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Nach dem Prompt „Gemeines Seeohr“ der Gruppe „Crikey!“
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Die Erinnerungen an seine Kindheit waren immer verschwommen. Alles, was vor jener schicksalhaften Nacht geschehen war, fühlte sich nurmehr wie ein Traum an. Ein Wirrwarr aus Bildern und Worten.
Ein Haus am Meer. Hatten sie wirklich am Meer gelebt? Zum Teil erinnerte Aderyn sich auch an grüne Wiesen, die sich jedoch auch genauso auf Edden erstreckten, der Insel, auf die er verschleppt worden war. Aderyn war damals, als die Vikrir seine Heimat überfallen hatten, zu jung gewesen, um sich jetzt an Zuhause zu erinnern. Es hatte sich mit seiner neuen Heimat vermengt, bis er nicht mehr wusste, was die Wahrheit war.
Eine Erinnerung jedoch kam immer wieder. Er war noch jung in dieser Erinnerung, ein richtiger Winzling, und saß im seichten Wasser, das ihm bis zur Hüfte ging. Das Meerwasser was hell und klar, die Wellen brausten in langsamen Schlägen heran und rollten über kernigen, hellen Sand, in dem Muscheln und bunte Kiesel leuchteten.
Selbst die Frauen der Vikrir ließen ihre Sprößlinge nicht am Meer spielen, und wenngleich die Wellen um Edden wilder waren als in Aderyns Heimat, bezweifelte er, dass seine Eltern es ihm erlaubt hätten. Vielleicht war es also mehr ein Traum als eine echte Erinnerung. Die Zweifel deswegen würde der Junge niemals abschütteln können. Doch es war die klarste Erinnerung, die ihm geblieben war, und deshalb klammerte er sich daran.
In dieser Erinnerung oder diesem Traum war seine Mutter nicht weit, obwohl er sie nicht sah. Sein Vater war fort und angeln, doch seine Mutter stand hinter ihm auf den Wiesen, die bis zum Ufersand reichten. Sie hing dort Wäsche auf, weil es ein seltener, sonniger Tag war. Manchmal hörte er sie leise singen, bevor der starke Wind alle Worte mit sich riss.
Aderyn spielte mit den Muscheln, die angespült wurden, fischte sie aus dem Wasser und grub die Hände tief in den rauen Sand, um weitere zu finden. Er lachte, wenn sich ihm Beinchen aus einem der Gehäuse entgegenreckten, und versuchte, die Krebschen herauszuziehen.
Heute, freilich, würde er so etwas nicht tun. Er wusste viel zu genau, wie es sich anfühlte, aus dem sicheren Heim gerissen zu werden.
Dann wieder patschte der Junge mit gespreizten Fingern auf die Wasseroberfläche, dass die Tropfen spritzten, oder beobachtete mit dem Daumen selbstvergessen zwischen den Lippen einen dunklen Fisch, der sich ans Ufer gewagt hatte.
Es war wundervoll. Aderyn flüchtete sich auch später noch immer wieder an diesen Strand, in diese Stunde, die zeitlos erschien. Aber immer musste sie enden. Er freute sich darauf und fürchtete es doch zugleich.
Irgendwann kniete seine Mutter neben ihm, ohne dass der Junge ihr Kommen bemerkt hatte. Er sah ihre großen, glatten Hände, die einige dunkle Muscheln hervorholten. Muscheln, die wie ovale Steine erschienen, bevor man sie umdrehte und sah, dass es kleine Schalen waren. Es war ihm stets wie Zauberei erschienen.
"Sieh mal, Addy." Sie drückte ihm die Muscheln in die Hand.
Es waren Muschelhälften, außen rau geriffelt, innen wunderbar glatt, perlmutten glänzend. Ihre Form erinnerte an ein Ohr, sodass er sich im ersten Moment fürchtete. Obwohl er sie glatt und hart unter seinen Fingern spürte, glaubte er, dass es echte Ohren waren. Vielleicht getrocknete Ohren ungezogener Kinder - sein Vater erzählte oft davon, was ihm alles zustoßen würde, wenn er nicht gehorsam wäre.
Letzten Endes war es dann ja auch geschehen.
Aderyn weinte, doch seine Mutter beruhigte ihn. "Nein, Addy, das sind keine Ohren. Nur Muscheln. Aber es sind keine normalen Muscheln. Hier ..."
An ihr Gesicht konnte er sich nicht mehr erinnern, aber an ihr Haar, dass über ihre Schulter fiel. Er wusste, dass sie den Kopf schiefgelegt hatte, und dass sie ein braun-rotes Kleid mit gelben und orangen Zierfäden trug. Er erinnerte sich an ihren Geruch, dumpf, warm und vertraut, als hätte ein etwas abgenutztes, geliebtes Sofa einen Geruch bekommen, jenes Gefühl, in die muffigen, eingesessenen Kissen zu sinken.
Dann die Stille, als sich die Muscheln auf beiden Seiten über seine Ohren stülpten. Das Rauschen des Meeres war fort. Geblendet blinzelte er gegen die strahlende Sonne an, die alles um ihn her erfüllte.
"Lausche, Aderyn", hörte er seine Mutter gedämpft.
Dann hörte er es. Das Rauschen in der Muschel, das lauter und lauter wurde. Er erinnerte sich, wie er die Augen schloss und Wellen hörte, dann Gesang. Ein zartes Lied, wie gesungen von schwebenden Seemöwen und springenden Fischen und bedächtigen Walen. Ein Lied von tausend Stimmen, dessen Worte er nicht verstand, doch gleichzeitig begriff er sie. Er erkannte die Freude darin, die Trauer, eng miteinander verwoben. Er erkannte Sehnsucht und Liebe und etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ: Einen Klang von Unendlichkeit, als würden sich die Töne bis zum Horizont strecken, suchenden Fingern gleich, die versuchten, jene Linie im Blau zu ergreifen, wo sich Himmel und Ozean trafen.
Ein Lied von Wogen und Gischt, vom Leben unter der Oberfläche und der endlosen Weite dazwischen. Aderyn spürte salzige Tränen auf seinen Wangen. Es war ein Lied, das zu Tränen rührte, doch es bedeutete auch das Ende der Erinnerung. So sehr er es festhalten wollte, das Bild verschwamm: Die Musik wurde leiser, seine Mutter, der Strand und die Wiesen entglitten ihm. Wie immer kehrte er zurück.
Zurück auf die rauen Klippen der Insel Edden. Zurück auf diesen vom Wind umtosten Aussichtspunkt, auf dem er heute Schutz gesucht hatte. Mit verschwimmendem Blick sah der Junge hinaus auf das Meer. Unter ihm lagen die Langschiffe mit ihren weißrot gestreiften Segeln, und jenseits der Inseln lagen die Wellen. Die sinkende Sonne schien einen Pfad darauf zu malen.
Wie sehr wünschte sich Aderyn, er könnte diesem Weg aus Licht folgen. Fort von der harten Arbeit, die ihm aufgetragen worden war, fort vom Schimpfen der Männer, nach Hause ... nach Hause ... nach Hause!
Obwohl er nicht wusste, wo sein Zuhause lag. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihm zu erklären, aus welchem Dorf, ja, aus welchem Land er geraubt worden war. Und heute hatten seine Entführer das längst vergessen.
Während die Seevögel über ihm riefen, trockneten die Tränen auf Aderyns Wangen. Alles, was ihm geblieben war, war das Lied des Meeres, tief in seinem Herzen vergraben wie ein Piratenschatz.