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Amy tastete sich vorwärts, bemüht, nicht über irgendetwas zu stolpern. Wo war die Küche? Vielleicht hätte sie vorher einmal durchs Haus gehen sollen, um sich zu orientieren, o h n e Riesenkarton vor den Augen. Zu spät. Amy schob sich langsam weiter, als sich plötzlich irgendetwas an ihren Beinen vorbeidrückte. „Huch“, machte Amy überrascht und versuchte dann, den Karton durch einen Türrahmen zu manövrieren, hinter welchem sie die Küche vermutete. Hinter sich hörte sie einen lauten, energischen Pfiff. Fast gleichzeitig versuchte sich daraufhin irgendetwas Großes aus der Küche heraus energisch an ihr vorbei zu drängen. Nun geriet Amy endgültig ins Schwanken und stieß einen erschreckten Laut aus, während sie einen Schritt zurück machte. Einen Augenblick hatte sie das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, doch dann prallte sie an etwas Großes und spürte, wie zwei Hände ihre Oberarme umfassten, um ihr Halt zu geben. „He, he …Vorsicht. Nicht hinfallen!“, hörte sie eine bekannte, leicht amüsierte Stimme hinter sich. So – und jetzt blieb ihr Herz stehen, oder?
Sie fuhr herum, den Karton immer noch in den Händen.
Vor ihr stand…Steve Collins! Er trug Turnschuhe, Jeans und ein kariertes Hemd, dessen Ärmel er aufgekrempelt hatte, locker über der Hose. Die Brille war verschwunden. Er lächelte auf sie hinunter.
„Hat er Sie erschreckt? Das tut mir leid.“ Lächelnd wies er mit dem Kopf auf einen großen Berner Sennen Hund, der neben ihm stand und erwartungsvoll hechelnd zu ihm aufschaute.
Amy war wie erstarrt und schaute ihn mit großen Augen an.
Er war es – und doch war das ein völlig anderer Mann, der da vor ihr stand. Als hätte er sich einer Verkleidung entledigt und wäre nun er selbst. Sein Anblick – und zudem so unerwartet – brachten Amy völlig aus der Fassung. Sie erwachte aus ihrer Starre und bekam buchstäblich weiche Knie. Der Karton rutschte ihr aus den Händen und ging mit lautem Scheppern zu Boden. Der Hund suchte winselnd das Weite.
Ohne den schützenden Karton zwischen sich und ihrem Lehrer fühlte Amy sich entsetzlich unsicher, zudem sie weder sprechen noch klar denken konnte. Was machte ER hier? Er konnte doch unmöglich …
Es war wie heute Morgen. Mein Gott, wie peinlich – was mochte er von ihr denken? Wie so oft wünschte sie sich, sie wäre ein bisschen wie Faith und hätte jetzt mit einem lockeren Spruch über diese Situation hinweg gehen können. Sie wagte kaum, zu ihm aufzusehen, doch als sie es dann tat, sah sie, dass er sie noch immer freundlich anlächelte. Amy wurde rot und ging in die Hocke, einerseits, um den Karton wieder aufzuheben, andererseits um sich irgendwie aus dieser Situation zu retten. Steve jedoch war gleichzeitig auch in die Hocke gegangen und um ein Haar wären sie mit ihren Köpfen aneinander gestoßen.
„Das war knapp“, schmunzelte Steve. Dann schwieg er und wie schon morgens im Klassenzimmer fanden sich ihre Blicke. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Diese Nähe war verwirrend, doch Amy konnte ihren Blick nicht von seinen blauen Augen, die nun ohne die Brillengläser noch viel intensiver leuchteten, abwenden. Ihr Herz begann wild zu klopfen und Steve schien es zu bemerken.
„Oder habe ich Sie erschreckt?“, fragte er mit leiser Stimme. Seine Augen schienen sanft aufzuleuchten.
Amy wagte nicht, sich zu rühren. Bildete sie sich das nur ein, oder hatte seine Stimme fast zärtlich geklungen? Die Zeit schien still zu stehen. Irgendetwas hatte ein ganz zartes Band um diese beiden Menschen geschlungen, das es ihnen unmöglich machte, diesem Moment zu entfliehen. Es schien nur sie beide zu geben. Noch immer waren ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander getrennt. Amy konnte seinen Atem spüren … und nahm unbewusst seinen Geruch war, eine Mischung aus After Shave und seinem ganz persönlichen Geruch.
Steve hob seine Hand und wollte Amy eine Strähne ihres kupferroten Haares aus dem zart geschnittenen Gesicht streichen, als sie eine Stimme hinter sich hörten. Schnell ließ er die Hand sinken und umfasste damit den Karton.
„Ist was passiert? Amy? Warst du das?“ Adam war ins Haus gekommen und blieb vor den beiden stehen.
„Hi, Mr. Collins!“ Faith hatte ihn bereits informiert. „Alles in Ordnung?“
Steve löste den Blick von Amy und zwinkerte ihr dann zu. „Den nehme ich jetzt wohl lieber“, sagte er leise und hob mühelos den Karton hoch. „Draußen warten noch ein paar Zimmerpflanzen auf ihr neues Zuhause. Vielleicht nehmen Sie erst mal davon welche mit rein“, schlug er freundlich vor. Dann wandte er sich Adam zu. „Alles in bester Ordnung. Töpfe gehen nicht so schnell kaputt.“ Damit verschwand er mit dem Karton in der Küche. Amy stand langsam wieder auf und blickte ihm hinterher. Ihr Herz klopfte immer noch. So nah …
Adam zeigte mit dem Zeigefinger in Richtung Küche.
„Krass, oder? Mr. Collins ist der neue Nachbar von Faith!“, klärte er Amy völlig überflüssigerweise auf. Von Amy kam keine Reaktion. „Nicht krass?“, fragte er und grinste Amy arglos an. Doch sie ging schweigend an ihm vorbei nach draußen und lehnte sich erstmal an die Hauswand. Adam sah ihr verständnislos hinterher.
Faith sah Amy aus dem Haus kommen und trat langsam zu ihr.
Amy sah wieder ziemlich blass aus. Schweigend sahen die beiden Mädchen sich an. Faith konnte nicht anders, sie musste grinsen. Die ganze Situation entbehrte nicht einer - wenn auch etwas tragischen - Komik. Überraschenderweise lächelte Amy jedoch auch. Faith fiel ein Stein von Herzen.
Amy sah sie an, ihre Augen leuchteten, und sie schien durch Faith hindurch zu sehen.
Faith war irritiert. Fast hätte man meinen können, Amy hätte gerade etwas schönes erlebt, dabei hatte sie doch wahrscheinlich eben den Schock ihres Lebens bekommen. Aber Faith hatte sie wirklich nicht mehr warnen können, bevor Mr. Collins das Haus betreten hatte.
Dann kam Amys Blick wieder zurück in die Gegenwart.
„Ich bin fast über den Hund geflogen“, sagte sie matt.
Faith grinste. „Der ist cool, oder? Jack heißt er. Und das ganze ist ja wohl wirklich irgendwie...“
„Krass!“, ergänzte Adam, der gerade aus dem Haus kam.
„Das ist echt mega krass. Hab gerade Jacky und Ben angetextet. Die kommen gleich auch noch zum Helfen.“
„He - hast du Mr. Collins gefragt, ob ihm das überhaupt recht ist?“, fragte Faith erschrocken.
„Es ist ihm recht“, meinte Steve Collins lächelnd und trat aus dem Haus.
Stunden später saß Steve erschöpft auf der obersten Treppenstufe zum Obergeschoss. Es war unglaublich, aber der Van war leer und das Haus voll. Voll war es im wahrsten Sinne des Wortes und im doppelten Sinn. Aus der Küche tönten das Lachen und die Gespräche der jungen Leute, die Cole und Faith zum Helfen mobilisiert hatten und die sich jetzt über etliche Bleche Pizza hermachten, die Steve beim Pizza Express bestellt hatte.
Steve musste lächeln, als er die laute Geräuschekulisse von unten hörte. Er fühlte sich gleichzeitig wohl und unwohl. Die jungen Leute unten in seiner Küche - über die Hälfte davon Schüler und Schülerinnen seines Englisch Kurses - waren so sympathische junge Menschen. Ebenso wie seine direkten Nachbarn, Bill und seine Frau Lindsay, die ihn und seine jungen Helfer heute den ganzen Nachmittag mit Muffins, Kaffee und Getränken versorgt hatte. Und das Haus gefiel ihm. Es strahlte Wärme aus und er konnte sich gut vorstellen, dass er sich hier wohl fühlen würde.
Trotzdem fühlte er sich gleichzeitig etwas bedrückt. Es war ihm peinlich, dass seine Frau mit Abwesenheit glänzte. Er wusste schon gar nicht mehr, wie oft und wem er schon alles erklärt hatte, dass Ashley in der Modebranche arbeitete und oftmals ganz spontan auf Geschäftsreisen gehen und sich auf Modemessen sehen lassen musste. Oh ja, sie war so ehrgeizig und erfolgreich, seine Frau, Ashley Collins, die jedoch im Berufleben weiterhin unter ihrem Mädchennamen Ashley Lombardi arbeitete, weil der Name ‚einen besseren Klang hatte’. Na ja. Allerdings hatte er nicht den Eindruck, dass die Menschen sehr beeindruckt davon gewesen waren.
Außerdem war ihm irgendwie peinlich, dass die jungen Leute, die er - und vor allem, die ihn - noch gar nicht kannten, den Großteil seines Umzuges organisiert hatten. Und gleichzeitig fragte er sich automatisch als Lehrer, ob er nicht eine gewisse notwendige Distanz unterschritten hatte, indem er seine Schülerinnen und Schüler so unmittelbar in sein Privatleben hineingelassen hatte. War das richtig? Vertretbar? Wie würde sich das auf ihr Verhältnis zueinander auswirken, wenn sie sich in der Schule dann als Lehrer und Schüler begegneten? Er konnte nur hoffen, dass der offensichtlich so gute Charakter der jungen Leute dazu beitragen würde, dass diese Aktion ihr Schüler - Lehrer Verhältnis wenn, dann eher verbesserte. Er war sich aber durchaus bewusst, dass so etwas auch anders ausgehen konnte und immer eine gewisse Gratwanderung war.
Davon abgesehen ... nach der furchtbaren Sache vor elf Jahren in Portland hatte er sich vorgenommen, nie wieder einen zu persönlichen Kontakt zu seinen Schülern zuzulassen. Es hatte ihn damals fast zerbrochen. Nicht umsonst trug er Anzug und Krawatte in der Schule, schon um ein äußeres Zeichen zu setzen. Nur meistens waren seine Schüler und Schülerinnen recht schnell dahinter gekommen, dass hinter dieser strengen Fassade ein sehr zugänglicher und offener Mensch steckte, der sich sehr wohl im Kreise junger Menschen fühlte. So wie er auch mit Leidenschaft mit ihnen Musik gemacht hatte.
Nun, hier war seine ‚Maskerade’ zumindest für einen Teil seiner neuen Schülerinnen und Schüler wohl bereits am ersten Nachmittag gefallen. Aber er konnte sich auch nicht auf Dauer verstellen und eine Rolle spielen, die er einfach nicht war.
Wie auch immer, jetzt war es zu spät, darüber nachzudenken, und er konnte nicht umhin, für ihre Hilfe dankbar und erleichtert zu sein.
Noch etwas war da, was ihn irgendwie nervös machte, doch irgendwie vermochte er dieses Gefühl nicht klar einzuordnen oder an irgendwem oder irgendetwas festzumachen. Vielleicht konnte er es später genauer definieren.
Er vernahm ein Tapsen hinter sich und kurz darauf war Jack an seiner Seite. Gähnend ließ der Hund sich neben Steve fallen. „Na, Kumpel? Auch erschöpft? Verständlich, du hast ja besonders viel gearbeitet“, schmunzelte Steve.
Mittlerweile war es dämmrig geworden. Plötzlich wurden die Stimmen von unten lauter, als sich die Küchentür öffnete, dann hörte er leichte Schritte die Treppe heraufkommen. Je näher sie kamen, desto zögerlicher wurden sie. Schließlich lugte ein rothaariger Mädchenkopf um die Ecke.
„Mr. Collins?“, hörte er eine zögerliche Stimme. Jack sprang auf und begann schwanzwedelnd die Treppe hinunter zu laufen, doch als Steve sah, dass das Mädchen zurückwich, pfiff er seinen Hund zurück.
„Amy“, sagte er dann, nachdem Jack wieder nach oben gelaufen war und nun erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelnd neben Steve stand. „Komm ruhig rauf.“
Zögernd kam sie die restlichen Stufen hinauf und warf ihm einen schüchternen Blick zu. „Ich wollte ... ich sollte Sie holen. Noch ist Pizza da.“ Sie musste lächeln.
Wie niedlich sie war, wenn sie lächelte.
Moment - was hatte er jetzt gerade gedacht?
Jack streckte ihr auffordernd seinen Kopf entgegen. Er wollte gestreichelt werden.
„Jack scheint mit dir Frieden schließen zu wollen...“, meinte Steve lächelnd.
„Ach - hatten wir denn Krieg?“, fragte Amy lächelnd und erstaunlich schlagfertig. Steves Lächeln wurde breiter. „Nun, zumindest haben eure diplomatischen Beziehungen etwas unglücklich begonnen“, schmunzelte er.
Amy lachte und bekam dabei zwei Grübchen in ihren Wangen, wie Steve feststellte.
„Stimmt, irgendwie schon.“
Amy setzte sich auf die vorletzte Stufe und begann vorsichtig, Jacks Kopf zu kraulen. Der Hund gab begeisterte Laute von sich und Amy und Steve mussten lachen. Sie sahen sich an. Wieder begann Amys Herz schneller zu schlagen, wie jedes Mal, wenn sie direkt in seine blauen Augen sah. Hier, im Halbdunkel des Flurs, war die Augenfarbe zwar nicht so gut zu erkennen, doch seine Augen übten wieder dieselbe Faszination auf sie aus, wie bereits beim ersten Mal. Es war als würde man darin eintauchen und fände keinen Weg wieder hinaus ...
Verwirrt senkte sie den Blick. Steve fühlte ihre Verlegenheit und begann nun ebenfalls, Jack zu kraulen, bemüht, die Situation etwas zu überspielen.
Da plötzlich berührte seine Hand ihre - und beide spürten es wie einen elektrischen Schlag. Sie blickten gleichzeitig auf und ihre Blicke trafen sich wieder. Amy hatte das Gefühl, er müsse ihr Herz klopfen hören. Sie wagte nicht, ihre Hand zu bewegen, wollte sie nicht wegziehen ... es fühlte sich so gut an.
Steve seinerseits schluckte, verwirrt von der Gefühlswallung, die plötzlich in ihm aufstieg. Einen Moment lang drückte er sanft Amys Hand und strich zart mit dem Daumen über ihren Handrücken. Amys Lächeln war verschwunden, doch Steve lächelte sie warm an. Irgendetwas an ihr berührte ihn irgendwie ... hatte es schon heute Morgen getan. Doch plötzlich schwand auch sein Lächeln, als wäre ihm plötzlich etwas bewusst geworden.
Er ließ sanft ihre Hand wieder los und stand auf. Sofort sprang Jack auch auf und wartete schwanzwedelnd, was nun passieren würde. „Na komm“, sagte Steve leise zu Amy, „gehen wir runter und sehen nach, ob sie uns noch ein Stück Pizza übrig gelassen haben.“
Amy stand auch auf und schaute kurz zu ihm auf. Dann ging sie die Treppe hinunter und Steve und Jack folgten ihr.
Sie betrat die Küche, dicht gefolgt von Steve. Jack drängte sich an ihnen vorbei und lief von einem zum anderen, hocherfreut, so viele streichelnde Hände vorzufinden.
„Aah, Mr. Collins. Hat Amy Sie gefunden? Ich konnte mit Mühe und Not noch etwas Pizza für Sie retten“, sagte Bill Smith, Faiths Vater und ein gut aussehender Mann, lachend. Steve hob abwehrend die Hände.
„Das ist schon in Ordnung - das habt ihr euch mehr als verdient“, sagte er und lächelte in die Runde. Amy fand, er sah verlegen dabei aus. „Und bitte nennen Sie mich Steve“, fügte er an Faiths Vater gewandt hinzu.
„Bill“, sagte dieser lächelnd und die beiden Männer tauschten einen kräftigen Händedruck.
„Hier, Mr. Collins, die Pizza. Vegetarisch, Schinken, Salami ...Thunfisch ist dank Adam so gut wie alle“, sagte Jacky lachend. Steve nahm sich ein Stück vegetarische Pizza und setzte sich auf eine Umzugskiste.
„Ach, Mr. Collins, was ich sie fragen wollte...“, sagte Adam und deutete hinüber ins Wohnzimmer. „Ich hab vorhin eine E - Gitarre reingetragen. Und einen Marshall Verstärker.“ Er schaute ihn neugierig an. „Spielen Sie Gitarre?“
Um Steves Mundwinkel spielte ein leichtes Lächeln. Wehmütig.
„Früher mal...“, antwortete er. „Lange her.“
„Früher?“, hakte Adam nach. „Erzählen Sie doch mal.“
„Adam“, sagte Bill Smith, sanft mahnend. „Sei nicht so neugierig!“
„Ist schon OK. Aber viel zu erzählen gibt es da nicht“, meinte Steve. „Vor mehreren Jahren war ich einmal in einer Schülerband. Also, genauer gesagt, ich war schon Lehrer, also in einer Lehrer - Schülerband, sozusagen.“
Adam, Cole und Ben sahen sich an. „ Bingo“, lachte Adam, „denkt ihr auch was ich denke?“
„Langsam ...“, bremste Ben ihn aus. „Du hast doch gehört - FRÜHER hat er gespielt.“
„Na und? Das verlernt man nicht!“, meinte Cole.
„Heißt trotzdem nichts“, murmelte Ben.
„Aber fragen könnte man doch mal!“, meinte Adam hartnäckig.
Steve sah etwas verwirrt in die Runde. Faith bemerkte seinen Blick und erklärte:
„Wir haben auch eine Schulband. Adam ist an der Gitarre, Ben am Bass und Cole spielt Schlagzeug. Mr. Garcia ist auch dabei!“
„Ja und zur Zeit sind sie ohne Leadsänger“, fügte Jacky vielsagend hinzu.
„Oh“, sagte Steve nur.
„Singen Sie auch, Mr. Collins?“, wagte Adam zu fragen.
„Adam“, sagte Bill wieder, „jetzt lasst Mr. Collins doch heute Abend damit in Ruhe.“
Adam grummelte vor sich hin, die Mädchen mussten lachen.
„Warum haben Sie aufgehört zu spielen?“, fragte Amy plötzlich schüchtern. Steve sah sie an.
„Meine Frau ... hatte nicht so viel mit Musik am Hut. Ich hab es dann zeitlich auch nicht mehr so hinbekommen ...mehrere Gründe.“ Nachdenklich blickte er vor sich hin.
Amy betrachtete ihn. Er spürte ihren Blick und erwiderte ihn.
„Könnten Sie sich denn grundsätzlich vorstellen...“, begann Cole.
Steve stand auf und ging ins Wohnzimmer. Nachdenklich betrachtete er die Gitarre. Plötzlich stand Adam neben ihm. „Soll ich den Verstärker anschließen?“, fragte er und grinste seinen Lehrer an.
Steve zögerte einen Moment, doch dann schlug er ihm auf die Schulter. „Warum eigentlich nicht? Mal sehen, ob ich noch ein paar Akkorde hin bekomme.“
Leise schloss Amy die Tür auf, drehte sich noch einmal um und winkte dem an der Straße wartenden Auto zu. Besser gesagt, dem Fahrer, Faiths wundervollem Vater, der sie nach Hause gebracht hatte. Bill Smith winkte zurück und der Wagen fuhr an.
Zögernd blieb Amy in der Tür stehen und lauschte. Es war alles ruhig. Amy seufzte auf, sie war mehr als dankbar für die Stille. Es hätte auch anders sein können.
Natürlich hätte sie bei Faith schlafen können, wie sie es sehr oft tat. Zuhause vermisste sie sowieso niemand, nur sehr selten rief ihre Mutter sie mal auf dem Handy an.
Heute jedoch wollte Amy jedoch tatsächlich lieber nach Hause. Erstens brauchte sie für morgen früh frische Sachen, sie hatte bei dem Umzug ganz schön geschwitzt. Außerdem benötigte sie etwas Abstand, sie war so aufgewühlt und brauchte jetzt etwas Zeit für sich alleine.
Leise schlich sie durch den dunklen Korridor und warf einen Blick ins Wohnzimmer.
Kalter Rauch lag in der Luft, auf dem Tisch standen ein paar leere Bierdosen und benutztes Geschirr. Von ihrem Vater war nichts zu sehen. Leise ging sie im Dunkeln die Treppe hinauf. Oben hörte sie leises Schnarchen aus dem Schlafzimmer. Ihr Vater hatte also heute tatsächlich den Weg ins Schlafzimmer gefunden. Es war aber auch wirklich spät geworden.
Sie schlich sich in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und machte ihre kleine Nachttischlampe an. Amy hasste Deckenlicht.
Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und zog ihre Schuhe aus. Dann starrte sie einen Moment lang vor sich hin. War das möglich, dass ein Tag, der eigentlich schrecklich begonnen, und von dem man nichts besonderes mehr erwartet hatte, sich so entwickeln konnte? War das wirklich alles heute passiert?
Amy hatte das Gefühl, sie wäre heute nonstop Achterbahn gefahren. Aber, sinnierte sie so vor sich hin, so wahnsinnig viel war eigentlich gar nicht passiert. Der neue Englischlehrer hatte heute zum ersten Mal unterrichtet und sich dann später als der neue Nachbar ihrer besten Freundin herausgestellt.
Schon ein ungewöhnlicher Zufall, aber nicht so wirklich weltbewegend, allerdings mit ungeheurer Bedeutung für sie selbst. IN IHR jedenfalls war absolut alles durcheinander geschüttelt.
Achterbahn.
Schließlich erhob sie sich, zog sich aus und schlüpfte in ihr Sleepshirt. Sie drückte auf die „Play“- Taste ihres CD - Players und schlüpfte ins Bett.
Der CD Player begann das erste Lied ihrer John Barrowman CD abzuspielen. Es war eigentlich wie immer. Nur Amy war nicht mehr die selbe.
In ihre Kissen gekuschelt, wagte sie vorsichtig, über diesen Tag nachzudenken. Was war passiert?
Steve…
Wie ein Film liefen sämtliche Momente des heutigen Tages in ihrem Kopf ab.
Wie er die Klasse betrat, ihr erster Blickkontakt. Die Unterrichtsstunde, die sie nur am Rande mitbekommen hatte. Das unerwartete Wiedersehen in Faiths Nachbarhaus, die zahllosen Momente, in denen sie sich, meist bepackt, über den Weg gelaufen waren und sich verhalten zugelächelt hatten. Der Abend, an dem sie zurückgezogen in einer Ecke Steve dabei beobachtet hatte, wie er Gitarre gespielt und sich erneut in einen anderen Menschen verwandelt hatte.
Aber ihre Gedanken wanderten immer wieder zurück zu dem Moment, in dem sie voreinander gehockt hatten, ihre Gesichter so nah...
In der Dunkelheit ihres Zimmers musste Amy sich eingestehen, dass sie sich nun vorzustellen begann, ihre Lippen hätten sich tatsächlich berührt.
Wieder fühlte sie dieses unbekannte Gefühl in sich, als würde ein Feuer in ihr toben. Dann wanderten ihre Gedanken zu dem Moment oben auf der Treppe, als er ihre Hand berührt hatte - und dann gestreichelt. Ja, er hatte sie gestreichelt, kein Zweifel.
Leise tönte die Musik ihrer geliebten CD durch den Raum, und all die bekannten und vertrauten Texte bekamen eine plötzlich neue Bedeutung.
‚Wasn’t it good... wasn’t he fine... isn’t it madness - he can’t be mine’ sang John.
Amy brach in Tränen aus. Sie weinte und weinte in ihr Kissen, aber es waren nicht nur Tränen des Kummers. Amy war so aufgewühlt, traurig - aber auch glücklich, in ihrer Erinnerung an diese kleinen, zarten Momente, an ihren Blickkontakt.
Ihre ganze Gefühlswelt war so auf den Kopf gestellt, dass ihr nur das Weinen half, mit der Wucht ihrer ersten großen Liebe fertig zu werden.
Zur gleichen Zeit trug Steve einen Karton die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. Den letzten für heute, hatte er sich geschworen. Sein Handy klingelte.
Steve stellte den Karton, mit dem er gerade das Schlafzimmer betreten hatte, ab, zog sein Handy aus der Hosentasche und ließ sich auf das Bett fallen.
„Aaah... ja? Ashley.“
„Steve. Wie war dein Tag? Wie weit bist du?“
Er schaute sich um. Überall standen Kartons herum, Das Bett war noch nicht bezogen, die Wände kahl. Er schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich saß Ashley gerade in irgendeiner Luxussuite, einen Haufen Modejournale vor sich auf dem Tisch und machte nun gerade pflichtbewusst ihren täglichen Routineanruf.
„Danke der Nachfrage. Alles fertig. Du kannst wieder nach Hause kommen.“
„Steve, ich kann nichts dafür, dass Brodan mich ausgerechnet diese Woche abkommandiert hat. Ich …“
Steve hob abwehrend die Hand, obwohl sie es nicht sehen konnte.
„Schon gut, schon gut.“ Auf Diskussionen hatte er nun wirklich keine Lust mehr heute Abend. „War ja nur ein Scherz.“
„Ein Scherz, ah… Und wie war denn nun dein Tag? Du hattest doch heute Morgen auch deinen ersten Tag an der Highschool, oder?“
Steve unterdrückte ein Gähnen. „Ja, nebenher auch noch, richtig.“
„Und?“
„Ich hab meinen Kugelschreiber vergessen.“
„Mein Gott, was für ein Drama. Sicher hat dir eine gut aussehende junge Dame ausgeholfen, oder?“ Ashley lachte albern.
Steve dachte kurz an Faith und lächelte. „Nagel auf den Kopf getroffen.“
„Dann hast du's ja überlebt. Sonst alles OK?“
Aha, das Telefonat neigte sich dem Ende zu. Das war sozusagen die alles zusammenfassende Abschlussfrage.
Steve hörte das Näherkommen von Jacks Pfoten. „Jaa ... bisschen kaputt heute, aber... soweit alles OK.“ Das war sozusagen die alles zusammenfassende Antwort.
„Dann ist ja gut. Morgen hab ich einen anstrengenden Tag. Drei Meetings.“
Steve schaute sich wieder um. „Ich fürchte, ich habe auch noch ein bisschen was zu tun“, sagte er leicht ironisch.
Ein abwesendes Lachen. „Ja, wahrscheinlich. Ich meld mich morgen Abend, Steve.“
„Ja, tu das. Viel Erfolg morgen. Und gute Nacht.“
„Ja, dir auch. Gute Nacht.“
Dann klickte es in der Leitung.
Jack war mittlerweile ins Schlafzimmer getrottet. Schwanzwedelnd lief er auf Steve zu. Der ließ sich aus dem Bett gleiten und setzte sich vor das Bett auf den Boden, den Rücken an die Bettkante gelehnt. Jack ließ sich neben ihm nieder und legte seinen Kopf in Steves Schoß.
Steve begann ihn zu kraulen, so dass er anfing, zufriedene Grunzlaute von sich zu geben. Steve lächelte.
„Alles OK, soweit, Jack?“, murmelte er und ließ den heutigen Tag Revue passieren, von den Stunden an der Highschool bis hin zu dem arbeitsreichen Nachmittag und dem unerwarteten musikalischen Ausklang des Tages. Er konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken an einem rothaarigen, schüchternen Mädchen hängen blieben, das niedliche Grübchen bekam, wenn es lächelte. Alles OK soweit ...
Nachdenklich kraulte er weiter seinen Hund, ein Lächeln auf den Lippen, und seine Augen blickten abwesend ins Leere...