Samstag, 23. Dezember 2017 2:37 Uhr zeigte mein Handy an, es war mitten in der Nacht in den Ferien. Ich konnte nicht schlafen, der Grund war mir eigentlich klar, meinem Vater anscheinend nicht, er war schon zweimal bei mir hereingekommen. Einmal um halb zwölf und einmal um Viertel vor eins, weil bei mir noch Licht brannte, mein Nachttischlicht brachte auch Licht bis in den Flur. Ich hatte mein Buch aufgeschlagen und versuchte mich auf die Zeilen zu konzentrieren, was allerdings nicht so einfach für mich war. Müde war ich allerdings, Solas Tod grub sich dennoch tief in meine Gedanken und ließ mich nicht schlafen. Ich biss auf meiner Lippe herum und entschloss mich dann doch Mia anzurufen, wie ich es ihr versprochen hatte.
Mia wusste, wie sehr ich unter dem Tod meiner Schwester litt, mein Vater verstand es bis heute nicht. Sie hatte mir deswegen das Anrufen zu egal welcher Uhrzeit angeboten, ich hatte es noch nie genutzt, jetzt hatte ich es vor. Ich suchte ihren WhatsApp Kontakt aus meinen Chats und schrieb ihr eine Nachricht in der Hoffnung, dass sie noch wach war und ich sie nicht aus dem Schlaf klingeln musste. Die Minuten verstrichen, aber Mia schien wohl schon zu schlafen, die beiden Haken hinter meiner Nachricht blieben grau. Leise fluchend und widerwillig drückte ich auf das Anrufsymbol von WhatsApp und der Anrufbildschirm leuchtete auf.
Dreimal musste das Handy nur tuten, dann hob jemand ab: „Luna was ist los?“ Mia schien sofort wach zu sein, jedenfalls klang ihre Stimme so, ich schwieg einige Sekunden, wusste nicht was ich sagen sollte. Etwas raschelte leise am anderen Ende der Leitung: „Hör zu, ich weiß ja nicht was los ist, aber es ist eindeutig eine Uhrzeit, wo man normalerweise schlafen sollte.“ „Ich weiß“, flüsterte ich zurück: „Aber ich kann nicht schlafen, mein Vater war schon zweimal hier drin und will das ich endlich schlafe. „Uff“, Mia gähnte jetzt doch: „Das ist nicht gut, was willst du jetzt machen, willst du mir was vorlesen, so wie neulich als du hier warst?“
Wir telefonierten fast eine Stunde lang, erst um Viertel vor vier, war meine Erschöpfung so groß, dass meine Augen immer wieder zufielen. Ich wickelte mich in meine Decke und kuschelte mich in meinen großen Ikea Hai, den mir Sola ausgerechnet zu meinem zwölften Geburtstag geschenkt hatte, dem letzten, den sie miterlebt hatte. Schlafen konnte ich davon tatsächlich schon, ich glaubte einen Hauch von ihr an dem Hai zu riechen, vielleicht war das aber auch nur eine Täuschung meines Gehirns. Die Träume ließen nicht lange auf sich warten, wieder und wieder durchlebte ich den Unfall, wie ihr Fahrrad durch die Luft flog und den entsetzlichen Knall. Aber irgendwann war auch dieser Albtraum zu meiner Überraschung vorbei auch wenn ich mich danach an keinen anderen Traum mehr erinnern konnte.
Ich wachte erst um Viertel nach zehn wieder auf, mein Vater hatte schon wieder Frühdienst und war schon seit über vier Stunden aus dem Haus. Sonst war niemand im Haus, meine Mutter war immer noch auf der geschlossenen Station und würde auch nicht morgen an Weihnachten nach Hause kommen. Mein Vater hatte sich soweit ich es mitbekam sehr von ihr distanziert von ihr und ob sie überhaupt noch wirklich zusammen waren. Ich hatte bisher nichts vor, also suchte ich mir den Familienlaptop in der Hoffnung ein wenig Zerstreuung auf irgendeiner Website zu finden. Das war nur so Semierfolgreich, bis ich von einem Mädchen aus der Transgruppe angeschrieben wurde. Wir hatten schon ein paarmal geschrieben, sie kam aus einem Ort etwas weiter entfernt, aber noch in Zugreichweite.
Sie fragte mich, ob wir uns endlich mal bei ihr treffen wollten, sie war schon zweimal mittlerweile bei mir gewesen. Ich fragte rasch meinen Vater über WhatsApp, der sogar einen kurzen Moment zum Antworten fand und mir das Ticket zurückzahlen wollte. Ich hatte genug Geld für ein Niedersachsenticket, was ich eindeutig zum Besuchen brauchte. Ich nahm mein Schülerticket bis zum Bahnhof, ich hatte theoretisch Zeit bis mein Zug hielt, aber es war bitterkalt, weswegen ich mich in die Bahnhofshalle setzte und auf mein Handy starrte. Mein Zug bekam noch zusätzlich zehn Minuten Verspätung, was aber für mich nichts mehr für mich änderte, mein Ticket hatte ich rasch schon gezogen.
Mein Zug kam dann mit 15 Minuten Verspätung an und ich bekam einen der letzten Sitzplätze, während der Zug losfuhr. Eine ältere Dame saß neben mir am Fensterplatz und musterte mich schon die ganze Zeit, ich gab mein Bestes sie zu ignorieren und vertiefte mich in eine Wattpad Story. Die Frau schaute mir dem Gefühl nach die ganze Zeit über die Schulter, was mir aber herzlich egal war. „Ist irgendwas“, fragte ich sie, als es mir nach einer Viertelstunde doch zu bunt wurde, doch sie zuckte nur mit den Schultern und wandte den Blick von mir ab. In ihrem Blick glaubte ich etwas zu sehen, konnte es aber nicht wirklich zuordnen, ich biss mir auf die Unterlippe und konzentrierte mich auf die Geschichte.
Wir stiegen beide in Hannover aus, während der Zug nach Bielefeld weiterfuhr, ich lief meiner Sitznachbarin hinterher in den Bahnhof. „Ist wirklich alles in Ordnung“, wollte ich wissen, als sie mir immer noch hinterherlief, während ich in einen Bäcker lief und mir ein belegtes Brötchen und eine heiße Schokolade kaufte. Sie sah mich lange an, dann hob sie langsam die rechte Hand und den Daumen weggestreckt, die anderen vier zusammengepresst. Dann drückte sie den Daumen gegen die Handfläche, als wollte sie eine vier mit den Fingern zeigen, aber sie ballte die Hand zur Faust, den Daumen eingeklemmt. Einen Moment dauerte es, dann erkannte ich das Zeichen der Frau, ich hatte es in einer Mobbingprävention der Polizei gelernt, ein stummer SOS-Ruf.
„Kommen Sie“, ich ließ die Frau an der Backtheke stehen und rannte los in Richtung Hauptausgang der Bahnhofshalle, in der Hoffnung die Bundespolizei zu sehen. In einer Ecke standen sie tatsächlich, ich sah mich um, die Frau war immer noch direkt hinter mir und sah sich ebenfalls um, als ich zurücksah. Uns folgte aber immerhin niemand. Ich rannte wieder los in Richtung der beiden Polizisten die sich gerade unterhielten und zu uns herumwirbelten als ich keuchend angerannt kam. „Was ist denn los junger Mann“, der ältere der beiden musterte mich und wartete, bis ich die Geschichte erzählen konnte. Die ältere Frau brauchte viel Zeit, damit sie sich zum Reden durchringen konnte.
Ihr Mann war wohl dement und dadurch gewalttätig und ausfallend ihr gegenüber geworden. Sie war 77 Jahre alt und hatte sich nicht mehr anders zu helfen gewusst. Ich hatte sie möglicherweise vor schlimmerem bewahrt, indem ich ihr geholfen hatte. Das sorgte allerdings dafür, dass ich meinen Zug verpasste, woraufhin die neue Freundin mich abholen fuhr mit ihrer Mutter. Sie beauftragten mich nur mich an einen bestimmten Platz zu stellen. „Das war ja mal aufregend“, die Mutter von Christina, der Freundin seufzte: „Was haltet ihr von einer Pizza oder so hier in der Nähe?“ Das Ganz stieß auf Begeisterung weswegen Christina auf ihrem Handy eine Pizzeria raussuchte.