Es war einmal ein kleines Mädchen namens Laura. Das Kind lebte in einem kleinen Dorf, das nannte sich Zuckerfeld. Zuckerfeld war ein ganz gewöhnliches Dorf, an dem es nichts Besonderes gab.
Allerdings gab es an Laura etwas Besonderes. Das Kind war dauernd voller Tatendrang und Ideen. Doch das war noch nicht alles. Laura hatte stets einen riesigen Appetit auf Marshmallows. Aber nicht auf ganz einfache, sondern auf rosafarbene. Nur diese mochte sie. Alle anderen ließ sie links liegen.
Laura liebte rosa Marshmallows. Sie waren so flauschig wie die Schäfchenwolken am Himmel und genau so süß. Nie konnte sie an ihnen vorübergehen, wenn sie mit ihrer Mutter den Dorfladen besuchte, um einzukaufen. Entdeckte sie die von ihr so sehr geliebten Süßigkeiten, war es um sie geschehen. Dann bettelte sie ihre Mutter so lange an, bis diese sich erbarmte und dem Kind den Wunsch nach Marshmallows erfüllte.
Eines Tages trug die Mutter Laura auf, die Oma zu besuchen. Die alte Dame wünschte ihr Enkelkind zu sehen. Laura bekam als Wegzehrung ein paar Marshmallows in die Hand gedrückt und schon konnte es losgehen. Da die Oma im selben Dorf wohnte, war es nicht sehr weit und Laura durfte allein gehen. Doch bis sie dort war, hatte sie bereits alles Zuckerwerk aufgegessen.
Auch die Oma wusste von Lauras Vorlieben und hatte immer genügend Marshmallows in ihrem Küchenschrank, wo sich die Enkelin nach Gutdünken bedienen konnte. Allerdings musste die Oma aufpassen, dass sich das Kind nicht zu viel davon in den Mund stopfte. Nicht nur einmal war es vorgekommen, dass Laura zu viel davon aß und Bauchschmerzen bekam. Dann war ihr Gejammer groß und die Oma hatte die Sorgen.
Laura mochte es auch, auf dem Dachboden der Oma zu stöbern. Und da ihre geliebte Großmutter nichts dagegen hatte, erlaubte sie ihr eines Tages wieder, den Dachboden heimzusuchen.
Beim Stöbern entdeckte Laura ein Buch, das ihr bisher noch nie aufgefallen war, obwohl sie schon so oft hier oben war. Es hieß „Die Marshmallow-Fee“. Neugierig geworden, zog Laura das Buch aus dem Regal. Sie machte es sich in einen der alten Sessel bequem und schlug das Buch auf. Dann begann sie zu lesen.
Schon die ersten Worte machten Laura stutzig. Das Buch handelte tatsächlich von Marshmallows, und sogar noch von rosafarbenen. Genau von denen, die sie so sehr liebte. Wie konnte das nur sein? Aufgeregt blätterte Laura um und las weiter:
Auf einer ganz geheimen Zuckerwiese nahe des Dorfes Zuckerfeld wuchsen viele Marshmallowbäume, die von einer Fee bewacht wurden.
Laura stutzte beim Namen des Dorfes, das genauso hieß wie das, in dem sie wohnte. Sie machte sich aber keine Gedanken darüber. Zu groß war ihre Neugier.
Die Wiese war so geheim, dass nur die Marshmallow-Fee davon wusste. Außer der Fee durfte niemand bestimmen, wer sich den Marshmallowbäumen nähern durfte. Die Bäume waren etwas ganz Besonderes, denn auf ihnen wuchsen nur rosafarbene Marshmallows. Die Marshmallow-Fee bewachte die Bäume mit Argusaugen, damit ihnen niemand zu nahe kam.
Obwohl die Marshmallow-Fee ein nur sehr zartes Wesen mit Flügeln aus Zuckerwatte war, konnte es keiner wagen, der Wiese ohne ihr Einverständnis zu nahe zu kommen. Das war nur erlaubt, wenn man einen magischen Schlüssel aus Zuckerguss mit Zitronensaft besaß. Den konnte nur die Fee aus geheimen Zutaten herstellen. Da die Fee die Zutaten und das Rezept für den Schlüssel genauso mit Argusaugen bewachte wie die Marshmallowbäume, war es bisher noch niemanden gelungen, das Rezept zu stehlen.
Eines Tages jedoch gelang es einem Mädchen. Die Fee war an diesem Tag unpässlich und so gelang es dem Kind, in die Schlüsselblume der Fee vorzudringen und das Rezept zu entwenden.
Vor Aufregung konnte die Kleine das Geheimnis nicht bei sich behalten. Das Mädchen vertraute sich seiner besten Freundin an.
„Du hast was?!“, schrie Lina ihre Freundin Klara an.
„Ich habe das Rezept für den Schlüssel zur Marshmallow-Wiese von der Fee gestohlen und dazu auch die Karte mit einer Wegbeschreibung“, gab Klara zu.
„Du bist verrückt, wenn das rauskommt“, jammerte Lina.
„Egal, du bist ein Hasenfuß“, erwiderte Klara. „Du wolltest doch auch schon immer auf die Marshmallow-Wiese und dir den Bauch mit rosa Marshmallows vollschlagen.“
„Ja, schon, aber…“
„Papperlapp“, unterbrach Klara die Freundin. „Komm lieber mit.“
Lina gab sich geschlagen.
In der Küche machten sich die Mädchen an die Arbeit. Gemeinsam werkelten sie bis in die Abendstunden. Sie experimentierten lange, bis sie die genaue Menge an Zitronensaft herausgefunden hatten, der den perfekten Schlüssel ausmachte.
In Klaras Küche sah es aus wie bei Hempels unterm Sofa, doch das machte ihr nichts aus. Sie hörte zwar schon das Gezeter ihrer Mutter, aber das war ihr gerade egal. Der Schlüssel zum Zugang der Wiese war wichtiger als eine penibel aufgeräumte Küche.
Am nächsten Tag trafen sich die Mädchen wieder, jedes ausgerüstet mit einem Rucksack voller Proviant. Bis zur Marshmallow-Wiese war es zwar nicht weit, aber genügend Essen und Trinken dabei zu haben, konnte nicht schaden. Klara hatte natürlich auch die Karte mit der Wegbeschreibung eingepackt.
Schnurstracks machten sich die Beiden auf den Weg. Sie folgten der Wegbeschreibung und kamen schon bald an einen Fluss, in dem Schokoladenpuddingsuppe floss. Sie kosteten davon und befanden die Suppe als lecker.
Aber erst einmal jedoch mussten sie den Fluss überqueren. Nur wie? Weit und breit war keine Brücke zu sehen. Als sie auf der Wegbeschreibung nachsahen, entdeckten sie eine Möglichkeit dazu. Sie wandten sich dorthin.
Zuerst liefen sie über eine Wiese, auf der winzige Blumen wuchsen. Als sie genauer nachschauten, erkannten sie, die Blumen waren kleine Karamellbonbons, wovon sie sogleich naschten.
Dann kamen sie endlich zur Brücke und staunten nicht schlecht. Die Brücke war ganz und gar aus Schokokeksen und mit Pfefferminzblättchen verziert. Diesmal hielten sie sich nicht lange auf, denn schon von Weitem sahen sie auf der anderen Seite des Flusses das Tor zur Marshmallow-Wiese. Schnell überquerten die Mädchen die Brücke und strebten auf den Eingang zu.
Vor Staunen rissen sie ihre Münder auf wie Scheunentore. Die Tür zur Wiese war aus Lebkuchen, die mit rosa Zuckerguss zusammengeklebt wurden. Kleine bunte Liebesperlen verzierten es, gehalten wurden diese vom selben rosa Zuckerguss.
Klara kam als erste aus dem Staunen heraus. „Wollen wir nicht endlich den Schlüssel ausprobieren?“, motzte sie die Freundin an, die wie zur Salzsäule erstarrt, auf die bunten Liebesperlen schaute und sich genüsslich die Lippen leckte.
„Oh, natürlich“, fuhr Lina hoch und half Klara, den großen Schlüssel aus deren Rucksack hervorzuholen.
Vorsichtig steckte Klara den Schlüssel ins Schloss und siehe da, er bewegte sich. Es klickte und das Tor öffnete sich. „Es funktioniert“, jubelten die Kinder und schlüpften durch das Tor.
Empfangen wurden sie von einer Wiese. Am Himmel schien die Sonne, die wohl auch aus irgendeinem Zuckerguss bestand. Außerdem duftete es von überall her nach Zucker, Zimt und anderen Süßigkeiten. Riesige Marshmallow-Bäume standen auf der Wiese. Daran hingen, oh welch ein Wunder, rosafarbene Marshmallows.
Von den Marshmallows kosteten die Mädchen als erstes. Sie schmeckten herrlich, zuckersüß und flauschig zergingen sie auf der Zunge. Stück für Stück stopften sich die Kinder das Zuckerwerk in den Mund, bis sie nicht mehr konnten und sich den Bauch hielten. Ein wenig übel wurde es ihnen auch schon.
Dann gingen sie weiter. Bis sie an einen Teich kamen, in dem sich Himbeerbrause befand. Damit stillten sie ihren Durst. Aber dann sahen sie einen Lakritzbaum. Dem konnten sie nicht widerstehen. Ein Lakritz nach dem anderen landete in ihrem Mund. Sogar an den Zuckerwattewolken knabberten sie und ein paar saure Gummischlangen vom Busch nebenan landeten auch noch in ihrem Mund.
Während sie aßen, bemerkten sie nicht, wie sich ihre Umgebung veränderte. Die Farben wurden blasser, fast durchsichtig. Das Zuckerwerk zerfiel, Zucker bröselte zu Boden, die Lakritze fiel vom Baum, die Zuckerwattewolken lösten sich auf. Sogar die Sonne strahlte nicht mehr, blass wie der Mond schaute sie traurig vom Himmel.
Auf einmal schraken die Mädchen auf, als sie hinter sich die Marshmallow-Fee, die die Wiese bewachte, schimpfen hörten. „Das kann doch nicht sein! Was ist hier los?“
Die Mädchen duckten sich hinter den Bonbonbusch, den sie eben geplündert hatte, aber die Fee hatte sie bereits entdeckt.
„Was tut ihr da?“, wetterte sie wie ein Rohrspatz. „Kommt sofort heraus!“
Wie zwei begossene Pudel schlichen Klara und Lina zur Fee, die ihnen erbost entgegenschaute. „Was habt ihr getan? Seht ihr nicht, was ihr angestellt habt?“, zeterte die Fee aufgebracht.
„Wir, wir…“, begann Klara zu stottern.
„Ach, was! Hör auf, ich sehe es auch selber“, schimpfte die Fee weiter. „Wie seid ihr eigentlich an den Schlüssel gekommen?“ Klara sah es als angebracht, ihre Untat zu gestehen. Kopfschüttelnd betrachtete die Fee die beiden Übeltäter.
„Ihr wisst nicht, was ihr angestellt habt?“, wollte sie dann wissen. Die Kinder schüttelten den Kopf.
„Dann will ich es euch erklären“, sagte die Fee und begann: „Die Wiese hier lebt von der Fantasie und der Freude der Kinder des Dorfes, aus dem ihr kommt. Ihr aber habt hier alles aufgegessen, und da die Fabrik, in der die Süßigkeiten hergestellt wurden, geschlossen wurde, war es um so wichtiger, die kindliche Fantasie aufrecht zu erhalten und somit die Wiese. Die Energie geht zu Ende.“ Traurig sah die Marshmallow-Fee die Mädchen an. „Das ist das Ende der Wiese“, seufzte sie herzerweichend.
„Und nun?“, wagte sich Lina als erste hervor. „Können wir es wieder gut machen, die Wiese wieder beleben?“
Die Fee erklärte es ihnen und entließ sie gnädig. Erleichtert, aber auch besorgt, gingen Klara und Lina zurück nach Hause.
Am nächsten Wochenende veranstalteten Klara und Lina im Dorf ein großes Fest. Es wurde gebacken und all mögliches Zuckerwerk hergestellt. Jeder konnte seiner Fantasie freien Lauf lassen. Unter den Händen der Freundinnen entstand ein großer Marshmallow-Baum, nur aus Zucker. Angespornt von den beiden Mädchen, wollte keines der Kinder im Dorf nachstehen und es entstanden unendlich viele fantasievolle Zuckerwerke. Damit wurde die Wiese wiedererweckt und der Zorn der Marshmallow-Fee beschwichtigt.
Klara und Lina hingegen waren froh, noch einmal gut davon gekommen zu sein und schworen sich, nie wieder ungefragt und ohne Erlaubnis, auf die Marshmallow-Wiese zu gehen und die Fee dort zu verärgern.
„Ach, hier bist du ja noch, mein Kind“, Laura schrak hoch, als sie die Stimme ihrer Großmutter hörte. „Du bist ja eingeschlafen“, sagte Oma noch. Laura saß zusammengesunken auf einem Sessel, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß.
„Oma, Oma, du wirst es kaum glauben“, Laura sprang auf und wedelte mit dem Buch vor der Nase ihrer Großmutter herum.
„Du wirst es mir bestimmt gleich sagen“, wehrte die Oma lachend ab.
„Hier, hier, schau mal… die beiden Mädchen in diesem Buch mögen genau so rosa Marshmallows wie ich, ist das nicht wunderbar?“
Die Oma nahm Laura das Buch aus der Hand und las den Titel. „Süße Rezepte aus alten Zeiten“ stand darauf. „Na, das ist nur ein Backbuch, nichts ungewöhnliches“, erwiderte die Oma.
„Aber, aber…“, stotterte Laura. „Da stand vorhin etwas anderes darauf.“
„Und was?“
„Die Marshmallow-Fee“, erklärte Laura mit ernstem Gesicht.
„Das kann nicht sein, so ein Buch gibt es hier nicht“, erwiderte die Oma. „Das hast du bestimmt geträumt, du hast nämlich geschlafen, als ich dich hier fand.“ Sie wandte sich ab und ging zur Treppe. „Nun komm, du warst lange genug hier oben, ich habe Kakao gemacht und ein paar Marshmallows habe ich auch noch für dich.“
„Rosa Marshmallows?“, wollte Laura wissen.
„Ja, rosa Marshmallows, extra für dich“, sagte die Großmutter und ging die Treppe hinab. Laura folgte ihr, noch ein wenig durcheinander, aber voller Vorfreude auf die von ihr geliebten rosa Marshmallows.
© Milly B./ 26.03.2024