„Louis, hast du die Werbung für den Nachtflohmarkt gesehen? Da soll demnächst wieder einer auf dem Parkplatz am Baumarkt im Nachbarort sein. Ich möchte gerne hingehen. Kommst du mit? Alleine mag ich nicht“, fragte Carlotta ihren Mann, der eben von der Arbeit nach Hause gekommen war. Louis zog sich die Schuhe aus, hängte seine Jacke an die Garderobe. Dabei lachte er laut.
„Ja, die Plakate sind an jeder Ecke, jedem Mast, jeder Ampel angebracht. Es war nicht zu übersehen.“ Er wusste schon, wenn Carlotta so kam, wollte sie wieder einmal auf den Flohmarkt gehen. Auf solch einem hatten sie sich vor vielen Jahren kennengelernt. Carlotta hatte dort einen kleinen Stand und versuchte, ein paar nicht mehr gebrauchte Habseligkeiten an den Mann oder die Frau zu bringen. Leider ohne großen Erfolg. Die Leute schauten nur kurz im Vorübergehen auf ihr Angebot oder gingen ohne großes Interesse vorbei.
Louis war damals auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für seine Mutter, die sich mehr über etwas Altes freute als über neumodische Dinge. So war er auf einen Flohmarkt auf die Suche gegangen. Bei Carlotta wurde er fündig. Die hatte eine alte Vase im Angebot, von ihrer Oma, wie sie sagte. Die Vase wäre rein gar nicht ihr Geschmack und ehe sie diese einfach wegwarf, wollte sie die auf dem Flohmarkt verkaufen. Als Studentin wäre ihr jeder Cent recht.
Nach einem kurzen Gespräch und ohne großes Handeln wurden sie sich einig. Die Vase wechselte für zehn Euro den Besitzer. Louis fand zwar, Carlotta verlangte zu viel. Aber er wusste aus eigener Erfahrung, wie knapp bemessen das Stipendium eines Studenten war.
Aus dem anfänglichen Verkaufsgespräch wurde mehr. Louis verstrickte die Studentin in ein längeres Gespräch, bei dem er diese intensiv betrachtete. Das entging Carlotta nicht. Keck wie sie war, fragte sie Louis, ob sie etwas im Gesicht hätte, über das er sich lustig mache.
„Oh, nein. Entschuldige“, erwiderte Louis, entsetzt darüber, ertappt worden zu sein. „Es ist nur so…“, er stockte und wurde prompt rot. Das wiederrum brachte Carlotta dazu, in lautes Gelächter auszubrechen.
„Lass uns doch einfach einen Kaffee trinken gehen“, nahm die taffe junge Frau einfach das Ruder in die Hand. „Der Trödelmarkt schließt gleich und ich muss noch abbauen. Danach können wir gehen“, sagte sie.
„Ich kann dir doch helfen“, bot Louis ihr an. Carlotta nahm die Hilfe gerne an.
So begann die ihr gemeinsamer Lebensweg.
Zusammen mit ihrem Mann schlenderte Carlotta am Wochenende über den Nachtflohmarkt. Der Platz vor dem Baumarkt wurde mit riesigen Scheinwerfern bestrahlt, sodass es hell genug war, um die Auslagen der Verkäufer begutachten zu können. Carlotta hatte bereits einiges entdeckt, das ihr Interesse geweckt hatte. Aber noch hatte sie keinen Kauf getätigt. Sie überlegte lange, ehe sie etwas kaufte und drehte jeden Cent dreimal um. Ein Relikt aus Studentenzeiten, wie sie immer sagte.
Wieder einmal blieb sie an einem Stand stehen. Eine Frau saß dahinter auf einem Hocker und spielte auf ihrem Handy. Die Auslage war nicht groß. Doch auf dem nur knapp bemessenen Platz stapelten sich die Gegenstände. Es herrschte ein kaum zu überblickendes Wirrwarr.
Aus Erfahrung wusste Carlotta, meist fand man an solchen Ständen wahre Schätze. So machte sie sich daran, den Haufen zu durchwühlen. Die Verkäuferin, eine Frau mittleren Alters in sehr eigenartiger Aufmachung und mit einer roten Lockenmähne, machte keine Anstalten, sie nach ihrem Begehr zu fragen oder ihr zur Hilfe zu eilen. Im Gegenteil, sie starrte weiter auf ihr Handy, als ginge sie alles nichts an. Carlotta fand Plüschtiere, Kaffeetassen und Teller, auch Teekannen waren dabei und allerlei Kleinzeug, das sie für unnütz befand. Sie entdeckte Schals, kunterbunte Kopftücher, Handschuhe und Ledergürtel. Alles sah nicht gerade neu aus, aber es war sauber und gepflegt. Sie begutachtete eben ein Paar Handschuhe, als aus einem ein Amulett herausfiel.
„Oh, schau dir das mal an“, sagte Carlotta und hielt Louis das Amulett entgegen. „Das ist ja hübsch.“ Das Amulett war aus goldfarbenem Metall und in der Mitte prangte ein hellblauer Stein. Am oberen Ende war eine Öse angebracht, wohl, um es an einer Kette als Anhänger tragen zu können.
„Ja, wirklich und sehr eigenartig“, erwiderte der Göttergatte und grinste. Er wusste, seine Frau hatte Blut geleckt.
„Was soll das kosten?“, fragte Carlotta die Verkäuferin im gleichen Atemzug.
Die Frau hinter dem Verkaufstisch erhob sich schwerfällig. Erst jetzt sah Carlotta wie alt diese war. Sie ging gebeugt und tiefe Falten zierten ihr Gesicht.
„Zwanzig Euro“, kam es krächzend von ihr.
„Zu teuer für das alte Ding“, erwiderte Carlotta. „Ich gebe dir zehn.“
„Ach, komm schon. Für zehn gebe ich es keinesfalls her! Neunzehn!“, konterte die Alte. Carlotta fühlte sich beim Feilschen in ihrem Element und die Verkäuferin ließ sich gerne darauf ein.
So ging es einige Zeit hin und her, bis sich die Frauen auf fünfzehn Euro einigten. Das war Carlotta zwar immer noch zu viel, aber ihr gefiel das Schmuckstück und so wechselte erst das Geld, dann das Amulett den Besitzer. Danach hatte Carlotta das Interesse am Flohmarkt verloren, sie wollte nach Hause. Louis war das nur recht.
Zu Hause begutachtete Carlotta das neu erworbene Stück im Licht genauer. „Sehr schön“, murmelte sie leise. Vom blauen Stein in der Mitte ging ein eigenartiges Schimmern aus. Es schien, als würde er Energie versprühen, die auf ihrer Haut kribbelte wie Ameisenfüße. Auch die Fassung war gut gearbeitet und verfügte über ein sehr graziles und fein gearbeitetes Muster. Die Öse am oberen Ende schien später angebracht worden zu sein. Das aber fiel erst beim genaueren Hinsehen auf.
Carlotta suchte nach einer Prägung, denn sie hegte die Hoffnung, etwas Wertvolles erworben zu haben. Doch sie fand nichts, aber das hatte nichts zu sagen. „Ich werde morgen mal zum Juwelier in die Stadt fahren. Vielleicht kann der mehr über den Wert herausfinden“, meinte Carlotta zu Louis.
„Mach das“, erwiderte dieser. Louis saß inzwischen vor dem Fernseher und schaute Nachrichten. Carlottas Fund interessierte ihn weniger. Er wusste, sie mochte alten Schmuck und gab meist ihrem Drängen nach, wenn sie etwas gefunden hatte, das ihr gefiel. Sie kaufte sich selten etwas, aber wenn, dann gab sie gerne auch etwas mehr aus, außer, sie kaufte auf dem Flohmarkt. Dort feilschte sie, als wäre sie auf einem türkischen Basar.
Carlotta hatte sich inzwischen ein Tuch geholt und begann das Amulett zu putzen. Die Fassung glänzte schnell, es schimmerte noch goldener als auf dem Flohmarkt. Sie ging sogar mit einem Dentalbürstchen in die Ecken, um jeden noch so winzigen Schmutzfleck zu entfernen. Als das ihren Ansprüchen entsprach, widmete sie sich dem Stein. Der sah zwar sauber aus, aber wer weiß, wer vorher alles seine Hände daran hatte. Da wollte Carlotta kein Risiko eingehen.
Penibel rieb sie am Stein, bis er für sie sauber genug war. Gedankenverloren schaute sie ihn an und strich mit dem Finger darüber. Sie bemerkte, er wurde warm und leuchtete noch stärker. Das Blau wurde intensiver. „Hm, komisch“, murmelte sie und rieb noch einmal darüber. Sie spürte, der Stein begann zu pulsieren, als wäre er lebendig. Sie meinte, einen Herzschlag zu spüren. „Dem muss ich auf den Grund gehen“, dachte sie sich und rieb weiter, als könne sie dem Stein damit sein Geheimnis entlocken. Es konnte nicht sein, dass ein totes Schmuckstück plötzlich so lebendig war. Auf einmal schoss ein gleißender Lichtschein heraus, alles um sie herum begann sich zu drehen. Entsetzt ließ Carlotta das Amulett fallen. Es landete auf dem Boden, wo sich sofort ein tiefes, dunkles Loch auftat, aus dem ein Strudel hervorkam. Carlotta geriet hinein. Sie versuchte noch, sich am Sofa festzuhalten, aber sie wurde mitgerissen, als wäre sie ein federleichter Fetzen Papier.
Erschrocken über das Geschehen sprang Louis aus seinem Sessel und wollte noch nach seiner Frau fassen. Doch der Strudel hatte sie bereits zu tief in das Loch hineingezogen und verschlungen. Er hörte sie noch nach ihm rufen. Mit viel Getöse schloss sich der Abgrund und Carlotta war verschwunden. Louis blieb verwirrt zurück und wusste nicht, was er tun sollte. Er bemerkte das Amulett, das neben dem Couchtisch lag, der Stein funkelte und sprühte immer noch Funken. Louis wollte danach greifen, jedoch löste es sich wie von Geisterhand in Luft auf.
Hart prallte Carlotta auf den Boden, ihr Kopf schlug an einem Baumstamm. Benommen sank sie zurück ins Moos, das den Waldboden bedeckte. Ihr Kopf brummte wie ein Bienenschwarm, ihr wurde übel, dass sie sich beinahe übergeben musste. Jeder Knochen im Leib schmerzte. Vorsichtig bewegte sie Arme und Beine, aber nichts schien gebrochen zu sein. Erleichtert atmete sie auf. Als sie aufstehen wollte, torkelte sie erneut und beinahe wäre sie wieder zu Boden gegangen. So setzte sie sich lieber noch einmal, dieses Mal auf den Baumstamm, ehe sie erneut stürzen oder sich verletzen konnte.
Es dauerte einige Zeit, bis Carlotta einigermaßen wieder bei Sinnen war. Sie befand sich auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten. Kleine, wie Wattebäusche aussehende Wölkchen segelten am Himmel. Über den Blüten der Blumen schwirrten Insekten. Aber das interessierte Carlotta erst einmal nicht. Angestrengt überlegte sie, wo sie sich befinden könnte. „Das kann doch nicht sein. Ich war doch eben noch in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa und habe dieses komische Amulett geputzt“, sinnierte sie und betastete die Beule, die durch den Aufprall am Baumstamm entstanden war. Dabei sah sie sich um, konnte aber immer noch nicht erkennen, wo genau sie gelandet war. Die Gegend war ihr vollkommen fremd. Sie konnte sich auch nicht erinnern, jemals an diesem Ort gewesen zu sein.
„Ich muss herausfinden, wo ich bin“, sagte sie zu sich selbst und stand auf. Ein wenig torkelte sie noch, als hätte sie zu viel Alkohol genossen. Doch nachdem sie einige Schritte gegangen war, beruhigte sich ihr Kreislauf.
Suchend sah sich Carlotta um. Nirgends konnte sie einen Weg erkennen, der durch den Wald oder auch hinaus ging. Daher lief sie auf gut Glück los. Am Rande der Lichtung angekommen, sah sie sich erneut um. Wohin nur sollte sie sich wenden? Sie wusste es nicht. Auch hier war nirgendwo ein Pfad zu entdecken, von Menschen ganz zu schweigen, die sie nach dem Weg fragen konnte. Es war still, ausgenommen von den Vögeln, die ihr Morgenkonzert zum Besten gaben. Carlotta nahm an, es war morgens, denn die Sonne stand tief und Tautropfen perlten auf Gräsern und den Blättern der Sträucher. Wie dies sein konnte, war ihr ein Rätsel. Es war eben noch spät am Abend, sie saß mit ihrem Mann im Wohnzimmer und sie putzte dieses eigenartige Amulett. Sie fuhr hoch. Das Amulett! Wo war es? Sie erinnerte sich, dass sie es in den Händen hielt, als das Eigenartige geschah und sie es vor Schreck fallen ließ. Carlotta ging zurück zu der Stelle, an der sie so unsanft gelandet war und blickte sich suchend um. Vom Amulett keine Spur, nur niedergedrücktes Gras, wo sie gelegen hatte.
„Das kann doch nicht sein!“, murrte sie ungehalten. „Das kann doch nicht einfach so verschwinden, genauso wenig, wie ich einfach so aus meinem Wohnzimmer plötzlich hier sein kann. Unmöglich. Ich träume doch nicht.“ Sie kniff sich in den Arm. Erschrocken schrie sie auf. Es schmerzte. Also konnte sie nicht träumen. Sie war hellwach. Carlotta griff sich an den Hals und entdeckte eine Kette. Halsketten trug sie nie, doch jetzt lag eine um ihren Hals und als Anhänger daran… das Amulett!
„Ich träume doch!“, sprach sie mit sich selbst und raufte sich verzweifelt die Haare.
„Nein, du träumst nicht“, hörte Carlotta plötzlich die Stimme einer alten Frau hinter sich. Erschrocken drehte sie sich um und sah die Verkäuferin, von der sie das Amulett erworben hatte. Diese trat eben hinter einem Busch hervor und kam auf Carlotta zu. Dieses Mal trug sie ein uralt erscheinendes Kostüm, Carlotta nahm an, es war ein Faschingskostüm, und auf dem Kopf eine Haube, die ihr Haar vollständig bedeckte.
„Ich bin verrückt! Wo ist das bunte Auto? Wo die Hab-Mich-Lieb-Jacke? Ich muss in die Irrenanstalt“, knurrte Carlotta und starrte die Alte an. „Wo kommst du denn auf einmal her?“
„Ich war schon immer hier. Ich wohne dort hinten“, sagte die Frau und trat auf Carlotta zu. Dabei zeigte sie mit einem Finger auf den Waldrand.
„Das kann nicht sein. Gestern Abend warst du noch auf dem Flohmarkt und hast mir dieses Ding hier verkauft.“ Sie zerrte an der Kette, um sie sich vom Hals zu reißen. Aber es gelang ihr nicht. Daher hielt sie ihrem Gegenüber das Amulett so entgegen.
„Ich weiß, was ich dir verkauft habe“, bekannte die Frau.
„Ach ja!“ Carlotta lachte lauthals. „Wieso bin ich plötzlich hier und nicht mehr zu Hause bei meinem Mann?“, fragte sie.
„Weil ich es so wollte“, tat die Alte geheimnisvoll.
„Weil ich es so wollte“, äffte Carlotta sie nach. „Ich glaub, ich spinne. Hier kommt so eine eigenartige irre Alte und meint, sie wollte es so. Dass ich nicht lache.“
„Ach komm schon, ich kann dir alles erklären“, erwiderte die Frau und griff nach Carlottas Arm. „Alles hat seinen Sinn, auch dein Hiersein.“ Sie redete gütig auf Carlotta ein, die sich nach einer Weile wie gewollt, beruhigte.
„Wo bin ich eigentlich“, fragte Carlotta, als sie der Frau folgte.
Die lief vor hier einen engen Pfad entlang, der durch den Wald führte. „Im Wald“, kam nur als Antwort.
„Das sehe ich“, nörgelte Carlotta. „Ich will es genauer wissen.“
„Das sage ich dir, wenn wir in meiner Hütte angekommen sind“, erwiderte ihre Begleitung.
„Hütte? Du hast hier eine Hütte? Mitten im Wald? Ist das denn erlaubt?“ Die Fragen purzelten wie Murmeln aus Carlottas Mund.
„Natürlich. Es ist mein Wald“, sagte die Frau.
„Deiner?!“ Carlotta riss vor Erstaunen die Augen auf.
„Ja, würde ich es sonst sagen. Nun komm, da hinten ist meine Hütte.“
Carlotta folgte der Frau mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. Noch immer wusste sie nicht, was sie erwartete. Doch die Neugier trieb sie dazu, nicht weiter darüber nachzudenken.
„Tritt ein“, lud die Alte sie ein, als sie deren Hütte erreicht hatten. Von außen sah diese recht ärmlich aus. Das Dach reichte fast bis zum Boden, der Flügel eines Fensterladens hing schief in den Angeln, Putz bröckelte von der Außenwand. Auch der Anstrich von Tür und Fensterläden hatte schon bessere Zeiten gesehen. Innen jedoch war die Hütte prunkvoll eingerichtet. Ganz anders als der äußere Schein es annehmen ließ. Das Mobiliar war gepflegt, Boden und Tisch sauber. Nirgends war ein Staubkörnchen zu entdecken. Carlotta war sehr penibel und erkannte sofort, wenn jemand in ihren Augen nicht sauber und ordentlich genug war. Hier in der Hütte fand sie auf den ersten Blick nichts zu beanstanden.
„Setz dich“, bot die alte Frau ihr einen Stuhl am blank gescheuerten Tisch in der Mitte des großen Raumes an.
Carlotta nahm Platz und schaute sich um. „Deine Hütte sieht von außen gar nicht so aus, als wäre sie komfortabel“, sagte sie zur Hausherrin. „Aber…“, sprach sie weiter, „willst du mir nicht endlich deinen Namen sagen.“
Ein Lachen kam aus Richtung des Herdes, der beinahe eine ganze Seite des Hauses einnahm. „Ich heiße Gabriella“, sagte die Frau. Nachdem sie ein paar getrocknete Kräuter in zwei Becher getan hatte, nahm sie heißes Wasser und goss dieses hinein. Sofort erfüllte der Duft von wilder Minze den Raum. Einen der Becher bekam Carlotta vorgesetzt.
„Hm, riecht sehr gut“, sagte sie und nahm vorsichtig einen Schluck. Der heiße Tee wärmte hervorragend von innen. Plötzlich spürte sie, wie kalt es ihr war.
Gabriella legte ihr ein Tuch um die Schultern und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Neugierig schaute sie ihr Gegenüber an.
„Warum schaust du mich so an?“, fragte Carlotta.
„Ich muss sehen, wen ich mir hier ins Haus geholt habe“, erwiderte Gabriella und lächelte.
„Nun solltest du endlich die Karten auf den Tisch legen und mir sagen, warum ich hier bin und wie ich hierhergekommen bin“, forderte Carlotta, der die Sache inzwischen zu bunt wurde.
„Du erinnerst dich, dass du bei mir das Amulett gekauft hast“, begann Gabriella. Carlotta nickte, worauf Gabriella weitersprach. „Das Amulett brachte dich hierher und es ist kein Zufall, dass es in deine Hände geriet.“
„Was?“, Carlotta fuhr hoch. „Wie soll das gehen?“
„Du weißt es nicht?“, fragte Gabriella.
„Nein… nun lass mich nicht dumm sterben. Raus mit der Sprache!“
„Das Amulett ermöglicht eine Zeitreise in die Vergangenheit, aber auch in die Zukunft“, klärte Gabriella sie auf.
„Du spinnst ja! Nicht ich, sondern du gehörst in die Klapsmühle“, meinte Carlotta lachend. „Zeitreisen! Das ist doch alles nur Humbug und Hirngespinste. So etwas gibt es nur im Märchen.“
Gabriella wusste zwar nicht, was eine Klapsmühle war. Sie ging diesem, in ihren Augen sonderlich komischen Wort aber nicht auf den Grund, sondern sprach einfach weiter. „Nein, ganz und gar nicht. Du bist zu mir in die Vergangenheit gereist, nachdem ich zuvor zu dir in meine Zukunft reiste, um dich zu mir zu holen.“
Carlotta schüttelte verständnislos den Kopf. „Nie und nimmer!“, beharrte sie auf ihrer Meinung.
„Was denkst du, in welchem Jahr wir uns befinden?“, fragte Gabriella.
„2023“, antwortete Carlotta und zog ihr Handy aus ihrer Hosentasche. Verdutzt schaute sie auf das Display, auf dem sich nichts regte. „Ist wohl ausgegangen“, murmelte sie und wollte es neu starten. Aber wieder tat sich nichts. „Das gibt es doch nicht. Gestern Abend funktionierte es doch noch und der Akku war auch voll.“
„Siehst du… dieses Ding da kann nicht funktionieren. In meiner Zeit gibt es das noch nicht und alles, was aus der Zukunft mitgebracht wurde, geht nicht. Ich habe es bereits ausprobiert.“ Sie ging zu einem Regal und nahm dort etwas herunter. „Hier…“, sagte sie und legte Carlotta ein weiteres Handy hin. „Das habe ich mal mitgebracht, als ich auf der Suche nach dir war. Ich fand es auf einer Parkbank und war mächtig erschrocken, als es plötzlich zu klingeln anfing. Ich hielt es für Hexenwerk. Aber als ich jemanden sah, der sich so etwas ans Ohr hielt und mit jemanden redete, den ich nicht sehen konnte, dachte ich, es könnte mir vielleicht hilfreich sein. Also nahm ich es mit. Leider erlebte ich eine Enttäuschung. Dieses Ding war aus und nichts ging mehr. Genau wie deines hier. Doch jedes Mal, wenn ich in deine Zeit reiste, funktionierte es wieder. Ich wusste nicht, dass es über einen Akku verfügt und man diesen laden muss. Leider war der irgendwann leer, seitdem ist lässt es sich gar nicht mehr anschalten. Strom wie ihr in der Zukunft haben wir leider noch keinen. Zum Glück geschah das erst, nachdem ich dich gefunden und dir das Amulett aufgeschwatzt hatte.“ Gabriella sah Carlotta an, deren Augen bei ihren Worten immer größer wurden. „Nun, was meinst du, in welchem Jahr wir sind?“, fragte Gabriella noch einmal.
„2023“, erwiderte Carlotta erneut.
„Nein, ganz falsch. Wir sind in Anno 1023“, ließ Gabriella die Bombe platzen.
„Was!?“, schrie Carlotta auf. „Das kann nicht sein!“
„Doch, ich schwöre, so wahr mir Gott helfe!“, schwor Gabriella.
„Das gibt es doch nicht… wir komme ich hierher und was soll ich hier?“ Carlotta blickte die Hausherrin an und fragte weiter. „Und wer, zum Teufel nochmal, bist du?!“
Gabriella grinste. „Ich bin eine deiner Vorfahrinnen und du bist hier, um mich zu erlösen.“
„Und…“, drängte Carlotta weiter.
„Hergekommen bist du durch das Amulett. Das ist eine Art Tor, durch das man in eine andere Zeit reisen kann.“
„Ich verstehe es immer noch nicht“, Carlotta war genervt. Zeitreisen, Tore, durch die man in andere Zeiten springen konnte, egal wohin, Amulette, die dies ermöglichten. „Wie kamst du in meine Zeit?“, wollte sie wissen. Gabriella zog daraufhin ein weiteres Amulett aus ihren Ausschnitt, das genauso aussah, wie Carlotta ihres. „Damit“, sagte Gabriella nur.
„Du behauptest also, du wärst mit diesem Anhänger in die Zukunft gereist, so wie ich damit in die Vergangenheit kam.“
„Das behaupte ich nicht nur, es ist so, wie du es sagst“, erwiderte Gabriella.
„Und warum bin ich hier?“, fragte Carlotta weiter.
„Wie ich schon sagte, bin ich eine deiner Vorfahrinnen und du bist die Erbin meiner Gabe, die ich leider Zeit meines Lebens nicht benutzen konnte. Allerdings liegen viele Generationen zwischen uns, da die Gabe durch mich nicht weitergereicht wurde. Ein Fluch war daran schuld. Aber nun ist der Fluch gebrochen und du bist die Nächste in der Generation, die die Gabe erbt.“ Sie blickte Carlotta an. „Ich nehme an, du hast am gleichen Tag wie ich Geburtstag, nur 1000 Jahre später“, fragte sie und nannte ein Datum. Carlotta nickte nur erstaunt.
„Gabe? Fluch? Wer glaubt denn an so was?“, fragte sie dann.
„Ich wurde verflucht von meiner Mutter, von der ich die Gabe erhalten hatte“, erklärte Gabriella.
„Wie konnte deine Mutter dich verfluchen?“
„Sie war eine große, mächtige Hexe“, entgegnete Gabriella. „Sie konnte alles, auch schwarze Magie. Ich wollte aber diese schwarze Magie nicht ausüben, sie war mir zuwider. Ich wollte den Menschen lieber nur Gutes tun und nichts Böses. Daher verfluchte mich meine Mutter, als Strafe. Wie ich sie deswegen hasse! Ich solle 1000 Jahre warten und meine Nachfahrin finden. Dann wäre ich erlöst und meine Nachfahrin würde fortan die Magie, die mir zustand, erben. Auf meine Frage, wie ich dich finden solle, sagte sie nur, du wärst auf den Tag genau 1000 Jahre jünger als ich.“
„Du spinnst“, sagte Carlotta nur und schüttelte den Kopf.
„Komm mit. Ich zeige es dir“, sagte Gabriella und führte Carlotta in einen Nebenraum. Dort war nur ein weiterer großer Tisch, auf dem abgedeckt etwas stand. Gabriella zündete einige Kerzen an und zog danach das Tuch herunter. Zum Vorschein kam eine gläserne Kugel. Die Frau setzte sich an den Tisch und gebot Carlotta, es ihr gleich zu tun. Als Carlotta saß, nahm Gabriella das Tuch und rieb über die Kugel.
Anfangs geschah nichts, aber dann begann sie zu flimmern. Wenig später konnte Carlotta ein Frauengesicht darin erkennen.
„Du bist also Carlotta“, sagte die Frau zu ihr.
Erschrocken sprang diese auf.
„Mutter, das ist Carlotta, meine Nachfahrin“, erklärte Gabriella. „Die 1000 Jahre sind vergangen, ich habe meine Nachfahrin gefunden. Nun ist dein Fluch gebrochen und Carlotta ist von nun an eine Hexe mit weißer Magie…“, sie blickte ernst in die Kugel. „Du hältst doch dein Versprechen!“ Als die Frau in der Kugel nicht sofort antwortete, rief sie: „Mutter! Du hast es versprochen!“
„Ja, ja“, wehrte Gabriellas Mutter ab. „Auch Hexen mit schwarzer Magie halten ihre Versprechen. Du bist jetzt frei und kannst gehen, wohin du willst.“
„Und Carlotta? Sie wird nicht hierbleiben wollen. Sie kommt aus der Zukunft, 1000 Jahre nach uns. Niemals wird sie bleiben wollen!“
„Carlotta!“, rief die Frau in der Kugel. Und nachdem die Gerufene nicht reagierte, noch einmal fordernder: „Carlotta!“
Erst jetzt reagierte diese. „Was willst du?“
„Das frage ich dich“, erwiderte Gabriellas Mutter.
„Auf keinen Fall werde ich hierbleiben. Hier gibt es weder Handy, noch Internet. Ich habe eine Arbeit, mit der ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Außerdem wird mich mein Ehemann suchen. Er wird außer sich sein vor Sorge.“
„Du bist verheiratet?!“
„Natürlich“, sagte Carlotta. „Und wir werden Eltern.“
Die Frau in der Kugel lachte. „Tochter, du bist besser, als ich annahm. Sie wird die Reihe der Hexen sogar noch fortsetzen. Wie schön…“
„Und wenn ich das gar nicht will“, begehrte Carlotta auf.
„Dann wird Gabriella weitere 1000 Jahre verflucht sein und du bist schuld.“
Carlotta blickte Gabriella an, die mit großen, ängstlich aufgerissenen Augen zurückschaute. Ihre Augen schienen sagen zu wollen: „Bitte, tu mir das nicht an.“ Carlotta musste nicht lange überlegen. Wenn all das der Wahrheit entsprach, verharrte die arme Gabriella bereits weit über 1000 Jahre auf Erden und kam nicht zur Ruhe. „Gut. Ihr habt mich überredet“, sagte Carlotta entschlossen, „was muss ich tun?“ Sie setzte sich zurück an den Tisch, sprang aber sogleich wieder auf. Ihr brannte etwas auf der Zunge, was sie sofort loswerden musste. „Schwarze Magie mache ich aber nicht. Lieber bin ich 1000 Jahre verflucht wie Gabriella, aber keine schwarze Magie.“
„Nein, nein, das musst du auch nicht“, wurde sie von Gabriellas Mutter beschwichtigt. „Ich habe es versprochen und ich werde es halten.“
„Gut… was muss ich tun?“, fragte Carlotta erneut.
„Gabriella wird dir alles lernen, was du brauchst. Danach kannst du zurück in deine Zeit“, erklärte die Frau in der Kugel. „Unsere Wege trennen uns jetzt. Lebt wohl und habt eine schöne Zeit miteinander…“, sagte sie noch. In der Kugel flimmerte es, sie wurde schwarz und die Frau war verschwunden.
Wie gebannt starrte Carlotta die Kugel an. „Das gibt es nicht“, murmelte sie immer wieder und wie in Trance.
Gabriella ließ sie einige Zeit allein, so lange, bis sie sich beruhigt hatte und wieder ansprechbar war. „Komm, die Zeit des Lernens beginnt“, sagte sie leise zu Carlotta, die sich später zur ihr an den Tisch setzte und sie fragend ansah. Und Carlotta lernte, lernte sehr viel. Nachdem etwa sieben Monate vergangen waren, brachte sie mit Gabriellas Hilfe ein Mädchen zur Welt. Sie nannte sie Lucrezia, wie Gabriellas Mutter. Die Kleine wuchs und gedieh und wurde zum Sonnenschein der beiden Frauen. Zu Carlottas Glück fehlte eigentlich nur noch Louis, der Vater ihres Kindes und ihr Ehemann. Aber das Lernen hielt sie davon ab, zu viel Trübsal zu blasen. So verging die Zeit wie im Fluge und nach etwa drei Jahren eröffnete Gabriella ihr, der Augenblick des Abschieds wäre gekommen.
„Aber…“, Carlotta schluchzte. „Ich weiß noch längst nicht alles.“
„Doch“, erwiderte Gabriella. „Mehr kann ich dir nicht beibringen. Alles Weitere musst du im Laufe der Zeit durch eigene Erfahrung erlernen. Wenn deine Tochter alt genug ist, gib es an sie weiter… so wird das Band unserer Hexenfamilie bis in alle Ewigkeit reichen. Sei wachsam, lerne, hilf, wo Hilfe benötigt wird… gebe weiter. Aber tue niemals einem Menschen etwas Böses. Wir sind gute Hexen.“ Carlotta versprach es hoch und heilig.
Dann kramte Gabriella in ihrer Tasche und zog das Amulett heraus, das sie Carlotta abgenommen hatte, nachdem ihre Mutter auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. „Hier… dein Weg in die Zukunft.“
„Sehen wir uns wieder?“, fragte Carlotta, worauf Gabriella verneinend mit dem Kopf schüttelte.
„Unser gemeinsamer Weg ist zu Ende. Ab jetzt musst du allein weitergehen.“
„Wo muss ich hin?“, wollte Carlotta wissen.
„Geh zur Lichtung, da, wo du angekommen bist. Leb wohl und geh immer den rechten Weg…“
„Leb wohl“, schniefte Carlotta und nahm ihre Lehrerin ein letztes Mal fest in die Arme. Sie drückte ihr einen Kuss auf die runzelige Wange. Dann machte sie sich mit bangem Herzen und ihrem kleinen Mädchen an der Hand auf den Weg zur Lichtung. Dabei hielt sie das Amulett fest in der Hand, damit sie es ja nicht verlor.
„Wo bin ich?“, fragte Carlotta sich, als sie wach wurde und sich erstaunt umsah. Sie erinnerte sich daran, dass sie die Lichtung im Wald betreten und den Stein am Amulett gerieben hatte. Wieder kam dieses bedrohliche Rauschen, der Strudel, danach wusste sie nichts mehr. Und plötzlich fand sie sich in ihrem Wohnzimmer wieder. Der Fernseher lief, ein Krimi wurde ausgestrahlt. Doch sie war allein mit ihrer Tochter. Auf dem Tisch allerdings stand eine halbvolle Flasche Bier, daneben ein Pizzakarton, leider leer, wie sie feststellen musste. Es roch nach Qualm. „Seit wann wird hier geraucht?“, dachte sie verwundert. Louis, ihr Gatte, rauchte nie.
Auf einmal ging die Tür auf. Louis kam herein. Er war nur mit Jogginghose und Unterhemd bekleidet. Das Haar stand wirr vom Kopf ab, er schien längere Zeit nicht geschlafen zu haben. Sein Gesicht wirkte grau und übermüdet. Erschrocken schrie er auf, als er Carlotta und ein fremdes Kind auf dem Sofa sitzen sah. Er rieb sich die Augen. „Ich träume nur“, murmelte er. „Carlotta ist weg und kommt nie wieder.“
„Louis, du träumst nicht“, rief Carlotta und sprang auf. „Ich bin es wirklich.“
„Das kann nicht sein“, knurrte Louis und sah genauer hin. War die Frau seine verlorene Carlotta und warum hatte sie ein Kind auf dem Schoß? „Carlotta ist weg… für immer, meinen Händen durch einen bösartigen Strudel entrissen. Ich konnte ihr nicht helfen.“ Louis begann zu schluchzen.
„Weine nicht“, versuchte Carlotta ihn zu beruhigen, „und glaube mir, ich bin deine verlorengegangene Frau. Der Strudel hat mich wieder zu dir geführt und mit mir unser Kind.“ Sie zeigte auf das kleine Mädchen, das verängstigt auf dem Sofa saß. „Das ist Lucrezia, deine Tochter“, stellte sie die Kleine vor.
Louis erinnerte sich, dass Carlotta schwanger war, als er sie verlor. „Wirklich?“, begann er zu stottern.
„Ich bin es wirklich“, erklärte Carlotta und zog das Amulett aus der Tasche. „Hier, der Beweis“, sagte sie und hielt es ihm hin.
Da erkannte Louis, es war Carlotta, seine Liebste, seine Frau und ein kleines Mädchen, seine Tochter… „Endlich, endlich bist du wieder da. Nie wieder lasse ich dich los“, flüsterte er und zog sie in seine Arme. Aber dann hielt er sie von sich weg. „Ich dachte schon, ich habe dich für immer verloren. Wo bist du nur gewesen?“, wollte er wissen.
„Ach, das ist eine lange Geschichte“, erwiderte Carlotta und zeigte ihm erneut das Amulett. „Und alles hat etwas mit diesem Ding hier zu tun.“
„Dann erzähle mal. Ich will alles wissen“, forderte Louis sie auf und Carlotta erzählte…
„Was wird wohl aus Gabriella geworden sein?“, fragte Louis, nachdem Carlotta geendet hatte. Das Kind war inzwischen eingeschlafen und lag zusammengerollt auf dem Sofa unter einer Wolldecke.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Carlotta. „Sie wird wohl tot sein und ich sehe sie nie wieder.“ Carlotta schniefte, Tränen der Trauer liefen über ihr Gesicht.
„Bestimmt. Aber schau mal“, er zeigte auf das schlafende Mädchen. „Vielleicht lebt sie in Lucrezia weiter? Wer weiß…“
Darauf konnte Carlotta nur lächeln.
© Milly B. / 09.03.2023