Kapitel 1
Klatschmohn in der Gegend
~ Claude Monet ~
Sie stand an der Spüle des Einfamilienhauses, das sie seit sechs Jahren mit ihrem Mann Robert bewohnte und in dem locker Platz für fünf Familien gewesen wäre. Sie sah gedankenverloren aus dem Fenster auf die Straße, die sich unter dem prasselnden Regenguss langsam in einen reißenden Fluss verwandelte. Sie spülte die Teller mechanisch, wie alles, was sie in diesem Haus tat, welches sie in ihrem Kopf als gläsernes Gefängnis bezeichnete.
Sie besaßen eines dieser modernen Häuser mit einer Fassade aus Glas und teuren Möbeln, die auf dem teuren Boden um den ersten Preis einer Schönheitskonkurrenz wetteiferten, die erst noch erfunden werden musste. Es war ein dreistöckiges wunderschönes Gebäude mit einem Spitzdach aus dunkelgrauem Schiefer. Es besaß einen Salon für Rob und seine Geschäftsfreunde, den sie nur betreten durfte, wenn sie Ihnen Häppchen und Aperitifs servierte. Direkt daneben befand sich eine Bibliothek mit Büchern, von denen sie kein einziges interessierte. Nicht, dass sie nicht gern gelesen hätte, doch ihre Groschenromane – wie Rob sie nannte – fanden genauso gut in ihrer Kommode im Schlafzimmer Platz. Das Wohnzimmer beherrschte beinahe das gesamte Untergeschoss und bot keinerlei Gemütlichkeit bis auf die kleine Ecke weitab der verglasten Wände, die sie sich in einem langen Disput mit ihrem Mann erkämpft hatte. Es war ein hölzerner Schaukelstuhl vor dem Kamin, von dem aus sie das Treiben draußen beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Denn das war ihr am liebsten.
Es gab noch viele weitere perfekt eingerichtete Räume im Haus, die niemand jemals bewohnte außer ihres Hausmädchens Nancy. Doch ohnehin war sie die meiste Zeit in der Küche. Zuerst, weil Rob es verlangt hatte. „Eine anständige Ehefrau soll in der Lage sein, ein anständiges Essen zu kochen“
Doch irgendwann hatte ihr das Herumexperimentieren mit den verschiedenen Zutaten und Gewürzen Spaß gemacht und ihrem Leben einen Sinn gegeben, den sie lange Zeit vorher vermisst hatte.
Rob war ein vermögender Banker, schon damals als sie als naive Unschuld von siebtzehn Jahren seine Frau geworden war. Er hatte sie mit Rosen umschmeichelt, sie in seinem teuren Auto von der Highschool abgeholt und sie war so geblendet gewesen von seinem Reichtum, seinem guten Aussehen und seiner Art, die so anders war als die der unreifen Jungs an ihrer Schule, dass sie seinem Werben nachgegeben hatte.
Heute war sie eine reiche verheiratete Frau. Hier in den Hamptons, wo Long Island viel mehr als nur ein Eistee war, gehörte es sich nicht, dass die Frauen selbst auszogen, um Geld zu verdienen oder einer anderen Karriere nachzugehen, als der, ihrem Mann eine gute Frau zu sein. Sie durfte sich kaufen, was sie wollte, konnte ihre Zeit in den Country Clubs der Schönen und Reichen verbringen.
Schließlich war sie selbst nicht weniger als das. Ihr langes blondes Haar, das ihr bis über die Hüfte reichte war seidenweich und sprach von teurer Pflege. Ihre Haut war weiß und makellos, was weniger ihrem Bankkonto als guten Genen ihrer Familie mütterlicherseits zu verdanken war. Sie hatte große rauchgraue Augen, mit denen es ihr ein Leichtes gewesen war, einen gutaussehenden reichen Mann wie Robert dazu zu bringen, sie zu heiraten. Nur, dass es ihr damals gar nicht ums Geld gegangen war. Sie hatte wirklich geglaubt, sich in diesen Mann verliebt zu haben.
Heute konnte sie es nicht mehr sagen. Heute war sie klüger. Heute wusste sie, dass sie nur ein hübsches Spielzeug für ihn gewesen ist, eines von vielen, wenngleich sie doch das Privileg bekommen hatte, seinen Namen tragen zu dürfen. Sie erwartete längst keine Blumen mehr, die bekamen nun die Frauen, die er auf seinem Schreibtisch vögelte, wenn er ihr sagte, er müsse mal wieder Überstunden machen. Es war ein Leichtes für sie gewesen, das herauszufinden, auch wenn er sie nach wie vor für ahnungslos hielt.
Und seit sie es wusste, hatte auch sie damit aufgehört, abends auf ihn zu warten. Stattdessen hatte sie sich ebenfalls neue Anreize gesucht und diese in der Kunst gefunden.
Sie trocknete sich die Hände ab und glättete den Zeitungsausschnitt, der seit heute Morgen auf der Spüle lag. Zu sehen war ein verwaschenes Ölgemälde von Monet. Darauf zu sehen war ein Mohnfeld und dahinter ein kleines Haus, welches sie als so heimisch empfand, das sie zu gern durch das Bild gestiegen wäre, um durch den Mohn zu laufen zu einem Haus, in welchem sie vielleicht wirklich erwartet würde.
Sie faltete lächelnd den Artikel zusammen und steckte ihn sich in die Tasche ihrer teuren Seidenbluse, ehe sie sich daran machte das Haus zu verlassen. Sie würde sich das Bild in der Galerie ansehen gehen und herausfinden, ob es den Aufwand wert war, es zu ihrem eigenen zu machen.
Regen prasselte auf die Windschutzscheibe des schwarzen Ford Crown Victoria, den Detective Graves nun seit Anfang seiner Karriere beim NYPD fuhr. Gebeten hatte er den Commissioner, ihm einen der neuen Dodge Charger zu überlassen.
„Man kann es sich nunmal nicht aussuchen“, hatte dieser nur trocken erwidert. Ein Charger hätte wenigstens eine vernünftige Heizung gehabt, regelmäßig musste er die beschlagenen Scheiben freiwischen, und hätte er gewusst, wie lange er letztendlich vor dem Metropolitan Museum of Art warten musste. Drei Stunden in klirrender Kälte, in einem halb defekten Ford, wartend auf eine unbekannte Person, die vielleicht auftaucht, möglicherweise auch nicht.
Es gibt durchaus angenehmere Wege, einen Freitagabend zu verbringen. Direkt hinter ihm war ein italienisches Restaurant, Giovanni Venticinque. Viel zu teuer für seine Gehaltsklasse, allerdings gerade perfekt für die umliegenden Bewohner der E 83rd Street, zwischen Fünfter- und Madison-Avenue.
Derrick spielte an einem abgenutzten Stück Plastik herum, dass von der Mittelkonsole seines Wagens abgefallen war. Zehntausend Gäste würden dieser Ausstellung in drei Tagen beiwohnen. Darunter vielleicht ein Kunsträuber. Eine komplette Einsatzgruppe des NYPD war abgestellt worden, um die Sicherheit der ausgestellten Gemälde zu gewährleisten. Doch der Commissioner wusste genauso gut wie Derrick, dass jeder Treffer hier ein Glücksgriff wäre.
„NYPD, hier Detective Graves, bitte um Ablösung an der Eighty-Third, ich will mir den Laden mal von innen ansehen.“
In der Sekunde, in der er die Autotür aufschwang, war er auch schon komplett durchnässt. Die langen, dunkelblonden Haare hatten sich zu einem golden schimmerndem Schwarz verfärbt, die nun in seinem Gesicht hingen. Er strich sie sich aus seinem Sichtfeld und lief mit schnellen Schritten auf den Haupteingang des Met zu. Sein dunkelblauer Trenchcoat konnte ihm vor all dem Wasser kaum Schutz bieten.
Ausgerechnet er hatte den Beobachtungspunkt bekommen, der am Weitesten vom nächstgelegenen Eingang entfernt war. Aus der Perspektive seines Autos war die sonst so belebte Upper East Side beinahe menschenleer, aber je näher er an die Fifth Avenue kam, desto deutlicher war die Traube an Menschen sichtbar, die sich vor den Treppen zum Eingang gebildet hatte.
Zu seinem Glück war die Schlange vor dem Eingang unter einer Art Pavillon vor dem Regen geschützt. Seine Dienstmarke durfte er an der Tür nicht vorzeigen, das war Teil der Mission. Niemand im NYPD wusste genau, wie gut sich der Räuber vorbereitete, aber eine Erfolgsquote von 100% war definitiv Grund genug, mit größtmöglicher Sorgfalt vorzugehen.
Obwohl sich die Schlange relativ zügig fortbewegte, nahm sich Derrick die Zeit, alle Personen in der Umgebung einmal gründlicher unter die Lupe zu nehmen. Verdächtig kam ihm allerdings nichts vor. Ein Herr sah ständig auf sein Smartphone, etwas nervös, aber wer tat das in New York City nicht? Ein anderer sah häufig zum Dach hinauf, wieder ein anderer schaute sich ständig über die Schulter um, eine Gruppe Herren hatte größere Rucksäcke dabei. Einer, fast noch ein Junge, schien sich pedantisch die Lederhandschuhe zu reinigen. So, als ob er keine Spuren hinterlassen wollte. Oder so, als ob er einfach an einem gewöhnlichen Putzfimmel litt. Hier war niemand wirklich verdächtig, aber jeder etwas. Mitten im Gedanken war er an der Reihe. Das Wachpersonal am Eingang musterte ihn kurz.
„Name?“, fragte eine große, stattliche Person barsch.
„Graves. Ich habe eine Einla...“
„Okay, Sie können weiter“, wurde der Detective spontan unterbrochen. An engagiertem Personal mangelte es hier scheinbar etwas. Aber wenn man das NYPD überall patroullieren hatte, konnte man sich auch schonmal die Kosten für das Personal sparen.
In langen, weit ausfallenden Schritten bewegte sich Derrick bis zum hinteren Ende der Eingangshalle. Vor ihm hing ein Schild. Es verwies auf Kandinsky, Kirchner, Nolde und Chagall zur Linken, der Flügel für expressionistische Kunst. Renoir, Monet, Van Gogh zur Rechten, Impressionismus. Geradeaus ein Ensemble verschiedener Künstler der klassischen Epochen. Sein Blick wanderte nach oben, zur gläsernen Dachkuppel der Halle, von der Regentropfen abprallten und langsam hinabliefen.
„Wo bist du?“
Sie näherte sich dem Museum in dem nachlässigen Studentinnen-Look, der zwei Stunden akribische Vorbereitungszeit benötigt hatte. Sie hatte kaum Make-up aufgelegt, doch ihre Augen mittels buntem Lidschatten groß und unbedarft gezaubert. Der hohe unordentliche Zopf schenkte ihr noch einmal fünf Jahre, auch wenn der Regen sie ihr fast schon lasziv an der Haut kleben ließ. Die zerfetzten Jeans und der Oversize-Pullover taten ihr Übriges. Die neugekauften Converse hatte sie so lange mit einer Küchenschere bearbeitet, dass sie gerade noch gepflegt genug aussahen, um im Met Einlass zu finden. Über ihrer Schulter hing lässig ein schwarzer Rucksack, der übersäht war mit bunten Buttons sowie einem Aufnäher der Tierschutzorganisation "Sea Shepherd", den sie in Rekordzeit in ihrem Auto angenäht hatte.
Kritisch besah sie ihr Spiegelbild in einer der überdimensionalen Fensterscheiben der 5th Avenue und dachte zufrieden, dass sie gut und gerne als Anfang zwanzig durchging. Zur Krönung setzte sie noch eine große Brille mit schwarzen Rahmen auf. Diese hatte sie in einer Drogerie um die Ecke gekauft, zusammen mit den Requisiten, bestehend aus Block und Stift, mit denen sie sich nun bewaffnete, ehe sie mit einem begeisterten, einstudierten Lächeln die Stufen des Metropoleum Museums of Arts hinauflief.
Eine der Frauen im teuren Businesskostüm am Kartenschalter musterte sie beinahe schon abwertend, so als ob sie bezweifelte, dass sie das nötige Kleingeld für die Eintrittskarte besaß. Sie kramte so lange in ihren Taschen nach dem Geld, wie es die Dame am Schalter zweifelsohne erwartete und förderte schließlich grinsend einen zwanzig Dollar-Schein zutage.
Als die Dame mit gespitzten Lippen die Eintrittskarte über den Tresen schob und sich schon dem nächsten Besucher zuwenden wollte, schob Emily Singer - wie sie sich als Studentin nannte - demonstrativ ihren Studentenausweis über den Tresen. "Sie schulden mir noch fünf Dollar, Miss. Ich bin für meine Bachelor-Arbeit hier, wissen Sie?"
Natürlich hatte sie das nötige Kleingeld und war nicht auf Sparmaßnahmen angewiesen, doch sie war eine geborene Perfektionistin und so zog sie ihre Rolle gnadenlos durch. Außerdem bereitete es ihr ein diebisches Vergnügen zu sehen, wie die Dame am Schalter kritisch ihren perfekt selbstgefälschten Ausweis prüfte und ihn ihr resigniert mit einer fünf Dollar Note zurückgab.
"Vielen Dank." Grinsend wandte sie sich ab und machte sich vergnügt auf eine Entdeckungstour durch das Museum. Zuerst kramte sie in ihrem Rucksack nach dem Museumsplan, wobei sie absichtlich ihr Haarspray herausfallen ließ, welches lautstark auf die Fliesen knallte. Die Leute drehten sich kopfschüttelnd zu ihr um. Sie tat peinlich berührt und packte es hektisch wieder ein. Wer versuchte, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, erregte viel Aufmerksamkeit.
Liv - wie sie sich insgeheim in ihrem zweiten Leben nannte, wenn sie nicht gerade gezwungen war, andere Identitäten anzunehmen - war die geborene Täuscherin. Genauso wie sie bei Rob die glückliche Ehefrau spielen konnte, schlüpfte sie nun mühelos in die Rolle der schusseligen Studentin Emily. Vielleicht wäre sie, wären die Dinge früher anders für sie gelaufen, Schauspielerin geworden.
Sie schlenderte in gespielter Planlosigkeit durch die Räume, blieb hier und da vor einem Gemälde stehen und machte sich eifrig Notizen. Natürlich wusste sie genau, wo ihr Zielobjekt hing, doch sicher wäre sie nicht so dumm, es als erstes anzusteuern. Sie musste die richtige Zeit abwarten. Doch nicht zu lange. Es durfte nur ein Zwischenstopp von maximal zehn Minuten sein, ehe sich die Studentin Emily wieder Dingen zuwandte, die sie mehr interessierten als ein Gemälde von roten Blumen.
Während sie lässig durch die Räume schritt, prägte sich ihr messerscharfer Verstand alles ein. Die Notausgänge, die Lage der Fenster, die Höhe der Decken, mögliche Nischen als Versteck, sollte es hart auf hart kommen. Doch soweit dachte sie kaum, denn sie war noch nie erwischt worden. Sie tat es seit drei Jahren. Und sie war gut.
Sie bog in den Flügel der Arts of Africa ab und stellte sich staunend vor eine der großen Maskenskulpturen, bei deren Betrachtung man fast schon die Trommeln im Hinterland Afrikas hören konnte. Während sie eine Skizze davon anfertigte, nahm sie aus den Augenwinkeln die Leute im Raum ins Visier. Eine Reisegruppe ließ sich gerade die Skulptur neben ihr erklären – eine afrikanische Frau mit einem Neugeborenen zwischen den Schenkeln, die in der typischen Gebärhaltung der Bantu neues Leben auf die Welt brachte.
Als ein weiterer einzelner Mann den Raum betrat, stellte sie sich automatisch zu der Reisegruppe und tat so, als höre sie zu, während ihre Sinne gespannt waren wie die Sehnen eines Bogens.
Der Neuankömmling roch förmlich nach Cop. Für Liv hatte sich mit seinem Eintreten die komplette Atmosphäre des Raumes geändert. Zwar hatte er nicht das typische Aussehen eines Cops – aus den Augenwinkeln meinte sie, lange nasse Haare zu sehen, doch sie wagte sich nicht, genauer hinzuschauen. Sie vertraute ihrem Gespür, welches ihr einen Menschen verriet, der seine Umgebung beobachteten. Schließlich tat sie nichts anderes. Ihr war die Gefahr der Situation durchaus bewusst, denn wenn er gut war, konnte er sie ebenso erspüren wie sie ihn.
Doch wenn sie sofort die Flucht ergriff, würde sie sich verraten und so harrte sie noch zehn Minuten aus und verließ mit der Reisegruppe zusammen den Raum. Sie wandte sich noch einmal um, doch er folgt ihr nicht und so machte sie sich zu ihrem eigentlichen Ziel auf den Weg, darauf bedacht, ihre Schritte gleichmäßig zu halten.
Sie betrat die Welt des Impressionismus und nahm die anderen Gemälde nur am Rande ihres Sichtfeldes war wie Felder, an denen man auf der Autobahn vorbei raste. Das Zielobjekt hing in einer anheimelnden Ecke, welche einem Wohnzimmer nachempfunden war über einer alten viktorianischen Couch, neben der eine ebenso alte Stehlampe stand und sanftes Licht auf die roten Blüten auf dem Gemälde warf.
Völlig selbstvergessen trat Liv näher heran und sah auf das kleine Häuschen hinter dem Mohnfeld, welches sich so geborgen in die Berge schmiegte. Die Sehnsucht, die sie bei diesem Anblick ergriff, riss sie beinahe von den Füßen. Ja, sie musste es besitzen, um es immer wieder ansehen zu können, wenn sie sich wurzellos und verloren fühlte.