ANNA
Nachdem ich nun meine Geschichte den neugiriegen Gesichtern vor mir erzählt habe, starren mich Melina und Marius an, als wären sie gerade dem Teufel höchstpersönlich über den Weg gelaufen. Nathan beobachtet uns vom Türrahmen aus, an den er sich mit seiner Schulter lehnt und die Arme dabei verschränkt hat.
"Und jetzt bist du an der Reihe. Über was haben die beiden gesprochen?"
Lautlos stößt er sich vom Türrahmen ab und kommt auf mich zu. Sein Blick wandert zu den anderen und er lässt sich neben mich auf die Couch fallen. Unsere Finger berühren sich dabei für einen Moment, wobei sich erneut dieses vertraute Gefühl über mich legt. So, als würde ich mit ihm verbunden sein. Doch als er meinen Blick findet, löst sich dieses Gefühl in Luft aus. Denn der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkt geqüält. Dieser Ausdruck lässt mich nervös werden. Er hat zwar gesagt, dass es mir nicht gefallen wird. Aber was auch ist, ich muss es wissen. Ich will wissen, was er gehört hat und ob ich auf eine Zukunft hoffen kann. Eine Zukunft mit Alex.
Bevor er jedoch weiterspricht, reißt uns das Geräusch der Tür, die mit einem plötzlichen Knall aufgestoßen wird, aus unserer Runde. Reflexartig springe ich auf, um auf einen möglichen Angriff reagieren zu können. Doch was sich uns für ein Anblick bietet, lässt mich, und alle anderen im Raum ratlos starren. Es sind Peter und Mike, die einen torkelnden David stützen damit er nicht umfällt. Zuerst verspüre ich Sorge um ihn, aber als ich die unverständlichen Worte von David wahrnehme und die anderen beiden nur entschuldigend Lächeln, wird mir klar, dass es nicht so ernst ist wie es wohl aussehen mag. Dennoch besorgt, bewege ich mich auf David suche seinen Blick. Mit meiner Hand greife ich nach seinem Kinn, das gegen seine Brust gesunken ist und hebe es an. Seine glasigen Augen blicken in meine und lallende Worte wandern über seine Lippen.
"Esss tu...mir...so...wollte dich nicht...aber....musste...tut...leid."
Nach der Alkoholfahne zu urteilen, die mir gerade entgegenweht, ist es noch klarer was er in meiner Abwesenheit getrieben hat. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Auf der einen Seite in ich noch immer wütend wegen vorhin, aber andererseits habe ich vielleicht genau das gebraucht. Auch, wenn ich immer noch der Meinung bin, dass es auf einem anderen Weg, einem weniger gefährlicheren, auch möglich gewesen wäre.
"Was habt ihr gemacht?"
Marius stellt sich nun hinter mich und betrachtet die drei, als würde er sie gleich zu zwei Wochen Hausarrest verdonnern. Peter scheint den fiktiven Hausarrest, mit einer entschuldigenden Erklärung verhindern zu wollen.
"Mann, Marius, was sollten wir machen? Er hat sich einfach aus dem Staub gemacht und sich dann einfach alles an Alkohol reingeschüttet was er in die Finger bekommen hat."
"Bringt ihn nach oben. Er sollte bis Morgen wieder auf den Beinen sein."
Mike und Peter nicken und setzen sich dann in Bewegung. Ich höre David's Stimme, die lallend meinen Namen ruft. Ohne zu zögern folge ich ihnen in eines der Schlafzimmer. Mit Mühe versuchen sie ihn am Bett abzusetzen. Dabei kann ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Es sieht zum niederknien aus. Auch auf Mike's Gesicht legt sich ein amüsiertes Lächeln, währrend Peter ihn verflucht.
"Scheiße, Dave, ein bisschen Hilfe wäre schon nicht schlecht."
Nach einigen Minuten des Abmühens haben es die Beiden endlich geschafft und David in einer halbwegs annehmbaren Position auf dem Bett platziert. Seine Augen sind geschlossen aber seine Lippen bewegen sich immer und immer wieder, als er meinen Namen ruft. Also gehe ich auf ihn zu und greife nach seiner Hand, die er ausgestreckt auf dem Bett liegen hat.
"David, ich bin ja hier."
Die Wut ist bei diesem Anblick auf ein Minimum gesunken und als er meine Hand mit letzter Kraft drückt und dann noch einmal etwas flüstert, ist sie vollkommen verschwunden.
"Es tut mir wirklich leid. Ich...ich wollte dir nur hel...fen."
"Ist schon gut. Jetzt schlaf einfach."
Langsam ziehe ich die Decke über ihn, bis zu seinen Schultern. Keine Sekunde darauf höre ich schon das gleichmäßige Geräusch seiner Atemzüge, die mir versichern, dass er eingeschlafen ist. Dabei sieht er so friedlich aus und ich kann kaum in Worte fassen, was es mir bedeutet ihn zu haben. Auch, wenn ich so lange von ihm getrennt war, fühlt es sich an, als würde ich ihn schon eine Ewigkeit lang kennen. Sanft streiche ich mit meinen Fingern eine Haarsträhne aus seiner Stirn und mache mich dann mit den anderen beiden auf den Weg nach unten.
Dort angekommen sitzen Nathan, Melina und Marius noch immer auf der Couch und scheinen bereits auf eine Berichterstattung zu warten.
"Keine Sorge. Er schläft. Morgen kann er sich auf mördermäßige Kopfschmerzen freuen."
Mike gesellt sich zu ihnen und ich ebenfalls. Jedoch bleibe ich stehen und blicke auf Nathan um ihn daran zu erinnern an welchem Punkt wir unterbrochen wurden. Er nickt und alle warten gespannt was er zu berichten hat. Vor allem ich kann meine Neugier kaum zügeln.
"Also gut. Wie ich dir schon sagte, Anna, es wird dir nicht gefallen."
"Ich kann es sowieso nicht ändern, Nathan. Also ist es besser jetzt die Wahrheit zu erfahren, als daran festzuhalten und am Ende doch nur enttäuscht zu werden."
"Okay, also folgendes, diese Rothaarige und Lexa haben darüber gesprochen, dass sie ihn besser kontrollieren wollen. Sie dachten zuerst nicht, dass du ihn finden würdest. Aber sie haben etwas von einer Verbindung gesagt, die du zu ihm haben sollst. Als würdet ihr noch immer verbunden sein und sie wissen nicht, wie das möglich ist. Und jetzt zu dem schmerzhafterem Teil, Alex, also... er ist noch immer der Alex, der er war. Er kann sich an alles erinnern. Jedoch hat er keine Gefühle, die ihn mit dem Vergangenen verbinden. Er hat sie sozusagen abgeschaltet. Besser gesagt verdrängt. In irgendeinem Teil von ihm könnten sie noch existieren. Jedoch stehen die Chancen nicht gut."
Der Boden unter meinen Füßen scheint sich zu bewegen und es fühlt sich an, als würde meine ganze Hoffnung in Luft aufgelöst werden. Alles, woran ich festgehalten habe. Alles, woran ich geglaubt habe, ist weg. Er ist noch immer der Selbe und wollte mich trotzallem umbringen? Er hat alles verdrängt. Er wollte sich nicht an mich erinnern. Warum?
"Anna, er konnte nicht anders. Hätte er an dem Vergangen festgehalten, hätten ihn die Kräfte zerrissen. Er musste es tun um zu überleben. Sein Instinkt hat ihn dazu getrieben."
Wieder einmal fühlt es sich an, als würde Nathan meine Gedanken lesen können.
"Was sollen wir jetzt tun?"
Verzweiflung liegt in meiner Stimme und die mitleidigen Blicke der anderen auf mir, fühlen sich an, wie kleine Stiche in mein Herz. Dennoch, ich habe mir geschworen, dass ich ihn finden und ihn retten werde. Es gibt noch Hoffnung. Auch, wenn sie winzig sein mag, will ich an dieser Hoffnung festhalten. Ich will sie nicht loslassen.
"Wir müssen ihn aufhalten, auch wenn ich keine Ahnung habe wie, da seine Kräfte enorm sind."
Nathan spricht von ihm, als hätte er ihn schon aufgegeben. Als würde er damit rechnen, dass seine Gefühle für mich nicht mehr existieren und er nur noch das Böse in sich trägt. Aber ich kann nicht daran glauben. Obwohl er mich fast umgebracht hätte. Ich will daran festhalten, dass er irgendwo, tief in seinem Herzen noch etwas für mich empfindet. Es kann doch nicht alles verschwunden sein was wir hatten?
Bevor ich etwas erwidern kann, füllt sich der Raum mit Stimmgewirr. Jeder spricht und der Geräuschpegel steigt weiter an. Melina versucht die Jungs zu beruhigen, aber sie sind alle so aufgebracht. Genauso wie ich. Aber dieses Mal ist es anders. Es fühlt sich an, als wäre ich leer. Ausgelaugt durch die Hoffnung, die mich angetrieben hat, ihn zu finden. Jetzt, wo ich ihn gefunden habe, ihn endlich wieder gesehen habe, hat sich alles verändert. Jetzt geht es nicht nur mehr darum, ihn zu retten. Es geht auch darum, einen anderen Menschen zu retten. Einen Menschen, der mir so bekannt und dennoch so fremd ist. Mit dem Wissen zu leben, dass ich den Menschen den ich eigentlich retten wollte, vielleicht nie wieder sehen werde. Die Stimmen der anderen verstummen in meinem Kopf, ich verdränge sie und der Drang alleine zu sein, lässt mich den Weg in die Freiheit suchen. Langsam, mit noch immer starrem Blick öffne ich die Tür, die nach draußen führt, in diesen verwilderten Garten, mit der schmerzhaften Erinnerung an das heutige Erlebnis. Doch hier ist es ruhig und ich kann meine Gedanken besser kontrollieren.
Die Zeit vergeht, ohne zu wissen, wie lange ich hier nun sitze. Vielleicht sind es nur Minuten oder auch Stunden. Aber als die Stimmen im Inneren vollkommen verstummt sind, höre ich das quietschende Geräusch der Tür hinter mir. Ohne mich umdrehen zu müssen, kann ich seine Anwesenheit spüren. Vielleicht konnte ich das ja auch schon vorher, aber jetzt ist es einfach so klar. Als würde ich gar nicht daran zweifeln müssen. Irgendetwas hat sich geändert. Als er vorhin zusammengebrochen ist, hat sich irgendetwas zwischen uns verbunden und ich kann es mir nicht erklären. Vielleicht ist es aber auch einfach nur so ein Gefühl. Doch ich glaube noch immer, dass es etwas mit diesen Visionen zu tun hat, die ich von ihm hatte. Diese Visionen aus einer anderen Zeit, wo er mich auf Händen getragen hat und mich geküsst hat, als wäre ich sein Leben.
"Es tut mir leid. Dass es sich so geklungen hat, als hätte ich ihn schon aufgegeben. Ich will dich einfach nur auf das Schlimmste vorbereiten."
"Ich weiß. Aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben. Nicht einfach so. Ich muss es versuchen."
"Das werden wir. Wir werden alles dafür tun."
Dann spüre ich seine warme Hand auf meiner und wir blicken einander in die Augen. Warme Hand? Was zum Teufel?
"Nathan...deine Hand?"
Er sieht mich an, als wüsste er nicht, wovon ich rede. Bis er es selbst zu fühlen scheint. Doch es ist zu spät, denn seine Augen färben sich in ein Feuerrot. Als würden darin kleine Flammen brennen. Ich springe auf. Versuche ihn wieder zurückzuholen. Doch er bewegt sich nicht. Das Einzige was ich sehe, ist, dass sich sein ganzer Körper verkrampft. Die Adern treten hervor und seine Lider schließen sich, bevor er nach hinten sinkt und leblos liegen bleibt. Panisch schüttle ich ihn. Doch ich kann ihn kaum anfassen. Seine Haut glüht und verbrennt mir fast meine Finger. Meine Stimme zittert, als ich nach den anderen rufe. Irgendjemand muss mir helfen.
Irgendeine Stimme sagt mir, dass ich ihn berühren muss. Ich muss ihn trotz allem berühren. Muss ihn zurückholen. Also lege ich nach kurzem Zögern meine Handflächen auf den überhitzen Körper. Zu meiner Erleichterung kann ich noch immer den Herzschlag in seiner Brust spüren. Doch ich muss all meine Kraft zusammennehmen, um meine Hände nicht wieder wegzuziehen, weil sie ebenfalls fast schon zu brennen beginnen. Damit es nicht so schmerzt, schließe ich meine Augen und konzentriere mich darauf, die Hitze nicht zuzulassen. Wo bleiben die anderen? Ich brauche Eis. Genau das ist es. Ich muss die Temperatur senken. Ansonsten wird er es nicht überleben. Er wird sterben. Ich fühle es.
Dann endlich, mit einem lauten Knall öffnet sich die Tür und die Jungs stürmen auf uns zu. Marius kniet sich sofort neben Nathan und versucht sich einen Überblick zu verschaffen. Doch Melina scheint das Problem sofort zu erkennen und lässt sich auf die Knie sinken um seinen Körper abzutasten.
"Verdammt. Ist er gebissen worden? Anna. Sag es mir."
Die Worte klingen wie verzweifelte Schreie. Panik liegt in ihren Augen und wie eine Verrückte tastet sie noch immer seine rechte Hand ab. Ohne, weiter darüber nachzudenken tue ich es ihr gleich und versuche die andere Hand abzusuchen. Zwar verstehe ich nicht, weshalb wir das machen aber wenn es hilft ihn wieder zurückzuholen, dann werde ich alles dafür tun.
"Hier, ich habe etwas."
Meine Stimme überschlägt sich fast, als ich voller Panik die Worte rufe und darauf hoffe, dass wir ihm jetzt helfen können. Doch der Ausdruck auf Melina's Gesicht lässt mein Herz zerspringen. Diesen Ausdruck kenne ich nur zu gut. Es bedeutet, dass es keine Hoffnung mehr zu geben scheint. Enttäuscht lässt sie sich zurückfallen und ihre Handflächen über ihr Gesicht gleiten. Die Augen, die sich unter diesen Handflächen dann wieder erheben, sind gefüllt mit Trauer und ich glaube eine Träne darin erkennen zu können. Es errinnert mich an diese Vision, die ich von ihr hatte. In der sie ihr Kind zu Grabe getragen hat und nichts dagegen tun konnte. Auch dieser Traum löst bei mir eine tiefe Traurigkeit aus. Genauso, wie Nathan nun so zu sehen und nicht zu wissen was hier los ist.
"Melina. Verdammt. Was?"
Ein lautes Seufzen kommt über ihre Lippen.
"Es wird nicht mehr lange dauern. Er wird sterben."
"Das darf nicht passieren. Was passiert mit ihm?"
"Das, was du hier siehst, sind die Folgen eines Werwolfbisses. Es vergiftet ihn. Lässt sein Blut zu etwas anderem werden. Etwas, mit dem er nicht leben kann. Er wird sterben und ich denke nicht, dass wir dagegen etwas tun können."
"Was heißt du denkst nicht? Gibt es noch eine Chance? Was weißt du?"
"Ich weiß, dass es kaum Hoffnung gibt, denn meine Liebe ist ebenfalls daran gestorben."
Die Verwirrung spiegelt sich in jedem Gesicht, dass auf Melina blickt. Auch ich bin vollkommen überrascht von dieser Neuigkeit. Obwohl ich diese Vision von ihr hatte, wusste ich ansonsten nichts von Melina.
"Der Vater deines Sohnes?"
Ohne darüber nachzudenken und meine Verwunderung verstecken zu können, schießen die Worte aus meinen Mund. Bereits in der nächsten Sekunde bereue ich es, als ich Melina`s schmerzerfülltes Gesicht blicke.
"Woher weißt du das?"
"Es tut mir leid. Ich hatte diese Vision von deinem Sohn und diesem schrecklichen Tag."
Ihre Augen füllen sich mit Flüssigkeit. Doch sie schafft es, sich zurückhalten, als sie ihre Finger über ihre Augen gleiten lässt und dann wieder weiterspricht.
"Ist schon gut. Ich hab es nie jemanden erzählt und es schmerzt daran erinnert zu werden und zu wissen, dass ich nun einen weiteren Freund verlieren werde. Denn das Einzige, was ihn retten könnte, ist unmöglich zu beschaffen."
"Was Melina? Was könnte ihn retten?"
Die Anspannung der anderen und auch meine eigene sind zum greifen nahe. Auch, wenn es nur eine winzige Möglichkeit gibt, ihn zurückzuholen, werde ich es versuchen. Auf keinen Fall will Nathan verlieren. Ein Seufzer kommt über Melina's Lippen.
"Das Blut des Werwolf's, der ihn gebissen hat."
Mit einem Stich in mein Herz legen sich diese Worte in meine Gedanken und lassen mich beinahe die Hoffnung aufgeben. Lassen mich wütend werden. Denn wie sollte ich zum Blut von Alex gelangen? Niemals würde er mir helfen. Er hasst mich.