… oder die Wahrheit über Schneewittchen, die böse Stiefmutter und den sprechenden Spiegel
„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Die böse Stiefmutter Schneewittchens steht vor ihrem Spiegel. Kokett dreht sie sich um die eigene Achse, um alles an sich genau begutachten zu können.
„Oh nein, du schon wieder!“, motzt der Spiegel, der inzwischen sichtlich von der Königin genervt ist. „Du musst doch langsam bemerkt haben, dass du einfach nicht die schönste Frau im ganzen Königreich bist. Das ist immer noch Schneewittchen! Sie ist sehr viel schöner als du.“
„Du garstiger Spiegel! Ich lasse dich zerschlagen, wenn du mir nicht sofort sagst, dass nur ich die Schönste im ganzen Land sein kann“, schimpft nun die böse Königin und stampft mit dem Fuß auf, dass der Spiegel verdächtig gefährlich in seinem Rahmen wackelt.
„Mir doch egal, ob ich in tausend Stücke zerberste. Mir jeden Tag von dir die gleiche Leier anhören zu müssen, ist grausam“, tut der Spiegel nun beleidigt. „Versteh doch endlich, du kannst nie die Schönste sein!“ Er hat es wahrlich satt, der Königin tagein, tagaus dieselben Worte sagen zu müssen. Für ihn ist und bleibt das zarte, schwarzhaarige Schneewittchen das schönste Mädchen im ganzen Königreich. Da kann die Königin mit ihren blonden Zottelhaaren, die ständig taten, was sie wollten, niemals mithalten. Warum nur konnte sie das nicht verstehen? „Außerdem“, der Spiegel lächelt süffisant, „schau dir doch mal deine Nase an.“
Erschrocken reißt die Königin die Augen auf. Um richtig sehen zu können, rückt sie näher an den Spiegel heran. „Was ist mit meiner Nase?“ Sie begutachtet aufmerksam ihren Gesichtsvorsprung. Doch sie kann nichts an sich entdecken, was dem Spiegel missfallen könnte.
Der Spiegel lacht laut. „Na ganz einfach. Dieser riesige, mit einer Warze bedeckte Zinken kann nur einer Hexe gehören und keiner wunderschönen Königin. Wenn du dich richtig anschauen würdest, dann würdest du das gut erkennen. Die dicke Warze auf der Spitze ist dir wohl noch nicht aufgefallen?“
„Das ist doch wohl die Höhe“, braust die als Hexe bezeichnete auf und rüttelt grob am Spiegel, dass dem Hören und Sehen vergehen.
„Oh oh, ein wenig cholerisch war sie schon immer“, denkt der Spiegel, „das war wohl etwas zu viel des Guten.“ Verzweifelt versucht er die Königin zu beschwichtigen. Die ließ aber nicht von ihm ab. „So halte doch ein“, schreit er, während sich sein Glas langsam aus dem Rahmen löst.
„Das hast du nun davon, du unmögliches Ding. Mich anzulügen ist eine Todsünde!“, lacht die Königin schallend und schüttelt den Spiegel noch mehr. Es klappert verdächtig laut.
„Oh nein, oh nein. Mein schönes Glas. Der wunderschöne Rahmen“, jammert der Spiegel herzerweichend und bettelt um Gnade. Doch es ist zu spät, da half kein Jammern und Heulen. Das Glas löst sich gänzlich, fällt zu Boden und springt in tausend Stücke.
Erschrocken schaut sich die Königin das Dilemma an. „Siehst du, das ist deine gerechte Strafe! Wenn du mir sagen würdest, was ich hören will, wäre das nicht passiert. Ich bin und bleibe die schönste Frau im Reich! Schneewittchen ist nichts gegen mich, sie ist nur ein schaler Abschlag von mir. Keinesfalls ist sie schöner als ich“, knurrt sie ihn an. Sie kniet nieder und schaut sich die am Boden liegenden Scherben an. Doch was ist das? Sie sieht sich tausend Mal. Wie kann das sein? Sie schaut genauer, und wirklich. Jede einzelne Scherbe zeigt ihr Gesicht, ganz klar in voller Schönheit. Nun gut, die Warze kann man sich wegdenken. Sie erkennt sich kaum wieder. Wunderschön sieht sie aus. Am liebsten würde sie jede einzelne Scherbe aufheben und sie küssen.
Plötzlich erschallt ein lautes Gelächter. „Ha, ha, die hässliche Königin tausend Mal. Du denkst wohl, dadurch wirst du schöner? Nein, nein, ich glaub es nicht!“, dröhnt es aus den Scherben, dass sie über den Boden springen.
Die Königin springt auf und schaut sich um. Jedoch kann sie niemanden entdecken, bis sie die wackelnden Spiegelscherben bemerkt. „Hör auf, hör auf!“, schreit sie verzweifelt. Sie mag es nicht mehr hören. „Ich bin nicht hässlich!“
„Doch, das bist du und böse obendrein!“, widerspricht der Spiegel und grinst tausend Mal fies.
„Nein, ich bin nicht hässlich! Böse erst recht nicht! Du lügst wie gedruckt!“, nun weint die Königin sogar. Dicke Tränen kullern über ihr Gesicht und verschmieren die Schminke um die Augen und auf den Wangen. Sie sieht schon aus wie eine Eule. Wahre Bäche von Tränen fließen hinab und hinterlassen fürchterliche Spuren. Am Kinn tropfen sie sogar hinab auf der Königin seidenes Gewand. Auch dort bleiben schlimme Spuren zurück.
„Warum bist du nur so böse mit mir“, jammert sie herzerweichend. „Schau nun mein Gesicht an und mein seidenes Kleid. Alles ramponiert. Nun kann ich alles wegwerfen. Der gute Stoff, er war so teuer.“ Sie rauft sich die Haare. Die schöne Frisur, für die ihre Zofe zwei Stunden benötigt hat, ist nun auch dahin. Lange zottelige Strähnen stehen vom Kopf ab.
„Ach, hab dich nicht so. Mit anderen bist du sehr viel schlimmer, aber wenn dir jemand die Wahrheit sagst, greinst du los wie eine alte Heulsuse und vergießt Krokodilstränen. Austeilen kannst du gut, aber nicht einstecken“, schlägt der Spiegel wortgewandt auf die Königin ein, die wie ein Häufchen Unglück am Boden sitzt und die Scherben anstarrt. „Außerdem“, seine tausend Scherben lächeln alle hinterlistig. „Du hast wohl noch nicht bemerkt, was für ein Spiegel ich bin? Ich bin ganz besonders.“
Die Königin schaut überrascht auf. „Du hast ein Geheimnis?“, will sie wissen. „Das wusste ich gar nicht“, tat sie neugierig.
„Aber immer“, erwidert der Spiegel zuckersüß lächelnd.
„Verrat es mir, verrat es mir“, juchzt die Königin und springt auf.
„Ach, komm, sag nicht, du weißt es wirklich nicht“, fordert der Spiegel die Frau heraus.
„Ich weiß es doch nicht“, jammert diese nun noch mehr.
Der Spiegel überlegt. Soll er es der grässlichen Königin sagen, oder lieber nicht? Obwohl, was hat er schon zu verlieren? In tausend Scherben zersprungen war er schon, schlimmer konnte es nicht werden. „Na gut“, sagt er dann. „Aber nur, weil du es bist und du mich jeden Tag mit den gleichen Worten nervst.“
„Oh ja, bitte“, auf einmal wusste die Königin sogar das Zauberwort. Sie hüpft vor Neugier auf und ab. Wenn der Spiegel einen Kopf gehabt hätte, würde er ihn jetzt schütteln, aber so klappert er nur mit den Scherben.
„Gut, also hör genau zu!“, mahnt er die Königin. „Ich bin der Spiegel, der immer die Wahrheit sagt.“
Die Königin schaut erschrocken. „Wie, wirklich immer die Wahrheit?“ Ihr schwant plötzlich Böses. Sie denkt an Schneewittchen und wie sie das Mädchen loswerden wollte.
„Ja, ich sage immer die Wahrheit“, besteht der Spiegel auf seiner Meinung, worauf die Königin noch mehr überlegte.
„Ich sage die Wahrheit über die Personen, die einen ganz bösen, hinterlistigen Charakter haben. Ich zeige nicht nur die äußere Hülle, sondern das, was in dir steckt.“ Der Spiegel schaut die Königin an, der langsam ein Licht aufging. „Nur deine Hülle ist schön, aber in dir drin, das ist ganz böse. Du dagegen siehst nur, was du sehen willst", erklärt er, als die Königin kein Wort darauf sagte. Sie hatte wohl verstanden, wollte es nur nicht wahrhaben.
„Dann ist Schneewittchen doch die Schönste im ganzen Land?“, fragt sie nun erschrocken.
„So ist es, du hast es erkannt“, erwidert der Spiegel und seine Scherben fügten sich wie von Geisterhand wieder zusammen zu einem Ganzen. Die Königin indessen versprach, nie wieder zu fragen, wer die Schönste im Lande sei.
© Milly B. / 25.04.2021