Kapitel 3
Spielende Formen
~ Franz Marc ~
Liv wusste, sie sollte sofort die Stadt verlassen und sich ein anderes Ziel suchen. Der Cop hatte sie ins Visier genommen. Auch wenn sie ihre Rolle mit Bravour gemeistert hatte, glaubte sie dennoch nicht, dass er sich aus reinem Vergnügen mit einer einfachen Studentin unterhalten hatte. Oder in einer Galerie herumschlenderte.
Auch wenn sie nicht jede seiner Lügen durchschaut hatte, so glaubte sie ihm doch, dass er morgen Abend hier auf sie warten würde. Und sie wäre närrisch, ihm dann direkt in die Arme zu laufen. Eigentlich hatte er ihr mit seiner Konfrontation die Chance gegeben, von ihrem Plan abzuweichen und den Monet zu vergessen. Doch Liv war nicht gut im Vergessen.
Es war nicht allein das Bild, das konnte sie sich beim besten Willen nicht einreden. Irgendwie hatte er sie mit seinem Verhalten geradezu herausgefordert, es sich zu holen. Sie wusste, sie hatte sich töricht verhalten und ihren Auftritt als Emily gefährlich übertrieben. Doch die Unterhaltung hatte ihr so viel Spaß bereitet wie zuvor schon lange nichts mehr. Und da war noch etwas anderes. Er reizte sie. Sie fand es faszinierend, einem Menschen zu begegnen, der es genauso gut wie sie verstand, Poker zu spielen.
Sie besah sich ihr Gesicht im zerbrochenen Spiegel der öffentlichen Toilette des Central Parks. Die übertriebene Mädchenschminke hatte sie entfernt, ebenso den Zopf, sodass ihr langes Haar nun wieder in sanften Wellen über ihre Schultern floss. Sie zog sich das edle Chanellkleid an und stopfte die Requisiten und Kleider der Studentin in eine große Plastiktüte.
Während sie ihre Pumps wieder überzog, klingelte ihr Telefon. Sie stöhnte auf. Das konnte nur Rob sein, der eher zuhause war und sich fragte, wo sie war. Sie würde sich beeilen und den Monet vergessen müssen.
Ein Blick auf ihr Handydisplay sagte ihr jedoch, dass es ihr Hausmädchen war. Erleichtert nahm sie ab. „Nancy, ich grüße Sie.“
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, Mrs. Carstairs.“, begrüßte das Mädchen sie höflich. „Ich wollte Sie nur darüber informieren, dass Ihr Mann anrief. Er lässt ausrichten, dass er über das Wochenende geschäftlich in Florida ist.“
Mit einer seiner Geliebten, während er stets zu viel zu tun hat, mit ihr zu verreisen. Ein gefährliches Lächeln breitete sich auf Livs Gesicht aus. „Verstehe. Danke Nancy. Ich werde selbst über das Wochenende fort sein. Nehmen Sie sich doch die Tage frei.“
„Oh, das ist sehr großzügig, Mrs. Carstairs!“ Sie hörte die unverhohlene Freude in der Stimme der anderen Frau.
„Dafür erwarte ich absolute Verschwiegenheit, haben Sie mich verstanden, Nancy?“, fragte sie lächelnd.
„Natürlich, Ma’m. Wie immer.“, erwiderte die andere Frau.
Nun, das öffnete ihr völlig neue Möglichkeiten. Kurzerhand schnappte sich Liv die Tasche mit Emilys Sachen und verließ die Toilettenkabine. Die Sonne hatte den Regen verdrängt und wärmte ihr Gesicht, während sie durch den Park schritt, vorbei am Museum zu dem pompösen Hotel, welches sich genau auf der gegenüberliegenden Seite der Straße befand.
Selbstbewusst betrat sie das gigantische Foyer mit den roten fluffigen Teppichen. Die Blicke der Angestellten am Empfangstresen richteten sich sofort auf sie. Liv wusste, sie sahen ihr den Reichtum an. Und so behandelte man sie auch.
Ein Page kam eilig zu ihr. „Willkommen in the Mark Hotel, Miss. Darf ich Ihnen das Gepäck abnehmen?“
Sie ließ es lächelnd in seine Hände sinken und ging zum Tresen, hinter welchem sie eine lächelnde Angestellte erwartete. „Guten Tag. Ich hätte gern das schönste Zimmer mit Ausblick auf den Park, das Sie mir bieten können.“
„Sie haben Glück, gerade ist eine unserer schönsten Suiten freigeworden. Wie lange möchten Sie bleiben?“, fragte die Angestellte freundlich.
Liv lächelte sanft. „Bitte checken Sie mich bis Montagabend ein.“ Sollte der Job unerwartet länger dauern, wäre es unklug, sich zu lange an ein und demselben Ort einzuquartieren.
„Ihren Namen und Ihr Geburtsdatum benötige ich bitte noch.“
„Siebter Juli achtundachtzig.“, erwiderte sie ohne Zögern. „Shannia Roberts.“ Sie förderte die passende Kreditkarte mit dem Ausweis zutage und fragte sich gleichzeitig, ob sie noch ein Konto für Emily eröffnen sollte, verwarf den Gedanken aber schließlich. Diese Identität würde sie nur noch einmal brauchen. Und zwar morgen Abend für den Cop.
Die Garden Suite war ein Traum aus weichen Teppichen, ausladenden Sesseln, stylischen Möbeln und einem atemberaubenden Blick auf den Central Park – und was für sie noch viel wichtiger war – auf das Museum.
„Ist alles zu ihrer Zufriedenheit, Miss?“, fragte der Page, der gerade mit den beiden Taschen hinter ihr in der Tür erschienen war.
Sie sah hinunter auf das Museum und lächelte. „Es ist perfekt. Oh, stellen Sie die Taschen einfach vorn ab, bitte.“
„Kann ich noch etwas für Sie tun?“, fragte der junge Mann.
„Danke, nein.“, sagte sie lächelnd und reichte ihm ein großzügiges Trinkgeld.
Sobald er verschwunden war, ging Liv wieder ans Fenster und sah auf das Metropolitan Museum herab wie die Königin ihres eigenen Königreiches. Sie konnte viele Dachfenster erkennen. Das Gemälde befand sich auf einer leichten nicht allzu großen Leinwand. Fünfzig mal fünfzig schätzte sie. Clever auf den Rücken gebunden könnte sie es mit ihrer schlanken Statur damit sogar durch einen Schacht schaffen. Doch es waren noch einige Recherchen von Nöten, ehe sie eine finale Entscheidung darüber trat, wie sie es angehen sollte.
Und immer wieder schweiften ihre Gedanken ab zu dem Cop. Sicher war ein Treffen mit ihm mehr Mittel zum Zweck, um die Gegend noch besser in Augenschein zu nehmen, doch normalerweise ließ sie sich vor einem Zugriff nie zweimal am Tatort sehen. Sie fand es interessant, dass sie sich darauf einließ und spielte sogar kurz mit dem Gedanken, in ihrer wahren Gestalt zu erscheinen, ehe sie ihn lächelnd wieder verwarf.
„Du benimmst dich kindisch.“, schalt sie sich selbst. Sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren, doch das hinderte sie nicht daran, das Treffen als netten Abstecher auf ihrem Weg anzusehen.
Die Straßen New Yorks verschwammen vor seiner Windschutzscheibe, sein Ford bahnte sich den Weg durch den dichten Verkehr des FDR Drive. Zu seiner Rechten ragten gigantische Glasfassaden hoch auf, sich beinahe über ihn beugend, den Himmel verdeckend. Zu seiner Linken der East River, jenseits davon Queens und Brooklyn. Vor ihm bahnte sich die Williamsburg Bridge an. Das leicht bläuliche Stahlskelett war als einzige der drei Brücken im Süden Manhattans schon aus der Ferne zu sehen. Gleichzeitig war sie sein Heimweg.
Seine neue Wohnung in Williamsburg, der Metropolitan Avenue, war keineswegs schlecht, aber ernüchternd, in Anbetracht der Tatsache, dass sie den größten Teil seines Gehalts vereinnahmte. Noch konnte er allerdings nicht den altbekannten Weg nehmen, der ihn zur Auffahrt der Brücke führte. Er durfte nun noch dem Commissioner berichten.
Derrick schaltete das Radio ein. Die Sendersuche sprang automatisch auf 97.9, KissFM. Der Radiomoderator bewarb gerade Fastrac Coffee, machte eine ziemlich unverständliche Ansage und spielte dann 'Homecoming' ein. Er drehte das Radio lauter. Nicht, weil er das Lied besonders mochte, sondern um die hunderten Hupen, die hier gleichzeitig am Werk waren, zu übertönen.
Als er vor Jahren von Flemington in den Big Apple gezogen ist, hätte er nie gedacht, dass ihm die Geräusche der Stadt einmal auf die Nerven gehen würden. Aber an Tagen wie heute hätte er sie einfach gern abgestellt. An der Abfahrt der Brooklyn Bridge schluckten ihn die Häuserschluchten dann endgültig. Sofort tauchte der große, braune Block auf, der das Hauptquartier des NYPD war.
Je näher er kam, desto bekannter wurde alles. Die Schleifen, die er an der Park Row drehen musste, um auf die richtige Straße zu kommen, das Pförtnerhaus an der Einfahrt des Geländes, an dem er nicht einmal mehr seine Dienstmarke vorzeigen musste. Einige Gesichter kannte hier jeder. Sogar seine Parkplatznummer kannte er mittlerweile besser als seine eigene Telefonnummer.
Einen Moment blieb er im Wagen sitzen, ließ das Lied ausspielen. Die letzte Textzeile kam bei ihm kaum noch bewusst an. 'Maybe we could start again'. Sanft prasselten die Regentropfen auf den Wagen, das war ein anderer Regen als vorhin, leichter, beinahe schon erfrischend. Schließlich griff er zum Türgriff und drückte die Wagentür auf. Mit hastigen Schritten lief er durch die Drehtür, zum Aufzug, hinauf in den neunten Stock des Departments. Die Aufzugtüren schwangen auf. Direkt ihm gegenüber stand Elijah, sein ehemaliger Partner. Derrick hatte vor Monaten darum gebeten, allein arbeiten zu dürfen. Nicht, weil er Elijah nicht mochte, sondern weil er Gesellschaft nicht mochte.
„Der Commissioner wartet schon“, meinte dieser, zwei Ordner in der Hand, und betrat den Aufzug, den Derrick soeben verließ. Bevor sich die Türen wieder schlossen, begab er sich vorbei an den Schreibtischen der dutzenden Detectives zum Hauptbüro am anderen Ende des Raumes.
„Detective Graves! Da sind Sie ja!“, rief eine Stimme aus dem Büro. Auch, wenn er sie eindeutig Commissioner Hernandez zuordnen konnte, tat er sich einen Moment lang schwer, diesen in dessen Büro zu finden. Das Licht war karg, künstliche Beleuchtung gab es gar nicht. Die einzige Lichtquelle waren die Lichter der Stadt, die durch die Jalousien einfielen und den Raum in regelmäßigen Abständen in hell und dunkel teilten. Aus irgendeinem Grund arbeitete Hernandez lieber im Halbdunkel.
„Ja, Sie wollten mich sprechen. Wegen dem Mädchen, nehme ich an?“
Ein kurzer Blick der Verwirrung zeichnete sich auf dem Gesicht seines Vorgesetzten ab. „Was? Nein, es geht um den Anderen, den Typen aus der Haupthalle, auf den Sie uns aufmerksam machten. Es gab einen Treffer in der Datenbank. Der Typ ist schon häufiger wegen Diebstahl auffällig geworden. Kunst noch nicht. Zumindest nicht bekannt. Wir sind uns sehr sicher, dass er es ist“
„Sie trauen dem zu, drei Jahre lang unentdeckt Kunst im Wert von Millionen zu stehlen?“, fragte er ungläubig.
Hernandez lehnte sich etwas nach vorn. „Sie trauten es einem kleinen Mädchen zu, Graves. Ich bitte Sie“
Derrick wandte sich ab, schaute nun durch die Spalten der Jalousien, sein Gesicht in ein Film Noir-esques Schattenmuster getaucht. „Ich treffe mich trotzdem mit ihr. Ich traue ihr nicht. Vielleicht ist sie nicht die Person, die wir suchen, aber irgendwas an ihr ist faul. So richtig“
Er schaute zurück zum Schreibtisch, wo die nun noch mehr in Schatten getauchte Gestalt nur mit ihren Schultern zuckte, bevor sie ihre kräftigen Arme auf der Holzplatte abstützte. „Tun Sie, was Sie wollen. Aber bleiben Sie bei der Mission. Auch, wenn wir Sie nicht unbedingt körperlich brauchen, mental brauchen wir hier jeden Detective.“
Durch die Spalten erkannte Derrick eine Frau, die mit ihrem Baby am Fuß der Brooklyn Bridge ankommt. In der Hand hielt sie etwas, das wie Blumen aussah. Einen Moment lang folgte sein Blick der Person in der Ferne. Sie legte die Blumen ab, an einem Geländer, dass Straße und Gehweg trennt. Ein sichtlich neuerer Abschnitt als die Umliegenden. Er war wohl vor gar nicht so langer Zeit ersetzt worden. Seine Gedanken wanderten ab, er malte sich die Szenarien aus, eins düsterer als das Andere. Dann riss der Commissioner ihn abrupt aus seiner Gedankenwelt. „Gehen Sie nach Hause, Graves, und trinken Sie ein Glas Wein“.