Es war einmal eine kleine Blume, klein und zart, mit wunderschönen gelben Blütenblättern, die lilafarbene Sprenkel zierten. Der Name der Blume war Sonnenschein, denn sie liebte es, die Strahlen der Sonne auf ihren Blättern und Blüten zu spüren. Sonnenschein war eine Orchidee und stolz auf ihr schönes Aussehen.
Das Blümchen stand inmitten einer großen Wiese mit vielen anderen Blumen, die ihr alle ähnelten. Einige waren sehr viel älter als sie selbst, hatten teils schon sehr knorrige Stiele, andere wiederrum jünger und viel zarter, dass man meinen konnte, jeder noch so kleine Windstoß könne sie sofort zerbrechen.
Obwohl sie nur auf der Wiese herumstanden, konnten gerade die Älteren sehr viel von ihrem langen Leben erzählen. Die Jüngeren hörten gespannt zu, tuschelten, lachten sogar über die teilweise sehr lustigen Geschichten der älteren Blumen. Nur einer von ihnen kamen die Erzählungen nach und nach belangloser vor. Sie hatte keinen Spaß mehr daran, den anderen nur zuzuhören und tatenlos herum zu stehen. Das war Sonnenschein.
Obwohl Sonnenschein ein eher sonniges Gemüt hatte, was ihr Name schon aussagte, langweilte sie sich immer mehr. Die Geschichten der anderen Blumen wurden stetig uninteressanter, sie wollte mehr, als nur auf dieser Wiese herumstehen und nichts erleben.
Daher machte sich Sonnenschein an einem warmen Tage, als die Sonne eben aufgegangen war und ihre Strahlen golden auf die Erde fallen ließ, auf den Weg. Obwohl sie ein sehr zartes Blümchen war, war ihr Stiel schon sehr kräftig, fast wie bei den älteren Blumen. Mit ihrem kräftigen Stiel schritt sie forsch voran, obwohl sie noch nicht wusste, wohin sie ihr Weg führte. Sie wanderte Stunde um Stunde und als die Sonne schon hoch am Himmel stand, erreichte sie einen Wald.
Finster ragte der Wald vor Sonnenschein auf. Die Bäume, alle sehr viel größer als sie selbst, wirkten wie Riesen mit ihren starken Stämmen und dem geheimnisvoll raschelnden Blätterwerk hoch oben in ihren Wipfeln.
„Sag, du kleine Blume“, hörte Sonnenschein einen der Bäume fragen. „Was suchst du hier? So ein zartes Ding wie du gehört auf eine Wiese und nicht hierher in einen Wald.“
Sonnenschein klagte den Bäumen ihr Leid. Sie wäre daher nun auf Wanderschaft, um die große, weite Welt zu erkunden.
Die Bäume verstanden. „Du hast es gut“, sagte ein anderer mit tiefer Stimme, aus der ein wenig Neid heraus klang. „Auch wir müssen hier herumstehen und der Dinge harren, die kommen. Nur hast du das Glück, auf Wanderschaft gehen zu können. Wir sind zu stark mit dem Boden verwurzelt, um dies auch tun zu können. Doch nun wollen wir dich nicht aufhalten. Setze deinen Weg fort.“ Die Blätter hoch oben in den Wipfeln raschelten aufmunternd und als Sonnenschein nach oben sah, war es ihr, als würden die Bäume lächeln. Sie verabschiedete sich artig von ihnen und ging weiter.
Sonnenscheins Weg führte tief in den Wald hinein. Es war dunkel und sie fürchtete sich ein wenig. Doch sie wusste, die Bäume würden ihr nichts Böses tun. Das Gespräch eben hatte sie beruhigt.
Die kleine Orchidee lief immer weiter und weiter, bis ihr die Füße schmerzten. Daher setzte sie sich auf einen Laubhaufen, der vom letzten Herbst übrig geblieben und noch nicht vom Wind weggeweht worden war. Das Laub war so bequem, dass sie einschlief und nicht bemerkte, wie sich ihr ein Zwerg näherte und sie aufmerksam bestaunte. Er konnte sich bei bestem Willen nicht vorstellen, was ein zartes Blümchen in einem finsteren Wald tat.
Erst als der Zwerg sich räusperte, wurde Sonnenschein wach. Erschrocken sprang sie auf.
„Oh“, rief sie aus und starrte den Zwerg an. Der hatte einen langen weißen Bart und trug eine spitze Mütze auf dem Kopf, was sie recht lustig fand. Doch sah er sie mit seinen großen Augen freundlich an und sie beschloss, ihre Furcht vor dem unbekannten Wesen fallen zu lassen. „Wer bist du denn?“, fragte die Blume neugierig.
„Oh, ich vergaß mich vorzustellen. Mein Name ist Wigald und ich bin ein Zwerg.“ Wigald verbeugte sich sogar, was Sonnenschein dazu veranlasste, albern zu kichern.
„Wigald, was für ein lustiger Name“, rief das Blümchen aus, „ich bin Sonnenschein und ich bin eine Orchidee“, nannte nun auch sie ihren Namen.
„Und was tust du hier?“, fragte Wigald.
Auch ihm klagte Sonnenschein ihr Leid. Wigald hörte gespannt zu. Als sie geendet hatte, meinte er zu ihr: „Ich kenne diesen Wald hier wie meine Westentasche und kann dir Plätze zeigen, die du niemals zuvor erblickt hast. Nur ich kenne diese, kein anderer hier im Wald.“ Stolz brüstete er sich mit seinem Wissen, was Sonnenschein sehr beeindruckte.
„Magst du mir diese geheimnisvollen Plätze zeigen?“, fragte Sonnenschein schüchtern, in der Hoffnung, endlich interessante Dinge erleben zu können.
„Aber gerne“, rief Wigald, der Zwerg, erfreut aus und winkte die Blume zu sich, damit sie ihm folgte.
Sonnenschein gefiel die Idee, den Wald mit ihrem neuen Freund zu erkunden. So wanderten sie zusammen weiter, zwischen den eng beieinander stehenden Stämmen der Bäume, über moosbewachsene Steine, auf denen sie ab und an Halt machten, um sich auszuruhen. Auch über plätschernde Bäche sprangen sie, labten sich am kühlen Nass, wenn sie durstig waren.
Während sie durch den Wald wanderten, erzählte Wigald Sonnenschein Geschichten über die Tiere und Pflanzen des Waldes. Seine Fantasie kannte keine Grenzen und Sonnenschein hörte gespannt zu. Auch die geheimen Plätze, die nur er kannte, vergaß er nicht. Er führte seine Begleiterin dorthin, erzählte auch die Geschichten, die sich an diesen Orten zugetragen hatten. Sonnenschein konnte gar nicht genug bekommen und ermunterte den Zwerg immer wieder, ihr seine Geschichten zu erzählen. Wigald tat es gerne und erfreute sich am Wissensdrang der Orchidee.
Sonnenschein war glücklich über ihren neuen Freund, mit dem sie jeden Tag neue Abenteuer erlebte. Sie lernte viel über ihn, den Wald und seine Bewohner, dessen Tiere und Pflanzen. Dabei erkannte sie, wie wichtig es war, die Natur zu schützen und wie schön es war, in der Natur zu leben und nicht in engen Häusern, wie die Menschen es taten.
Eines Tages jedoch erinnerte sich die kleine Orchidee an ihre Gefährten, mit denen sie inmitten einer sonnigen Wiese gestanden hatte und deren Geschichten sie Tag für Tag lauschte. Sie bekam Heimweh.
„Was ist mit dir?“, wollte Wigald wissen, dem die Gemütslage seiner Freundin nicht entgangen war.
Da erzählte Sonnenschein von ihrer Wiese, auf der sie das Licht der Welt erblickt hatte und wie sehr sie diese und ihre Gefährten dort vermisste.
„Dann solltest du nach Hause gehen“, sagte der Zwerg etwas traurig über Sonnenscheins Geständnis.
„Meinst du?“, fragte Sonnenschein. „Aber ich will dich nicht allein lassen. Du bist mein Freund.“
„Ja, das bin ich“, erwiderte Wigald, den es sehr erfreute, Freund genannt zu werden. „Aber der Wald hier ist nicht deine Heimat. Dein Herz gehört auf diese Wiese. Also geh zurück, so traurig es auch ist.“
Mit einem lachenden und weinenden Auge verließ Sonnenschein ihren neu gewonnenen Freund. Auf ihrer Wiese wurde sie empfangen, als wäre sie nie auf Wanderschaft gewesen. Alle fragten, was sie erlebt hatte und wollten, dass sie erzählt. Nun war sie es, die Geschichten ihres Lebens preisgab, so wie vor ihrer Wanderschaft die Älteren auf der Wiese. Den Zwerg namens Wigald aber vergaß Sonnenschein Zeit ihres Lebens nicht.
© Milly B. / 26.03.2024