Der schmale, erdige Pfad nahm am Rande des Waldes seinen Anfang, schlängelte sich um die Bäume herum, um irgendwann in der Ferne unter Farn und Laub, das von umgestürzten oder Wind durchforsteten Bäumen stammte, erneut aufzutauchen.
Es war später Nachmittag. Doch abgesehen von einem Eichhörnchen und mehreren Vögeln, die von Baum zu Baum flogen, herrschte an diesem Sommertag Stille. Es lag eine Art Magie in der Luft, was sicher durch die Tatsache begünstigt wurde, dass die Kronen der Bäume leuchtend gelbe Flecken verschwommenen Lichtes auf den Boden des Waldes und seine wenigen Besucher hinunterschickten.
"Glenna! Beeile dich. Wir werden niemals bis zum Abend aus dem Wald herauskommen, wenn du ständig nach irgendwelchen Pflanzen und Kräutern Ausschau hältst“, rief die junge Mairead ihrer Schwester zu, während sie sich mit ihrer rechten Hand durch das dichte, brünette Haar fuhr, das ihr wirr ins Gesicht hing.
Die Angesprochene warf ihrer jüngeren Schwester lediglich einen bösen Blick zu, ergriff die Falten ihres Rockes und hielt abermals inne, um weitere Pflanzen in den Korb zu legen.
Mairead wartete daraufhin einige Minuten und passte sich dann der Schrittgeschwindigkeit der Älteren an.
„Ehrlich, Mairead. Ich habe nicht darum gebeten, für das Pflanzensammeln eingeteilt zu werden. Großmutter MacRae hätte auch auf Rhona, Catriona oder Blair zurückgreifen können. Und jetzt, wo ich Spaß daran gefunden habe, soll ich mich auf einmal beeilen. Warum nur hat sie ausgerechnet uns in diesen unheimlichen Wald geschickt?“
Seufzend beschleunigte Glenna ihr Tempo.
„Vielleicht hängt das mit jenen Aussagen zusammen, die uns allen am Tag unserer Geburt gemacht wurden.“
„Sind wir nicht ein wenig zu alt, um an derlei Märchen zu glauben?“, äußerte Glenna murrend und wischte sich die verschwitzte Handfläche an ihrem Rock ab.
Doch Mairead war mit dem Thema noch nicht fertig.
„Du weißt ebenso gut wie ich, dass uns bei der Geburt Magie auferlegt wurde. So soll unsere Schwesternschaft einst gesegnet sein. Grandma wird nicht für immer bei uns sein, um anzuleiten oder zu helfen“, meinte sie nachdenklich.
Glenna warf ihrer Schwester von der Seite einen Blick zu, als Mairead wiederum zu sprechen anhob.
„Sie sagt, wir würden unserem Schicksal begegnen und damit zu einem frühen Ende finden.“
Glenna verdrehte nach diesen Worten die Augen und schnappte sich mehrere Früchte aus Maireads Korb.
„Großmutter ist eine alte Hexe, mit noch älteren Zaubersprüchen und einem alten Geist. Jeder von uns könnte bessere Zauber vollbringen als sie.“
Da ihre Schwester nicht reagierte, holte sie weiter aus.
„Wir werden von ihr viel zu sehr kontrolliert. Ich habe bisweilen den Eindruck, dass sie uns für ihre Zwecke benutzt. Sie lässt es nicht zu, dass wir uns mit den jungen Männern aus dem Dorf treffen. Wir kennen nur Arbeit. Wir sind achtzehn und zwanzig Jahre alt und haben das Recht auf ein eigenes Leben!“
Glenna umfasste den Arm ihrer Schwester.
„Sie sollte mehr Respekt vor ihren beiden Ältesten haben, Schwesterherz. Wir standen immer unter ihrer Fuchtel. Nach dem frühen Tod unserer Eltern haben wir fünf Mädchen uns praktisch selbst großgezogen. Großmutter hat wenig dazu beigetragen. Wir waren für sie eher eine Last als ein Segen. Ungehorsam ist trotzdem keine von uns. Würden wir sonst hier im Wald nach allen möglichen Sachen für sie suchen? Mit Sicherheit nicht! Darüber hinaus solltest du nicht vergessen, dass ich vier Jahre älter bin als du. Also zolle mir gefälligst, den mir zustehenden Respekt!”
Die Ansage der älteren Schwester genügte Mairead, sich auf die Zunge zu beißen und kein weiteres Wort zum Thema mehr verlauten zu lassen.
Stille umhüllte die beiden jungen Frauen, als sie den Weg in die tiefen, unergründlichen Teile des Waldes in Angriff nahmen, wo die geheimnisvollen, weißen Falken ihre Brutstätten hatten.
Derweil sie eine kleine Biegung nahmen, zog mit einem Mal eine Windböe, die durch mehrere Pfeile verursacht wurde, durch den Wald und über sie hinweg. Erschrocken ergriff Mairead die Hand ihrer Schwester, die sich daraufhin beschützend vor sie stellte.
„Was ist los?“, fragte sie.
Obgleich Mairead Angst hatte, sich zu bewegen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte Glenna zu: „Kannst du den Burschen nicht sehen?“
Glenna blickte sich verwirrt um. Und da sah auch sie ihn, der hinter einem Baum hervorlugte. Seine Augen waren von einem hellen Blau. Sein Haar hatte die Farbe von nicht reifen Erdbeeren. Sobald er mitbekommen hatte, dass er von den Schwestern bemerkt worden war, verschwand er.
Nur wenige Augenblicke später tauchte ein anderer junger Mann auf der Bildfläche auf. Er kam mit einem freundlichen Lächeln auf sie zu. Tiefe Grübchen zeigten sich in seinen Wangen. Der Unbekannte entsprach genau jener Definition, die da gutaussehend lautet. Seine Augen waren strahlend blau. Sein Gesicht markant. Die Nase falkenartig. Das Haar war von einem tieferen Rot als das des Jünglings, den sie zuerst gesehen hatten, sein Körper mit einem matten, graublauen Plaid bedeckt, das von Schulter und Taille herabhing. Obgleich ein wenig staubig, war ihm anzusehen, dass er aus besser situierten Kreisen stammen musste, denn eine goldene Brosche, auf der allerdings kein Wappen zu erkennen war, hielt das Ganze zusammen. Wenn der Blick nicht trübte, trug er kein Breitschwert auf dem Rücken. Er war nur leicht bewaffnet, und zwar mit einem Sgian-dubh, der ordentlich in einem der grauen Strümpfe an seinen Beinen verstaut war. Er würde keine Bedrohung darstellen. Das war sicher.
Als er der beiden jungen Frauen ansichtig wurde, legte er eine Hand aufs Herz. Mit der anderen holte er zu einer Geste der Begrüßung aus.
„Feasgar math“, sagte er auf Gälisch, ehe er zum regionalen Dialekt wechselte, den er perfekt zu beherrschen schien.
„Verzeihen Sie, meine Damen. Wir wollten Sie nicht erschrecken.“
Der jüngere Bursche trat nun hinter dem Baum hervor und schenkte Mairead und Glenna ein ebensolches Lächeln, wie das zuvor bereits der andere getan hatte. Mit neugierigen Augen beobachtete er sie.
Glenna räusperte sich und meinte dann mit einem Mal charmant: “Falls Ihr die Absicht habt, uns ebenso zu jagen, wie Ihr das offensichtlich mit dem Hirsch dort hinten vorhattet, dann lasst Euch gesagt sein, dass wir keine wilden Tiere sind.“
Nach ihrer Äußerung lachte der Bursche laut.
„Mein Name ist Tomas. Das neben mir ist mein jüngerer Bruder Alaisdair.“
„Benimm dich anständig und begrüße die jungen Damen, laddie!“
Nach dieser Rüge seitens des Bruders hob Alaisdair die Hand und murmelte ein verlegenes Feasgar math.
„Wir sind auf dem Weg nach Hause und haben beschlossen, hier einige Tage zu verweilen. Verratet ihr uns eure Namen?“
„Ich bin Glenna MacRae. Das ist meine Schwester Mairead“, erwiderte Glenna und versank vor den Besuchern in einen leichten Knicks.
„Wir sind erfreut, eure Bekanntschaft zu machen. Würdest du mir die Ehre erweisen, mit mir ein Stück des Weges zu gehen?“
Wenngleich mit mulmigem Gefühl gestattete sie Tomas neben sich herzugehen. Alaisdair und Mairead schlossen sich an.
*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*
Aussehen des magischen Waldes
https://up.picr.de/47136099hd.jpg