatte, auf den Fersen war, um sich auch sie einzuverleiben. Was sollte dann aus dem armen Gränsel werden, wenn sie im Magen des Wolfes vergammelte.
So in Gedanken versunken, näherte sich Hetel dem Hexenhaus. Erst als sie fast davor stand, bemerkte sie, dass sie sich verlaufen hatte. Gerade wollte sie sich wieder davon schleichen, als ihr ein herrlicher Duft nach Süßigkeiten in die Nase stach. Hetel wollte sich zwingen, den Ort des Verderbens zu verlassen. Doch es half alles nichts, ihr Magen knurrte einfach zu laut und der Duft war zu verlockend.
Leise schlich sich Hetel näher an das Hexenhaus heran. Der vergoldete Zuckerguss funkelte mit der Sonne um die Wette. Die Lebkuchen luden förmlich dazu ein, angeknabbert zu werden. Hetel lief das Wasser im Mund zusammen, dass ihr der Speichel aus den Mundwinkeln tropfte. Wie eine sabbernde Alte mit Zahnprothese kam sie sich vor.
Vorsichtig kratzte Hetel mit dem Fingernagel ein wenig Zuckerguss ab. Etwas davon blieb fest kleben und ließ sich auch durch ausgiebiges Lutschen nicht vom Finger lösen. Fluchend versuchte sie, das klebrige Zeugs mit den Zähnen abzuknabbern. Prompt biss sie sich dabei auch noch einen Nagel ab. Wütend spuckte sie ihn aus. Aber all das brachte Hetel nicht dazu, von ihrem Tun abzulassen. Der Hunger und die Gefräßigkeit nach Essbarem war einfach zu groß.
Gierig riss Hetel gleich eine ganze Lebkuchenplatte mit vergoldetem Zuckerguss und Liebesperlen aus der Hauswand. Flugs stopfte sie sich das süße Zeug in den Mund und kaute es. Dabei schmatzte sie wie Schweinchen Dick während eines Festmahls.
Hetels Tun blieb natürlich nicht unbemerkt. Die bucklige Zuhälterhexe, die grad ein Schläfchen hielt, um den Rausch auszuschlafen, den die giftigen Stacheln von Rorndöschens Hecke verursacht hatten, hörte es vor dem Fenster knispern und schmatzen.
„Knusper, knusper, Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen“, schimpfte die alte Jababaga vor sich hin. Schwerfällig und noch voll im Tran wälzte sie sich von ihrer bequemen Streckbank und watschelte wie Donald Duck zum Fenster. Als sie durch die Scheibe nach draußen blickte, erkannte sie dort Hetel, die sich an ihrem Häuschen gütlich tat und wie verrückt geworden, sich das Zuckerzeug in die Backen stopfte. Sie ähnelte schon einem Hamster, der auf Nahrungssuche war.
„Nu pagadi“, lispelte Jababaga durch ihre Zahnlücke. „Dir werde ich es zeigen, von wegen mein wertvolles Häuschen zerstören. Na warte!“
Leise schlich sich die Hexe nach draußen. Doch ehe sie das Haus verließ, schnappte sie sich ihre Zuckerpeitsche, die immer griffbereit auf dem Schränkchen neben dem Brunnen lag. Der Brunnen gab nicht nur Wasser, sondern führte auch zu Hau Frolle.
„Hab ich dich, du impertinente Diebin“, schrie Jababaga Hetel an und griff sie am Kragen. Dabei schlug sie wie besessen auf das erschrockene Mädchen ein, dass die Fetzen flogen und die Zuckerpeitsche beinahe auseinander brach. „Endlich weiß ich, wer sich immer an meinem Häuschen bedient“, schrie die Hexe dabei aufgebracht. „Dass gerade du das bist, das haut die Miez an den Baum. Ab ins Gitterstäblehäusle mit dir!“ Jababaga lief vor Zorn rot an, dass sie aussah wie eine leuchtende Laterne am Kutschbock.
„Bitte, bitte, liebe Hexe, halte ein“, bettelte Hetel. „Ich war so hungrig, dass ich es nicht lassen konnte, von deinem Häuschen zu naschen. Lass mich gehen, ich werde es auch nie wieder tun. Was soll aus meinem Gränsel werden, wenn du mich hier einsperrst. Er wird elendig verhungern.“ Heftig schlug Hetels erschrockenes Herz in ihrer Brust.
„Nix da, du Diebin. Dafür wirst du bestraft“, rief die Hexe außer sich vor Wut und schleppte die Gefangene zu der Gitterbox, die neben ihrem großen Backofen stand. Grob stieß sie Hetel da hinein und knallte die Tür hinter ihr zu. Der Schwung, den Hetel hatte, katapultierte sie in die nächste Ecke, wo sie betäubt wie ein nasser Sack zu Boden rutschte.
„Bitte, bitte. Liebe Hexe, ich werde das auch nie wieder tun“, bettelte Hetel weiter um Vergebung, als sie zu sich kam und sah, dass sie eingesperrt war. Dabei liefen ihr die Tränen wie Wasserfälle über die Wangen. Binnen kurzer Zeit bildeten sich so große Pfützen um sie, in denen man schon schwimmen lernen und das goldene Seepferdchen erwerben konnte. Die Hexe jedoch ließ sich von der jammernden Hetel nicht beeindrucken. Sie blieb gefangen.
Es wurde Abend, Hetel saß immer noch eingekerkert in der Gitterbox. Ihr Mut war inzwischen auf den Nullpunkt gesunken. Schon wollte sie sich ihrem Schicksal ergeben, da sah sie, wie Gans im Hlück über die Wiese schlenderte und sich dem Lebkuchenhaus näherte.
Außer sich vor Freude, endlich Jemanden zu sehen, rief ihm Hetel zu: „Gans im Hlück, hol mich hier raus. Die böse Zuhälterhexe hat mich eingesperrt.“
Der Gans im Hlück hörte die Rufe des verzweifelten Mädchens und schaute sich um. Da entdeckte er die gefangene Hetel in der Gitterbox neben dem Backofen. Gerade wollte er ihr zu Hilfe kommen, als die Hexe aus dem Haus trat und Hetels vermeintlichen Retter entdeckte, der sich bereits der Gitterbox näherte.
„Ah, der Gans im Hlück“, rief Jababaga erfreut, „dich schickt der Himmel. Hilf mir doch, meinen Ofen anzuheizen. Das dumme Ding will heute nicht so, wie ich es will.“
„Aber Hexe, um diese Zeit noch“, versuchte Gans sich die Arbeit vom Hals zu halten. Er konnte sich schon denken, was die garstige Hexe im Schilde führte. Sie war für ihre perversen Foltermethoden waldbekannt.
„Natürlich jetzt!“, rief die Hexe aus. „Ich habe Hunger. Schau mal, mein Abendmahl wartet bereits sehnsüchtig auf mich.“ Während sie das aussprach, wabbelten ihre feisten Backen wie der Bauch eines Hängebauchschweins und ihre mit einer großen Warze bestückte Nase wackelte wie dessen Ringelschwänzchen.
„Nein, ich will nicht. Mach deinen Mist doch selber“, wehrte sich Gans im Hlück.
Da wurde die Hexe böse und schlug voller Zorn auf den armen Gans ein. Sie zerrte ihn, genau wie vorhin Hetel, zur Gitterbox und sperrte ihn mit ein. Nun waren sie zwar zu zweit, aber gefangen und nicht in der Lage, sich selbst aus diesem misslichen Zustand zu befreien.
„Dann muss ich die Arbeit eben selber machen“, schrie die Jababaga ihren Gefangenen zu. Sie ging zum Ofen, mühte sich mit dem Zunder ab, bis ein kleines Flämmchen aufglomm, das die Späne zum Brennen brachte. Nun wartete sie ab, bis diese gut brannten und legte Holz auf.
Währenddessen saß Gränsel zu Hause in seiner Hütte und wartete sehnsüchtig auf seine Hetel. Doch die kam und kam nicht zurück. Langsam machte er sich Sorgen um sie. Auch plagte ihn ein grausiger Hunger. Sein Magen knurrte so laut, dass man es sogar vor der Türe hören konnte.
Genau in diesem Moment kamen Rosenweißchen und Schneerot vorbei. Sie waren auf dem Nachhauseweg von einem Besuch bei Grumpelstilzchen und Dornfötzchen, wo sie eine wilde Party gefeiert hatten. Angeschickert und laut rülpsend wie ein Holzhacker näherten sie sich dem besorgten Gränsel.
„Gränsel, Lieber, was schaust du so bedröppelt drein? Welche Leber ist dir über die Laus gelaufen?“, fragten die beiden ihn.
„Ach, wisst ihr, ich vermisse meine Hetel so sehr. Sie ging heute Nachmittag in den Wald, um Beeren zu sammeln und Wurzeln auszugraben. Die Dämmerung bricht bereits herein und sie ist immer noch nicht zurück“, erwiderte Gränsel weinerlich. „Außerdem habe ich großen Hunger. Hetel wollte Abendessen kochen und nun sitze ich hier wie ein Depp und warte.“ Gränsel jammerte herzerweichend weiter, dass die beiden Mädchen schon die Augen verdrehten.
„Dass sich die Männer nicht mal selber helfen können“, flüsterte Schneerot Rosenweißchen ins Ohr. „So ein Weichei!“
Gränsel jammerte und jammerte. Seine Redeschwall nahm einfach kein Ende. Nun kam auch noch das ängstliche Schneiderlein dazu. Im Schlepptau hatte er den barfüßigen Kater, der laut, lang und falsch ein fröhliches Liedchen trällerte.
„Was jammerst du?“, wollten nun auch das Schneiderlein und der Kater wissen.
Wieder berichtete Gränsel von seinem Leid.
„Da müssen wir suchen gehen“, schlug das Schneiderlein vor, das wie aus heiterem Himmel tapfer geworden war. „Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen. Man hört so schlimme Dinge, wie letzten von Koträppchens Großmutter und den Gieben Seißlein, die der Wolf gefressen hat.“ Alle palaverten durcheinander wie die blökende Herde Schafe hinter dem Haus, aber keiner hatte die richtige Idee, was zu tun war.
„Was ist denn hier für ein Geschnatter? Man versteht ja die Bäume vor lauter Wald nicht!“, schimpfte Schneeflöttchen, die mit Puranzel aus dem Wald angelaufen kam, als sie das laute Geschrei vor Gränsels Hütte hörten.
Nachdem endlich alle gesagt hatten, was sie sagen wollten und Ruhe eingekehrt war, erzählte Gränsel erneut von seinem Leid. Schneeflöttchen und Puranzel wussten davon ja noch nichts.
„Wir sind vorhin am Hexenhaus vorbei gekommen“, berichtete Puranzel aufgeregt, als Gränsel mit seinem Lamento am Ende war. „Die Jababaga war eben dabei, ihren Ofen anzuheizen. Im Hintergrund hörte ich Stimmen. Eine davon war bestimmt die von Hetel. Sie schien zu weinen.“
„Hast du gesehen, was mit ihr geschehen ist?“, fragte Gränsel besorgt.
„Nein, leider nicht. Wir waren zu feige, uns zu nähern. Die Hexe hat zu sehr geschimpft.“
„Dann nichts wie hin und nachschauen“, rief Gränsel aufgeregt aus. Er sprang auf und alle folgten ihm in den Wald.
Als sie am Hexenhaus ankamen, war es bereits dunkel wie in einem Bärenpopo. Nur das Hexenhaus war hell erleuchtet. Überall hingen Gläser mit Glühwürmchen, die den Hof erhellten. Mittendrin stand ein Tisch, der mit Leckereien voll beladen war, dass sich die Tischplatte bog. Nur die Hexe war nirgends zu sehen. Dafür konnten sie einen Blick auf die Gitterbox erhaschen, in der immer noch Hetel und Gans im Hlück gefangen waren. Gerade wollten sie die beiden befreien, als die Hexe aus dem Haus kam. In der Hand hielt sie einen großen Schürhaken, mit dem sie die Glut im Ofen umrühren wollte.
„Bald gibt es ein opulentes Mahl“, sang die Hexe laut vor sich hin und rieb sich vor Vorfreude ihren dicken Wabbelbauch.
Gränsel erkannte sogleich, was Jababaga im Schilde führte.
„Sie will meine Hetel und den Gans grillen“, flüsterte er aufgeregt seinen Freunden zu. „Stoßen wir die alte Hexe in den Ofen und befreien Hetel und Gans, ehe es zu spät ist.
Vorsichtig schlichen sich die Verbündeten in zwei Gruppen aufgeteilt an. Während das ängstliche Schneiderlein und der barfüßige Kater die Gefangenen aus der Gitterbox befreiten, näherten sich die anderen der Hexe. Als die sich ins Feuerloch beugte, wurde sie mit einem gezielten, heftigen Tritt in den Allerwertesten in den Ofen befördert. Schnell schlugen die Freunde die Tür hinter ihr zu, damit die böse Hexe nicht noch im letzten Moment entkommen konnte. Grausliches Geschrei und wüstes Schimpfen scholl aus dem Inneren des Ofens, in dem die Jababaga zu Asche verbrannte.
Freudig fielen sich Gränsel und Hetel in die Arme. Das war Rettung in letzter Sekunde. Auch Gans im Hlück war überglücklich, aus den Fängen der Hexe entkommen zu sein.
Die Freunde hatte nun etwas zu feiern. Das Lebkuchenhaus musste arg leiden. An allen Ecken und Enden saßen Gränsels und Hetels Freunde und knusperten das leckere goldene Zuckerzeug und die Liebesperlen von den Wänden. Bald war das Hexenhaus und auch die Hexe selber nur noch Geschichte.
Alle im Wald waren glücklich, endlich die Zuhälterhexe Jababaga, die alle tyrannisiert hatte, los zu sein. Gränsel und Hetel übernahmen das waldeigene Bordell und arbeiteten von nun an in ihre eigene Tasche. Den Verdienst teilten sie brüderlich mit ihren Freunden. Aus den bösen Zwieben Sergen wurden gute Zwieben Serge, die die Bewohner des Waldes vor allem Unbill beschützten. Der verrückte Wolf überfiel keine Großmütter und Seißlein mehr, um sie zu fressen. Alle lebten fortan glücklich und zufrieden miteinander. Nur der Räuber Züberahl ward niemehr gesehen…
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© Sandy Reneé / 04.08.2016