ANNA
Mit jedem Schritt, den ich vor mich setze, schwindet die Hoffnung, dass ich wirklich richtig bin. Doch es verschwindet auch die Wut und die Enttäuschung. Sie wird abgelöst von den Eindrücken, die mich gerade von meinen Sorgen ablenken.
Die Geräusche der Stadt. Die Straßen, die sich ineinander verwinkeln. Die Auto`s die an mir vorbeifahren. Die Stimmen der Menschen. Die Hektik der Menschen. Die verschiedenen Gefühle von ihnen. Ich versuche mir Geschichten hinter den Gesichtern vorzustellen.
Dann ist es fast so, als würde ich von einer unsichtbaren Energie zu dem riesigen Gebäude gezogen werden. Die Sonne ist bereits vollkommen verschwunden und das Gebäude erscheint in dem Scheinwerferlicht noch majestätischer. Ich halte vor meinem Ziel und betrachtet es mehrere Minuten. Die Wände sehen aus, als würden sie aus Marmor gefertigt sein. In der Mitte befindet sich eine große Mahagonifarbene Holztür. Neben ihr, jeweils rechts und link ebenfalls Türen, in der selben Farbe, jedoch schmäler und höher. Über der riesigen Tür in der Mitte ist eine verschnörkeltes Muster in einem Kreis eingearbeitet. Um die zwei hohen Türme, die von Scheinwerfern beleuchtet werden, erkennen zu können, muss ich meinen Kopf in den Nacken legen. Sie wirken, als würden sie sich mit ihrer Spitze in den Himmel über mir bohren. Die Größe des Gebäudes lässt mich wieder einmal mehr erkennen, wie klein wir in dieser Welt doch sind. Wie machtlos. Wie verwundbar.
Bei meiner Betrachtung stelle ich fest, dass es sich um eine Kirche handeln muss. Was auch bestätigt wird, als ich auf das Schild neben der großen dunklen Holztür starre und nun auch den Namen zu diesem Gebäude habe: St.Patrick`s Cathedral.
Was hingegen erneut meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist dieser Kreis, indem dieses verschnörkelte Muster eingearbeitet ist. Es sieht fast so aus, wie diese Zeichen, die ich in der anderen Welt gesehen habe. Die Zeichen, die auch auf Alex's weicher makelloser Haut sind.
Zu meiner Verwunderung sieht es so aus, als würde sich dieses Zeichen bewegen. Als würde es einem Herzschlag gleichen. Mit regelmäßigen Schlägen verändert es sich, um sich dann wieder zu stabilisieren. Keine Ahnung wie das funktioniert oder ob ich hier schon wieder irgendwo gelandet bin, wo ich gar nicht sein sollte. Doch die Neugier ist einfach zu groß und schon setze ich einen Fuß auf die erste Treppe. Irgendein Gefühl sagt mir, dass ich mir das jetzt ansehen sollte. Ich mag Kirchen. Auch wenn ich nicht exakt an das glaube, was die Bücher und die Menschen propehzeien. Dennoch haben diese religiösen Bauten etwas an sich. Einen Charakter. Leidenschaft in derer Entstehung und Perfektion auch wenn sie nicht perfekt zu sein scheinen. Sie faszinieren mich.
Ich verharre vor der großen zweiflügligen Tür und werde dabei unsanft von zwei breitschultrigen Männern angerempelt. Sie drängen sich an mir vorbei und machen keinen freundlichen Eindruck auf mich. Vorallem, da die schwarzen langen Mäntel die sie tragen, sie wie Auftragskiller aussehen lassen. Nicht einmal eine Entschuldigung konnten sie über ihre Lippen bringen. Als ich mich wieder gesammelt habe, straffe ich meine Schultern und greife ich nach dem kalten gußeisernen Griff, der großen Tür. Ich stemme mich mit meinem Gewicht dagegen und drücke die Tür auf. Was mich jedoch hier erwartet lässt mich erstarren, was dazu beiträgt, dass ich von den Menschen, die ebenfalls durch diese Tür kommen, angerempelt werde. Dass ist jetzt nicht das, was ich erwartet habe. Eine Party in einer Kirche. So etwas habe ich noch nie gesehen.
Die laute Musik dröhnt in meinen Ohren und die Menschen tummeln sich in diesem riesigen Saal. Dieser riesigen Kirche. Als ich meinen Blick nach oben schweifen lasse, kann ich einige Menschen sehen, die sich an so einer Art Seil verausgaben und sich daran elegant räkeln. Die endlos hohe Decke des Gebäudes, lässt das Ganze noch spektakulärer aussehen. Die Steinsäulen die bis nach oben an die Decke reichen, sind so mächtig, dass die Bar, die sich daran schließt winzig wirkt. Mich intressiert brennend, was hier vor sich geht. Noch nie habe ich davon gehört, dass in Kirchen Party's erlaubt sind. Aber okay. Das ist New York.Vielleicht ist es ja hier anders?
Mittlerweile sind einige Minuten vergangen, in denen ich mit offenem Mund, die Eindrücke verarbeitet habe. Es wird gelacht. Getrunken. Gefeiert. Geküsst. Und ja, sogar auch noch eindeutig mehr als das. Was mich gleichzeitig dazu bewegt mich zu fragen, wie ich hier, unter diesen Menschen wirken muss. Ein Blick auf die anderen, eher spärlich bekleideten Mädchen und deren perfekten Körpern, lässt mich einen Blick auf mich werfen. In meiner ausgewaschenen löchrigen Jeans, den weißen Chucks und meinem grauen Shirt muss ich eher aussehen, wie eine echte Touristin. Eigentlich hätte ich ja auch hier etwas machen wollen, was ein Tourist macht. Ich wollte in meinem Gefühlschaos ein bisschen Kultur in meinen Kopf befördern, wenn ich schon hier lang laufe. Jetzt hingegen, stehe ich in einer Kirche und blicke auf eine vollkommen verrückte Party-Szene.
Dies lässt mich auch den Enschluß fassen, das ich hier völlig falsch bin. Also lasse ich meinen Blick noch einmal über die bizarre Szene schweifen und wende mich zum Ausgagn. Doch plötzlich realisiert mein Gehirn etwas. Ein Bild ist in meinem Kopf augetaucht. Dieses Bild lässt mich erstarren und meinen Blick nochmals zurückschweifen. Diese Augen lassen das Blut in meinen Adern gefrieren. Alex! Ich muss träumen. Es kann nicht wahr sein. Das ist nicht wahr. Doch können mich meine Augen wieder einmal täuschen? Nein. Dieser Anblick. Dieses Gesicht. Diese Augen. Dieser Körper. Ich habe keine Zweifel. Meine Atmung hat sich unwillkürlich beschleunigt. Das Pochen meines Herzens ist kaum auszuhalten. Überall auf meinem Körper spüre ich dieses Kribbeln. So, als würde ich mich unter Strom befinden. Als würde sich mein Körper vollkommen nach ihm verzehren. Doch ich verstehe nicht, wieso er hier ist. Was hat das Ganze zu bedeuten? Die Szene, die ich beobachte wirkt so verdreht. Ich hatte Todesangst um ihn und nun steht er dort an der Bar und unterhält sich, als wäre nie etwas gewesen, mit einer rothaarigen Frau. Was zum Teufel? Verwirrung und Nervosität machen sich in mir breit. Sie wachsen von Sekunde zu Sekunde.
Dann, endlich, nach dem gefühlt hundersten Befehl an sie, bewegen sich meine Füße. Zuerst mit zögerlichen Schritten. Je näher ich ihm hingegen komme, desto schwieriger wird es, mich unter Kontrolle zu halten. Denn mir ist sehr wohl aufgefallen, dass die Hand von dieser Rothaarigen plötzlich auf seiner liegt und sie sich noch näher an ihn drängt. Und Alex? Er betrachtet sie, als würde es ihm gefallen. Als würde er es genießen. Mit voller Konzentration, versuche ich meine Tränen zurückzuhalten. Ich bin kurz davor in sein Blickfeld zu treten. Noch einmal ziehe ich den Atem tief in meine Lungen. Straffe meine Schultern. Doch bevor ich einen weiteren Schritt mache, wandert der Kopf dieser Fremden näher an seinen und ihre Lippen berühren sich.
Mein Herz zerspringt bei diesem Anblick. Meine Lungen scheinen zu versagen. Genauso wie meine Knie. Mein Blick verschwimmt und ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.
Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit damit aufhören, sich gegenseitig die Lippen zu lecken, spüre ich diesen brennenden Blick auf mir. Diese blauen Augen betrachten mich, als würden sie mich zum ersten Mal sehen. Und dennoch wirken sie leer. Das Vorhaben, meine Tränen zurückzuhalten, bricht mit dieser Minute. Sie schießen aus meinen Augen wie kleine Bäche. Verdammt. Es schmerzt so sehr. Ohne es zu wollen tue ich etwas, dass ich nicht für möglich gehalten habe. Ich drehe mich um und laufe zurück zum Ausgang. Scheiße. Was mache ich hier?
Endlich finde ich ihn und dann laufe ich weg? Bei diesem Gedanken stoppen meine Beine. Ich halte ein paar Metern vor der Tür. Ich kann jetzt nicht gehen. Ich muss mit ihm sprechen. Auch, wenn dieser Anblick mich verrückt gemacht hat.
Doch als ich mich umdrehen will und meinen ganzen Mut zusammennehme, um mit ihm zu reden, werde ich plötzlich von starken Armen umklammert und gegen meinen Willen weggezerrt. Ich versuche mich zu wehren. Versuche mit meinen Fingern die Unterarme meines Angreifers zu kratzen. Doch er lässt mich nicht los. Zerrt mich immer weiter. Dadurch, dass er mich von hinten gepackt hat, kann ich das Gesicht meines Angreifers nicht sehen. Die Musik wird immer leiser und als wir in einem weiteren Gang abbiegen und durch eine Tür gehen, verstummt sie fast vollständig. Der Raum sieht aus, wie ein großes Lager. Es stehen alle möglichen Dinge herum. Stühle. Tische und noch viel mehr Kram. Dann erstarre ich erneut.
"Was zum Teufel machst du hier?"
"Alex...Bitte...Ich...Alex...ich weiß nicht...ich habe dich gesucht."
Meine Stimme überschlägt sich vor Verzweiflung.Tränen laufen über meine Wangen. Krampfhaft versuche ich mich loszureißen, gebe aber dann nach einigen Sekunden auf. Genauso wie meine Füße. Jetzt werde ich nur noch durch die starken Arme von Alex gehalten. Was ist mit ihm los? Was ist mit mir los? So viele Sachen die ich ihm sagen wollte. Doch jetzt. In diesem Moment ist alles aus meinen Gedanken gelöscht. Ich spüre nur Schmerz und Liebe. Liebe für Alex und Schmerz über seine Worte. Ich hatte mich so danach gesehnt endlich wieder in seinen Armen zu liegen. Doch so habe ich mir das nicht vorgestellt. Als er spürt, dass ich aufgebe, lässt er mich los und dreht mich so, dass ich auf seine versteinerten Züge blicke. Seine Augen wandern über mein Gesicht und für einen winzigen Augenblick blitzt Überraschung darin auf.
"Verdammte Scheiße! Wieso konntest du es nicht lassen? Ich will nicht, dass du nach mir suchst."
"Alex, bitte komm zurück. Wieso bist du nicht einfach zurückgekommen?"
Die Kälte in seiner Stimme lässt mich erneut Schmerz verspüren. Er spricht, als würde er mit irgendeinem Nichtsnutz sprechen. Als würde ich ihm nie etwas bedeutet haben. Und jetzt flehe ich ihn sogar noch an. Bettle förmlich vor ihm. Doch ich kann nicht anders. Ich brauche ihn und verstehe nicht, was los ist.
"Ganz einfach Anna: Weil ich nicht wollte! Das Leben ist so viel besser ohne diesen verfickten Scheiß. Endlich bin ich frei und ich brauche dich nicht. Du hast mich schwach gemacht. Und jetzt...jetzt bin ich stärker als ihr alle. Verpiss dich und lass. Mich. Verdammt. Nochmal. In. Ruhe!"
Die Worte treffen mich, wie eine Faust, mitten ins Gesicht. Mein Magen zieht sich zusammen und der Boden unter meinen Füßen wird immer wackliger. Doch ich kann jetzt nicht aufgeben. Egal was mit ihm los ist. Ich glaube nicht daran, dass er es ist. Dass, es der wirkliche Alex ist. Der Alex, der mir seine Liebe gestanden hat. Und trotz allem schmerzt es höllisch, diese Worte aus seinem Mund zu hören.
"Alex, egal was Salivana mit dir gemacht hat. Wir können das wieder in Ordnung bringen. Du musst nur mitkommen. Komm einfach mit mir und wir finden eine Lösung. Das bist nicht du."
Obwohl ich dachte, dass es nicht möglich ist, wird der Ausdruck auf seinen Zügen noch kälter, dunkler, gefährlich. Seine Augen färben sich in ein Feuerrot und die Zähne die aus seinem Kiefer schießen, sind größer als je zuvor. Die Adern unter seinen Augen färben sich schwarz und die Sehnen an seinem Hals treten hervor. Mit diesem Anblick schlägt meine Verzweiflung in Angst um. Besonders dann, als er mit seiner, jetzt noch tieferen Stimme antwortet.
"Sie hat gesagt, du würdest versuchen mich wieder zurück zu holen. Aber da muss ich dich leider enttäuschen. Ich werde nicht wieder ein kleiner Alpha. Ich bin zu mächtig, um mich mit solchem Dreck, wie dir und diesem Pack abzugeben. Also, lass es sein. Und wenn du jetzt nicht sofort verschwindest, werd ich dafür sorgen, dass du mir nicht mehr in die Quere kommst."
"Alex, bitte. Bitte. Komm einfach mit mir. Sie manipuliert dich. Das hat sie bei jedem gemacht. Bitte vertrau mir. Du kannst doch nicht alles was wir hatten, vergessen haben?"
"Alles was wir hatten? Ich habe dich gefickt. Nicht mehr und nicht weniger. Und da du jetzt noch immer hier bist, halte ich jetzt mein Wort."
Keine Sekunde später, stürzt er auf mich zu. Seine Zähne bohren sich in meinen Nacken. Schmerz legt sich über meinen Körper. Vergeblich versuche ich mich zu wehren. Drücke mit meinen Händen gegen seine harte Brust. Es ist nicht der Schmerz, der Zähne, die sich in meine Haut bohren, sondern der Schmerz in meinem Herzen, der mich nicht mehr loslässt. Ich kenne diese Situation. Er ist nicht der Erste, der mir mein Blut aussaugen will. Der Ablauf ist mir bekannt. Zuerst verschwimmt meine Sicht und dann fühle ich meinen Körper nicht mehr. Die Energie weicht aus mir und jedes Mal denke ich, dass ich sterbe. Doch irgendetwas ist heute anders. Irgendwie habe ich das Gefühl, er könnte mir nichts tun. Ich weiß selbst, dass es idiotisch ist, weil er mir gerade mein Blut aussaugt. Doch mein Gefühl bewahrheitet sich, als jemand mit einem lauten Krachen, die Tür aufschlägt und auf Alex zustürmt. Er reißt ihn zu Boden, wo ich ebenfalls hinab sinke. Die wenige Kraft die ich noch habe, verwende ich dafür, die Szene vor mir zu beobachten. Es ist Nathan. Irgendwie wusste ich es. Ich wusste, dass er mich spüren wird. Auch, wenn er nicht mehr mein Blut in seinen Adern hat, ist dennoch diese unerklärliche Verbindung zwischen uns.
Die Beiden wirbeln herum. Zu meinem Bedauern scheint Alex stärker zu sein. Es ist zwar kaum zu glauben, aber Nathan ist zu schwach. Alex schleudert ihn durch den großen Raum, als wäre er nichts weiter als ein Ball. Dann sehe ich wie Alex wieder auf ihn zustürmt. Nathan's Gesicht ist bedeckt mit Blut und er versucht aufzustehen. Doch er wird von Alexe erneut zu Boden gerissen. Dann nehme ich ein lautes Knacken wahr. Alex dreht den Kopf von Nathan so schnell zur Seite, dass er sofort danach alle Gliedmaßen von sich hängen lässt. Er hat ihm das Genick gebrochen. Einfach so. Jetzt erst wird mir klar, was das für mich bedeutet und welche Kraft er nun hat.
Mit langsamen Schritten kommt er auf mich zu. Sein Blick leer und dunkel. Es schmerzt ihn so zu sehen. Und es schmerzt noch mehr, zu wissen, was er mir jetzt antun wird.
Doch bevor er auf mich zukommt, versuche ich mich so schnell es geht auf Nathan zu stürzen. Ich versuche, ihn wieder wach zu bekommen. Doch die Reaktion von Alex über meine Sorge für ihn, lässt mich wieder zusammenzucken.
"Ich wusste schon immer, dass du etwas für diesen Wichser übrig hast und du eine Schlampe bist. Hast ihn genauso gefickt wie mich. Er hat`s dir aber sicher nicht so gut besorgt wie ich."
Sein giftiges Lachen lässt die Worte nur noch schmerzvoller erscheinen. Ich versuche ihn zu ignorieren. Versuche Nathan irgendwie wieder zurück zuholen. Packe ihn an den Schultern und schüttle ihn so fest ich kann.
"Du kannst es dir sparen. Er wird dir nicht helfen können. Keiner kann dir jetzt noch helfen."