„Du wolltest mit uns reden Carlos“, ich saß mal wieder im Büro des Vereins, mir gegenüber Sabrina und Josi. Nach fast einem Monat im Verein, hatte ich meinen Mut dann doch zusammengenommen und um ein Gespräch gebeten. Trotzdem fehlten mir die Worte und ich starrte auf meine Hände auf dem Tisch. „Ist schwierig?“ Sabrina legte die Hand auf meine: „Wir stehen für Gleichberechtigung für alle ein, mach dir keine Gedanken darüber.“ „Also naja“, ich schluckte und sah meine Trainerin an: „Ich denke, dass ich trans bin, beziehungsweise ich bin transgender, da bin ich mir relativ sicher.“ Ich rechnete mit so ungefähr allen Reaktionen aber nicht mit dieser, Sabrina lächelte leicht: „Das überrascht mich jetzt nicht komplett, wenn man sich teilweise deine Reaktionen auf Anreden gesehen hat.“ Hatte ich wirklich so heftig reagiert auf meinen Namen und die falschen Pronomen?
Sabrina hatte offenbar meine Gedanken erraten: „Wenn man sich damit nicht auskennt kann man das nicht erkennen.“ Irgendwie fiel mir der Stein vom Herzen, bei dem Gedanken daran, dass man mich nicht unbedingt daran erkennen konnte, wenn man es nicht unbedingt wollte. Sabrinas Augen blitzten: „Dann spielst du hoffentlich irgendwann bei uns in der Damenmannschaft?“ Ich zog die Schultern hoch: „Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht, meine Eltern halten nicht allzu viel von LGBTQ+.“ „Dann werden wir auch die Letzten sein, die es irgendwem erzählen werden“, Josi lächelte leicht: „Das muss ja niemanden was angehen, solange du das nicht möchtest.“
Meine eigene Erleichterung gab mir so viel Kraft als ich nach Hause fuhr, dass ich fast noch pünktlich zuhause war. Meine Familie saß trotzdem schon beim Abendessen und sah sich die Küchenplanung auf dem IPad meiner Mutter an. Meine Eltern waren beim Ikea gewesen und hatten unsere neue Küche geplant mit einer Frau von dem Laden. Die Bilder davon konnte ich mir jetzt auch während des Essens anschauen, das Ganze war in einem hellen braun gehalten auch wenn es größtenteils kein Holz war. Trotzdem war eine Art Holzmuster aufgemalt worden und gab offenbar meinen Eltern den richtigen Touch für die neue Küche im ersten Stock. Die alte Holzküche meiner Großeltern passte außerdem dazu, da sie einen ähnlichen Farbton hatte.
Als ich am nächsten Morgen in meine WhatsApp Chats schaute, war eine neue Nachricht von einem Jungen aus der Transgruppe da, der gerade eine Seminararbeit schreiben musste. „Was wäre, wenn ihr mit eurem Wunschgender geboren worden wäret?“ Über die Frage musste ich erstmal nachdenken, das war gar nicht so einfach, es war noch vieles noch so ungewohnt für mich. Was wenn ich Solas kleine Schwester von Geburt an gewesen wäre? Meine Eltern hätten mich wohl nicht Luna genannt, da war ich mir ziemlich sicher, was mein Name gewesen wäre, wenn ich ein Mädchen geworden wäre, hatte ich sie nie gefragt. Sola hätte wohl Julian geheißen, aber Sola war da eindeutig die schönere Variante. Sie war online, schrieb aber nicht in der Transgruppe. Ich ließ mir trotzdem Zeit mit meiner Antwort auf die Frage des Jungen aus der Gruppe und machte mich auf die Suche nach Frühstück.
Die Schule begann wie jeden Freitag mit Musik, das war dazu auch noch ziemlich langweilig auch wenn ich in meiner alten Schule in der Schulband gespielt hatte. Hier gab es eigentlich auch eine, aber da kam ich nicht mehr mitten im Schuljahr rein, eben so wenig wie Sola. Die Musiklehrerin war dazu auch eine alte Grätze, die ziemlich gar nichts auf Schüler gab und uns so gut wie gar nichts zutraute. Nicht einmal Noten lesen, auch wenn das bei der Klasse teilweise richtig war, meine Musiknoten hatten sich extrem verbessert seit der neuen Schule. Ich war immer die stille Schülerin gewesen und meine Noten waren dementsprechend nur schriftlich gut gewesen. Die Musiklehrerin hatte mich seit der ersten Stunde ziemlich gemocht, nachdem ich ihr den Quintenzirkel aufzählen konnte.
Nach Mathe und Französisch hatte ich dann allerdings auch endlich den langen Schultag geschafft und konnte mit Mia und Mira gemütlich zu den Fahrradständern laufen und anschließend zur Bushaltestelle, wo wir Mira absetzten. Ihr Bus kam erst in zwanzig Minuten, aber sie wollte uns nicht warten lassen bis sie wegkam, weswegen wir uns dann auch auf den Heimweg machten. Wir hatten in Physik eine Gruppenaufgabe, weswegen wir uns am Wochenende verabredet hatten und uns dann sowieso wiedersahen. Meine Begeisterung dafür hielt sich in Grenzen, wir sollten eine Art elektrische Figur oder ein Gebäude bauen, dass leuchten konnte durch einen Lichtschalter. Wenn das denn bei uns funktionierte. Wir hatten vor, eine Art hängende Laterne zu bauen, die man sich in den Garten hängen konnte.
Meine Eltern waren nicht wieder da, nur meine Großeltern, die heute nicht im Seniorentreff gewesen waren. Sola kam wenige Minuten nach mir nach Hause und verschwand direkt in ihrem Zimmer, warum wusste ich auch nicht so genau, aber ich musste sowieso noch Hausaufgaben machen. Beziehungsweise hauptsächlich die Tonne Aufgaben, die meine Französischlehrerin hinterlassen hatte. Mathe war gar nichts, Musik war immerhin für mich gar nichts, für meine Mitschüler dafür fast so viel wie in Französisch. Ich seufzte trotzdem beim Anblick der ganzen Französischen Grammatik auf meinen Arbeitsblättern, das würde ein wenig länger dauern, bis ich dann endgültig ins Wochenende durfte. Sola war keine Hilfe, sie hatte Latein, auch wenn sie von dem Fach nicht so besonders begeistert war. Meine Mutter hatte auch Französisch gehabt, aber ich wollte die Aufgaben möglichst bald hinter mir haben.
Sola platzte in mein Zimmer als ich mein Physikbuch, in dem ich nach Ideen für die Schaltung gesucht hatte, wieder zuknallte. „Wir haben noch eine Stunde“, sie warf einen Blick auf die Wanduhr bei mir: „Naja ein bisschen mehr und unsere Großeltern kommen nicht hier hoch.“ Da hatte sie wohl recht, meine Oma war zu gebrechlich, um die zwei Treppen in den zweiten Stock hochzukommen. Mein Opa hatte mittlerweile das Stadium erreicht, dass er schon im ersten Stock nicht mehr wusste, was er wollte und wohin er gerade gewollt hatte. Da war es recht unwahrscheinlich, dass er in Solas Zimmer kam. Ich folgte Sola in ihr Zimmer, um ihre neueste Kleidung mal wieder an mir auszuprobieren, auch wenn ich mich in meinen Boxershorts darunter nicht so besonders wohl fühlte. Nebenher lief eine Netflix Serie auf dem Fernseher von Sola, mal wieder ein Geschenk von meiner Oma, ebenso wie das Netflix Abo, dass sie gern mit mir teilte.
Es war noch lange nicht vier als plötzlich ohne zu klopfen Solas Zimmertür aufging. In der Tür stand unser Opa und starrte uns reichlich verwirrt an, besonders mich in einem Kleid, das ursprünglich mal meiner Oma gehört hatte. Mittlerweile war es in Solas Besitz, aber auch mir stand es nicht unbedingt schlecht, meiner Meinung nach zumindest. Sola sah trotzdem gerade in der blütenweißen Bluse fast noch schöner aus, fast wie ein Engel, sie erstarrte als sie meinen Opa ansah und ihre Augen blitzten genervt: „Auf dem Schild steht klopfen nicht ohne Grund, Opa auch für dich.“