◇◇◇
Zehn Minuten später verließen Steve und Ashley das Haus durch die hintere Terrassentür und gingen in den Garten der Smiths hinüber, der direkt an ihren angrenzte. Ashley hatte sich umgezogen, war aber trotzdem für den Anlass um zwei Nummern zu elegant angezogen, fand Steve. Aber er verdrängte den Gedanken.
Der Barbecue Duft verstärkte sich. Ihr Blick fiel auf eine gemütliche Sitzgruppe, der Tisch war reichlich gedeckt, mit Brot, Saucen, Dips und Salaten. Cole stand am Grill und wendete gerade ein paar Stücke Fleisch. Er hob grüssend die Hand, ohne die Steaks aus den Augen zu lassen. Steve lächelte. Profi. Er begann sich zu entspannen.
Bill und Lindsay hatten sie entdeckt und kamen auf sie zu. Während Bill Steve mit einem kräftigen Händedruck willkommen hieß, begrüßten sich die beiden Frauen freundlich. Lindsay führte die beiden zur Sitzgruppe hinüber.
„Drüben am Grill ist unser Sohn Cole, gerade sehr beschäftigt, wie Sie sehen“, schmunzelte Lindsay. „Und hier unsere Tochter Faith, Sie haben sie ja gerade schon flüchtig kennen gelernt.“ Faith gab Ashley die Hand und lächelte freundlich. Unauffällig musterte sie Steves Frau und versuchte sie einzuschätzen, was ihr aber nicht auf Anhieb gelang.
„Und hier haben wir noch ... sie kann leider nicht aufstehen, denn sie hat sich heute Nachmittag beim Training den Knöchel verstaucht ... unsere Amy. Faiths beste Freundin.“ Ashley gab ihr die Hand, warf ihr aber nur einen flüchtigen Blick zu. Dann wandte sie sich wieder Lindsay zu.
„Sie haben einen bezaubernden Garten“, begann sie Konversation zu machen. „Haben Sie alles selbst angelegt?“
Die beiden Frauen wandten sich den Blumenrabatten zu, in welchen jetzt, im Spätsommer, alle möglichen Blumen und Stauden in leuchtenden Farben standen.
Amy schaute den beiden Frauen mit gemischten Gefühlen hinterher. Genau wie Faith konnte sie Ashley nicht einschätzen. Wo war Faith überhaupt? Sie sah sich um. Doch statt Faith sah sie Steve Collins auf sich zu kommen.
Er lächelte auf sie hinunter. Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, doch sie erwiderte sein Lächeln.
Er setzte sich auf einen Gartenstuhl neben ihr.
„Na, Amy? Was macht der Fuß?“
„Zwickt schon noch gewaltig. Und ich kann immer noch nicht auftreten ...“
„Hm, das glaube ich. Darf ich noch mal sehen?“
Das zweite Mal an diesem Tag begann er ihren Knöchel vorsichtig abzutasten. Amy hielt den Atem an. Er hatte so große Hände und ging doch so sanft und vorsichtig mit ihnen um.
Steve blickte auf.
„Er ist immer noch ganz schön geschwollen.“
Cole war zu ihnen getreten. „Wir haben Sportsalbe draufgemacht“, sagte er.
„Das war richtig. Aber, Cole, habt ihr vielleicht so etwas wie einen Stretch Verband?“, fragte Steve. Cole überlegte. Dann nickte er. „Ja, müssten wir haben. Ich hatte letztes Jahr auch mal eine Sportverletzung. Warten Sie!“ Er gab seinem Vater ein Zeichen, auf den Grill zu achten und verschwand im Haus. Faith hatte sich inzwischen zu ihnen gesetzt. Verschmitzt lächelte sie ihrer Freundin zu.
„Wirklich nett von deinen Eltern, uns einzuladen“, sagte Steve zu Faith. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, war Cole mit einem Stretch Verband und der Sportsalbe zurück. Steve warf einen Blick darauf.
„Gut“, sagte er.
Dann begann er vorsichtig, Amys Knöchel einzureiben. Faith fühlte, wie ihre Freundin erschauerte und ihr Grinsen wurde breiter. Amy warf ihr einen strafenden Blick zu, musste aber doch lächeln.
„So ... nun werde ich mal schauen, ob ich es schaffe, dir einen perfekten Stützverband anzulegen ...“, sagte Steve und zwinkerte Amy zu.
„Aaach ... braucht doch gar nicht...“, murmelte sie, verlegen um den Aufwand, der um sie betrieben wurde.
„Und ob. Der Knöchel muss ruhig gestellt werden. Und das kriegen wir hiermit hin. Und nicht unnötig belasten, OK?“
„Jawohl, Herr Doktor“, sagte Amy und lächelte verschmitzt. Überrascht hob Steve den Kopf und blickte sie an. Sie lächelte ihn an. Er suchte ihren Blick und das erste Mal blickten sie einander wieder in die Augen. Doch ihr Blick war diesmal nicht ängstlich, sondern ... voller Zuneigung und Wärme. Dieses Mal war er es, der verwirrt war. Sie sah so schelmisch aus - und so süß.
Er schluckte und war tatsächlich einen Moment lang aus dem Konzept gebracht. Doch dann hatte er sich wieder in der Gewalt.
Er zog die Augenbrauen hoch und erwiderte ihr Lächeln auf dieselbe Art. „Na also ... braves Mädchen“, sagte er im gleichen Tonfall und befestigte den Stretchverband. Langsam ließ er ihren Fuß sinken.
„So, nun müsste ich mir einmal die Hände waschen. Sonst schmeckt mein Steak gleich sehr medizinisch“, schmunzelte er. Amy, Faith und Cole lachten.
„Ich zeige Ihnen das Gästebad, kommen Sie mit“, sagte Cole und ging zum Haus hinüber. Steve folgte ihm.
Faith und Amy sahen sich an. „Wow ...“, sagte Faith leise.
„Also wenn du mich fragst ...“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und zwinkerte Amy zu.
„Ach Quatsch“, murmelte Amy, doch ihre geröteten Wangen und leuchtenden Augen sprachen Bände.
„Zumindest war seine erste Amtshandlung hier, deinen Fuß zu versorgen“, fuhr Faith fort.
„Was meinst du zu ihr?“, wechselte Amy das Thema und machte eine leichte Kopfbewegung zu Ashley hinüber, die mittlerweile mit Lindsay bei Faiths Vater am Grill stand und angeregt mit ihm plauderte.
„Kann ich noch gar nicht sagen“, meinte Faith leise und zuckte die Achseln. Amy nickte und schaute dann zum Haus hinüber, als wartete sie auf irgendwas ... oder irgendwen.
Steve stand in dem kleinen Gästebad und versuchte, sich mit Seife den Salbengeruch von den Händen zu waschen, der allerdings recht hartnäckig war. Als er fertig war, sah er auf und blickte in den Spiegel.
Einen Augenblick lang betrachtete er sein Spiegelbild, ohne sich jedoch wirklich zu sehen. Irgendetwas kam da auf ihn zu. Er hätte nicht sagen können, was genau und in welcher Größenordnung, aber irgendetwas passierte gerade. Er atmete durch. Er wusste nicht, ob er es aufhalten konnte - oder aufhalten wollte. Es verwirrte ihn nur.
Schließlich verließ er das Bad und ging in den Garten zurück, wo sich mittlerweile alle am Tisch versammelt hatten und Cole die ersten Steaks zum Tisch brachte, die verführerisch dufteten.
Es wurde ein sehr entspannter Abend.
Steve hatte sich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt. Den anderen schien es genauso zu gehen. Am meisten überraschte ihn Amy, die ihm schräg gegenüber saß. Sie war ausgeglichen und humorvoll - hatte er nicht heute Nachmittag im Auto erst darüber nachgedacht, dass er sich vorstellen konnte, dass sie eigentlich genau so war?
Ihre Augen leuchteten und ihre Wangen waren leicht gerötet - er konnte seinen Blick kaum von ihr abwenden. Man merkte, dass sie sich im Kreis dieser Familie absolut wohl und geborgen fühlte ... wie schön für sie.
Die Gesprächsthemen wurden immer weitläufiger. Doch schließlich fragte Bill:
„Wie sieht es aus, Sie beide haben keine Kinder, oder? Oder schon groß und aus dem Haus?“ Cole blickte zu Ashley hinüber und musste sich ein Auflachen verkneifen. Sein Vater hatte, ohne es zu bemerken, mit seinem letzten Satz offenbar mitten in ein Fettnäpfchen getreten. Ashley machte kurzzeitig ein Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Offenbar wollte sie wohl nicht für eine Frau in dem Alter gehalten werden, der man schon erwachsene Kinder zutraute und war über diese Frage etwas pikiert. Allerdings hatte sie sich schnell wieder im Griff.
„Oh nein, wir haben keine Kinder“, betonte sie. „Wir waren beide schon um die dreißig, als wir geheiratet haben.“
„Na und?“, warf Faith ein. „Heutzutage...“
Ashley lachte etwas unnatürlich auf. „Nein, nein, das war bei uns einfach nie ein Thema!“
Amy schaute mit großen Augen zu Steve hinüber. Es war schon ziemlich dämmrig geworden, aber sie konnte gut genug erkennen, das sein Gesicht nicht unbedingt Zustimmung ausdrückte. Im Gegenteil, er hatte den Blick gesenkt und seine Lippen waren schmal geworden. Er glich in diesem Augenblick ziemlich dem strengen Lehrer, den er manchmal im Unterricht herauskehrte, aber Amy fühlte, dass dies hier keine Strenge bedeutete, sondern ... Verbitterung?
Steve spürte ihren Blick und erwiderte ihn. Ein leichtes Lächeln lag um seinen Mund, das allerdings so wehmütig wirkte, dass es Amy einen Stich versetzte.
Wie immer diese Ehe auch sein mochte, was Ashley da in Bezug auf Kinder von sich gegeben hatte und noch immer gab, schien ganz offensichtlich sehr einseitig ihre Meinung zu sein. Steve hielt Amys Blick und sie lächelte ihm zu. Sie versuchte irgendetwas in ihren Blick zu legen, das ihn trösten sollte. Irgendetwas schien auch bei ihm anzukommen, denn sein Lächeln wurde plötzlich zärtlich und sein Blick sehr weich. Obwohl Amy den ganzen Abend sehr entspannt gewesen war, fing ihr Herz jetzt wieder an, schneller zu klopfen.
Dieser Blick und dieses Lächeln ... - das war es, wovon sie jeden Abend träumte...
„...außerdem hat Steve ja täglich seine Schüler um sich und somit mehr als genug Kinder“, versuchte Ashley zu scherzen, doch so richtig kam sie damit nicht an.
Lindsay bemerkte, dass die Stimmung des Abends etwas zu kippen drohte.
„Apropos Schüler, Steve. Cole hat uns erzählt, dass Sie morgen zur Probe der Schulband kommen wollen und eventuell sogar einsteigen. Das finde ich großartig!“, sagte sie an Steve gewandt. Die anderen stimmten lebhaft zu. Steve lächelte, nun wieder aufrichtig.
„Danke. Es hat mir immer Spaß gemacht, Musik zu machen. Ich bin wirklich gespannt.“
„Das wird was, davon bin ich überzeugt!“ meinte Cole enthusiastisch. „Nur zu schade, dass uns noch eine weibliche Stimme fehlt. Es ist jetzt ganz fest, Julia hört auf jeden Fall auf. Noch nicht einmal Adam konnte das noch hinbiegen.“
„Was schon was heißen will“, lachte Steve.
Faith schaute auf einmal nachdenklich drein.
„Wisst ihr was?“, sagte sie langsam. „Es ist nur so eine Idee erstmal, aber warum in die Ferne schweifen ...“
„...wenn das Gute liegt so nah“, ergänzte ihre Mutter.
Amy blickte zu Ashley hinüber. Sie nippte an ihrem Glas Wein und schien sich für dieses Thema überhaupt nicht zu interessieren. Hm…
„Hast du eine Idee, Faith?“, fragte sogar ihr Vater neugierig. Alle schauten erwartungsvoll zu Faith hinüber. Die fing an zu grinsen.
„Ich weiß, dass ich dafür noch fürchterlich Ärger bekommen werde, aber wisst ihr, wer wirklich unheimlich schön singen kann? Zugegeben, noch nie in einer Band bisher oder so, aber wirklich schön?“
Sie blickte in erwartungsvolle Gesichter.
„Amy!“
Sofort wandten sich alle Amy zu. Die war blass geworden.
„Faith!“, entfuhr es ihr, aufrichtig erschrocken. „Wie kannst du denn so was sagen?“
„Weil es stimmt.“
„Ja aber ... ich meine, nein ... ich kann doch nicht in einer Band singen! Spinnst du?“
Faith fing an zu lachen, sie bemerkte gar nicht, dass Amy zu zittern begann. Steve schon. Schweigend verfolgte er den Wortwechsel.
„Amy, hör mal. Wir kennen uns seit der Vorschule. Ich weiß nicht, wie oft wir schon in der Kirche zusammen gesungen haben, du warst eine Zeit lang sogar im Gospelchor, bis deine Eltern ... na ja…ist ja auch egal. Wir haben hunderte Male Songtexte mitgesungen ... du hast im Schulmusical mitgemacht ...“
Lindsay sah verblüfft aus.
„Faith hat wirklich Recht ... du hast eine schöne Stimme, Amy. Ich hab dich auch schon oft genug singen hören. Sie hat wirklich recht.“ Amy blickte mit zitternden Lippen zu Lindsay hinüber. „Vielen Dank, Mrs. Smith, aber ...“
„Hey. Du kommst einfach morgen auch und versuchst es mal“, meinte Cole. „He, wir sind doch völlig unter uns, sozusagen. Ben, Adam und ich... wir kennen uns doch schon ewig...“
Steve sah, wie Amy sich wand. Sie wirkte so blass und unsicher wie am ersten Tag, als er sie kennen gelernt hatte. Ob sie nun tatsächlich eine gute Stimme besaß oder nicht, konnte er nicht beurteilen, aber es fehlte ihr in jedem Fall an Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, wo immer auch die Ursachen dafür liegen mochten. Und er wusste aus langjähriger Erfahrung als Lehrer, dass man in einem solchen Fall nichts erzwingen durfte.
„Schluss jetzt!“, sagte er plötzlich mit energischer Stimme. „Bitte hört auf, Amy so zu bedrängen. Ihr könnt doch nichts erzwingen. Lasst sie doch erst mal drüber nachdenken und eine Nacht drüber schlafen. OK?“
Faith und Cole schwiegen, nickten aber.
„Sie haben natürlich Recht, Steve. Sei nicht böse, Amy“, meinte Lindsay und sah liebevoll zu Amy hinüber denn mittlerweile hatte auch sie mitbekommen, dass Amy diesem Ansturm nicht gewachsen war.
„Der Lehrer hat gesprochen!“, kam es da plötzlich mit einem amüsierten Auflachen von Ashley, die schon seit längerer Zeit nichts mehr gesagt hatte.
„Bill, Lindsay, bitte seien Sie mir nicht böse, aber zumindest ich muss mich für heute Abend verabschieden. Es war ein langer Tag für mich und ich bin ziemlich kaputt.“
Sie stand auf, und auch Bill und Lindsay erhoben sich zustimmend. Kurz darauf stand auch Cole auf und ging zum Grill hinüber und begann, den Rost grob zu säubern.
Faith schnappte sich einen Korb und begann, Saucen und Ketchupflaschen einzupacken und ging damit Richtung Küche. Mittlerweile war es ganz dunkel geworden. Nun saßen nur noch Amy und Steve am Tisch.
„Danke“, sagte Amy leise.
„Nichts zu danken. War meine ehrliche Meinung.“
Amy versuchte aufzustehen, um einige Teller zusammen zu räumen. Steve stand auch auf, ging um den Tisch herum und drückte sie sanft, aber energisch wieder zurück auf ihren Stuhl. „Kommt gar nicht in Frage, Amy, mit deinem Fuß“, sagte er lächelnd.
„Keiner erwartet das von dir. Wir hatten Schonung ausgemacht, schon vergessen?“
Mit schnellen Handgriffen hatte Steve sämtliche Teller, Schüsseln und das Besteck zusammengepackt und auf ein Tablett gestellt. Als Faith aus der Küche zurückkam, sah sie das volle Tablett auf dem Tisch stehen. In Sekundenschnelle realisierte sie, dass Amy und Steve alleine am Tisch waren, schnappte sich das Tablett und ging direkt in die Küche zurück, bevor Steve seine Hilfe anbieten konnte. Steve sammelte die Gläser ein und stellte alles zusammen.
Er bemerkte, dass Amy wieder aufstehen wollte und wandte sich ihr zu.
Amy bemerkte seinen Blick und musste leise lachen.
„Nicht wieder schimpfen ...“, sagte sie lächelnd. „Aber ich muss mal ins Haus und werde dann wohl auch direkt drin bleiben. Ich schlafe heute bei Faith.“
„Das habe ich mir schon gedacht“, meinte Steve. „Warte, ich helfe dir.“
Er schob einen Stuhl zur Seite, trat zu ihr und half ihr aufzustehen. Vorsichtig stand sie auf, belastete aber aus Versehen den verletzten Fuß und knickte prompt ein. Mit einem leisen Schmerzenslaut hielt sie sich instinktiv an Steve fest und auch er hatte sie festgehalten, als er merkte, dass sie wegknickte. Wortlos standen sie sich gegenüber und blickten sich an, im Licht der Kerze, die auf dem Tisch vor sich hinflackerte.
Plötzlich fühlte Amy, wie Steve seinen Griff lockerte - und sie stattdessen sanft in seine Arme zog. Sie bekam weiche Knie und drohte fast wieder einzuknicken. Aber Steves Arme hielten sie fest und drückten sie eng an sich. Zaghaft legte sie ihre Arme um seine Hüften. Sie legte ihren Kopf an seine Brust und hörte seinen Herzschlag. Sie schloss die Augen. Noch nie, noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so geborgen gefühlt. Sie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen, unterdrückte sie jedoch. Stattdessen atmete sie tief seinen Geruch ein, um etwas zu haben, an das sie sie sich erinnern konnten, wenn dieser Augenblick vorbei war. Doch noch war es real, sie stand hier in seinen Armen, hörte seinen Herzschlag und spürte zunehmend seine Wärme. Keiner sprach ein Wort. Schließlich spürte sie, wie er ihr mit einer Hand sanft über den Kopf strich und die Umarmung vorsichtig löste.
„Ich bring dich ins Haus“, flüsterte er. „Schlaf gleich schön, Amy.“
Sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Er sollte die Tränen in ihren Augen nicht sehen.
Er veränderte seine Position, so dass er nun neben ihr stand und führte sie langsam über die dunkle Wiese auf die erleuchtete Veranda zu. Kurz bevor sie in den Lichtkegel traten, drückte er sie noch einmal leicht an sich.
Dann kam ihnen auch schon Bill entgegen. „Ihr habt euer verletztes Vögelchen vergessen“, gelang es Steve zu scherzen. „Ich gebe es jetzt hiermit in treu sorgende Hände zurück.“
Bill lachte. „Arme Amy, hättest du bald draußen übernachten müssen? Aber keine Sorge, irgendwann hätte Faith schon ihre heiß geliebte Freundin vermisst. - Danke Steve.“
Steve hob die Hand. „Ich habe zu danken, Bill. Auch vielen Dank nochmal an Ihre Frau.“
Er warf Amy einen warmen Blick zu. „Gute Nacht, Amy. Und gute Besserung.“
Amy gab den Blick zurück. „Gute Nacht, Mr. Collins“, flüsterte sie.
„Setz dich erst mal hierhin, Amy. Faith kann dir gleich helfen, die Treppe rauf zu kommen. Es ist ganz schön spät geworden.“ Bill hatte Amy die Stufe zur Terrasse hoch geholfen und schob ihr nun einen Veranda Stuhl hin. Amy setzte sich gehorsam. In der Küche hinter der weit geöffneten Verandatür sah sie Faith und ihre Mutter hantieren und sich lebhaft unterhalten. Als Faith ihren Vater mit Amy sprechen hörte, blickte sie zu ihnen herüber. Sie ließ das Küchentuch sinken.
Amy hatte ein höfliches Lächeln aufgesetzt doch Faith sah von weitem, dass Amy kein einziges Wort von dem wahrnahm, was ihr Dad zu ihr sagte. Sie hatte einen ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck. Irgendetwas musste passiert sein.
„Mom ...“ wandte sie sich an ihre Mutter, „…ist es OK, wenn ich mit Amy rauf gehe? Sie ...“
„Aber natürlich“, unterbrach Lindsay sie. „Ja, geht schon nach oben. Schafft ihr das? Oder soll euch Cole helfen?“
„Nein, es wird schon gehen. Gute Nacht, Mom.“ Lindsay gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange und Faith huschte zu Amy hinaus. Bei ihr angekommen, hockte sie sich vor ihren Stuhl, so dass sie ihr ins Gesicht sehen konnte.
„Amy...?“, fragte Faith und nahm Amys Hände in ihre.
Amy wandte ihr den Kopf zu. Mit ihren wunderschönen großen Augen schaute sie ihre Freundin an. Ihre Augen waren feucht, doch sie leuchteten und Amy lächelte. Faith lächelte auch. Irgendetwas musste gerade geschehen sein. Also hatte sie alles richtig gemacht, als sie dafür gesorgt hatte, dass Amy und Steve einen Augenblick lang allein sein konnten.
Bereits den ganzen Abend hatte sie das Wechselspiel ihrer Blicke beobachtet, sowohl in heiteren, als auch in der etwas beklemmenden Situation, in der von Kindern die Rede gewesen war. Sie hatte bemerkt, dass Amy heute Abend eine besondere Faszination auf ihren Lehrer ausgeübt hatte. Sie hatte viele Dinge deuten können, die ihre Augen sich gesagt hatten. Vielleicht, weil sie Amy schon so lange kannte und sie fast wie eine Schwester liebte.
Mehr als einmal hatte sie gebetet, alle anderen am Tisch mochten blind sein für das, was sich da vor ihren Augen abspielte.
Aber Ashley war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen und damit, ihre Eltern zu unterhalten.
Gott sei Dank ...
Außerdem wusste niemand, was sie wusste. Mittlerweile war sie sich völlig über die Intensität von Amys Gefühlen bewusst. Nur Cole ... ihr Bruder war sehr sensibel. Ihm traute Faith durchaus zu, dass er etwas bemerkt haben könnte. Doch was er darüber dachte und fühlte, würde er für sich behalten.
„Amy...“, sagte sie noch einmal leise, „lass uns nach oben gehen.“
Amy nickte zustimmend und gemeinsam schafften sie es erstaunlich gut, in Faiths Zimmer hinauf zu kommen. Dort angekommen, hinter verschlossenen Türen, gab Amy ihre Beherrschung auf und brach in Tränen aus. Faith hielt sie im Arm, bis Amy sich beruhigt hatte. Und dann erzählte Amy ihrer besten Freundin von dem kurzen, aber bewegenden Moment voller Zärtlichkeit, den sie gerade erlebt hatte und sie war dankbar, dieses Erlebnis mit Faith teilen zu können.
Durch den dunklen Garten ging Steve hinüber in den Garten seines eigenen Hauses. Das Haus lag im Dunkeln, nur im Obergeschoss waren einige Fenster erleuchtet. Ashley musste sich also wohl schon zum Schlafengehen zurückgezogen haben. Er betrat die hintere Veranda. Jack lag unter dem Gartentisch und wedelte sparsam mit dem Schwanz.
„Bleib liegen, Junge. Ich bin gleich wieder bei dir“, sagte Steve im Vorübergehen und betrat durch die angelehnte Terrassentür das dunkle Wohnzimmer. Bisher hatte er es geschafft, alle auf ihn einströmenden Gedanken und Gefühle zurück zu drängen, aber er wusste, dass er jetzt unmöglich schlafen konnte. Und, was ihn noch mehr beunruhigte war, dass er sich jetzt auch nicht neben Ashley ins Bett legen konnte, und sei es nur, um sich noch mit ihr zu unterhalten.
Er brauchte dringend ein bisschen Zeit für sich. Er ging die Treppe hoch und hörte Ashley im Badezimmer.
„Ashley?“ Er blieb vor der Badezimmertür stehen. „Du bist sicher müde. Geh ruhig schon schlafen, ich setze mich noch ein bisschen auf die Terrasse. Bis gleich.“
Aus dem Badezimmer hörte er zustimmendes Gemurmel. Er ging die Treppe wieder hinunter, holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank - gut, dass morgen Samstag war - und trat auf die Terrasse hinaus. Noch immer war der Abend wunderbar mild, er liebte diese lauen Sommerabende. Er machte die Terrassenbeleuchtung nicht an und auch keine Kerze, obwohl er das ansonsten durchaus sehr gerne hatte. Doch heute war ihm die totale Dunkelheit mehr als recht. Es war, als ob sie etwas konserviere, das durch Helligkeit zerstört werden würde.
Er öffnete seine Flasche Bier und ließ sich in einen der Verandastühle gleiten. Jack gab ein brummendes Geräusch zur Begrüßung von sich.
Steve blickte zum Haus der Smiths hinüber. Dort waren noch mehrere Fenster erleuchtet, der Wohnraum hinter der Terrassentür, die angrenzende Küche. Auch im Obergeschoss leuchteten einige Fenster. Coles Zimmer?
Und das eine, aus dem nur gedämpftes Licht drang, war sicher Faiths Zimmer - wo sie sich sicherlich jetzt gerade auch aufhielt - mit Amy.
Vorsichtig ließ Steve zu, sich seinen Gedanken zu stellen. Er hatte das nicht tun wollen.
Er hatte ihr wirklich nur aufhelfen wollen, doch als sie dann umknickte und sich an ihm festklammerte - hatte er einfach spontan und ohne zu überlegen seinen Gefühlen nachgegeben.
Er konnte schon längst nicht mehr leugnen, dass er bereits beim ersten Blick in ihre Augen etwas für sie empfunden hatte. Und dass die kurzen Momente, an denen die sich bereits am ersten Tag näher gekommen waren, ihm viel näher gegangen waren, als er sich das tagelang eingestehen wollte.
Ihre Art, die scheue Zurückhaltung einerseits, das Aufblitzen von Humor, Fröhlichkeit und Natürlichkeit anderseits und ihr ständiger Kampf zwischen diesen beiden Wesenszügen faszinierten ihn - hatten das auch besonders heute Abend getan. Wenn sie so scheu und schüchtern zu ihm aufblickte, hatte er schon mehrfach den Impuls in sich gespürt, sie einfach in den Arm zu nehmen und ihr das Gefühl zu geben - ja, was denn genau? Dass sie geliebt wurde? Konnte man es wirklich so nennen? Oder war es vielleicht so, dass er in solchen Momenten einen Beschützerinstinkt in sich spürte und sie wie eine Tochter betrachtete? Eine Tochter, die er nie gehabt hatte und die sie vom Alter her durchaus sein könnte?
Aber - nein. Wenn er ehrlich zu sich war, waren das, was er für sie fühlte, keine väterlichen Gefühle.
Dafür waren viel zu viele andere Regionen in ihm angesprochen worden - nicht zuletzt auch körperliche. So sehr er sich auch immer - unausgesprochen - eigene Kinder gewünscht hatte - nein.
Seine Gefühle für Amy waren ganz eindeutig ... anderer Art.
Es war wohl einfach mehr der große Altersunterschied zwischen ihnen, der in ihm ab und an den Beschützerinstinkt auslöste.
Es war aber auch nicht so, dass sie, aufgrund ihrer Jugend und ihres zugegeben niedlichen Aussehens, einfach nur ein körperliches Begehren in ihm auslöste, dass er sie haben wollte.
Dafür hatte er als Lehrer im Verlauf der Jahre schon viel zu viele teils überdurchschnittlich hübsche oder attraktive Schülerinnen unterrichtet, bei denen er ungewollt einen zweiten Blick riskiert hatte und die er als Mann anziehend fand - allerdings war das nie zu einem Problem geworden.
Er hatte es einfach registriert und damit hatte sich die Sache erledigt. Und auch jetzt - OBJEKTIV gesehen, war Faith in ihrer gesamten Erscheinung attraktiver als Amy - und seine eigene Frau konnte körperlich problemlos mithalten und konnte nur als attraktiv bezeichnet werden.
Es war also wirklich nicht rein körperliches Verlangen, das ihn zu Amy hinzog... es war einfach - sie selbst.
Steve nahm einen Schluck aus der Flasche. In Faiths Zimmer ging das Licht aus. Steve lächelte warm. Amys Herz hatte so geschlagen, als er sie in den Armen gehalten hatte, vorhin. Sie hatte ihren Kopf an ihn geschmiegt. Am liebsten hätte er sie nie wieder los gelassen. Ihre kleine Gestalt in seinen Armen, der leichte Duft, der ihren Haaren entströmte ... oh Gott.
Steve stellte ruckartig die Flasche auf den Tisch, so dass Jack erschrocken hochfuhr.
Steve strich sich durch die Haare. Scheiße. Er hatte vermutlich nun echt ein Problem.
Nachdem er sich nun eingestehen musste, dass diese Umarmung eine Bedeutung für ihn hatte, drängte sich nun zwangsläufig die Frage auf, wie es weiter gehen sollte.
Oben im Bett lag seine Ehefrau, und am Montag früh würde er Amy wieder als ihr Lehrer gegenüber treten müssen.
Er lachte leicht höhnisch auf. Eine Situation wie in billigen Kitschromanen - und doch nicht zu leugnende Realität.
Schmerzhaft wurde ihm bewusst, dass auch Amy diese Umarmung unheimlich berührt haben musste. Schließlich waren ihm ihre Gefühle für ihn ja noch viel eher klar gewesen, als die Tatsache, dass er sie tatsächlich erwiderte.
War das fair ihr gegenüber gewesen? Hatte er nicht in ihr nun irgendwelche Hoffnungen geweckt, die er letztendlich nicht erfüllen konnte?
So bewusst Steve sich nun auch seiner Gefühle Amy gegenüber geworden war, so klar war ihm auch, dass sich daraus nicht mehr entwickeln durfte.
Es durfte einfach nicht sein.
Studium, Weiterbildungen und Schulvorschriften hatten diese Ansicht als absolutes und unumstößliches Dogma in ihm entwickelt. Die Vorstellung oder Erkenntnis, dass es im Leben einfach Tatsachen gab, denen letztendlich ein solches Dogma nicht standhielt, nicht standhalten KONNTE, ließ er nicht zu.
- Noch nicht.
Und so setzte er sich nun mit der schmerzlichen Tatsache auseinander, dass er Amy weh tun musste, indem er von nun an würde vermeiden müssen, ihr in ähnlicher Weise noch einmal nahe zu kommen. Dass es für ihn selbst auch zur Qual werden würde, war ihm gar nicht richtig bewusst. Aber es tat Steve fast körperlich weh, sich vorzustellen, wie ihre großen Augen seinen Blick suchen würden, wie sie vielleicht versuchen würde, ihm nahe zu sein - in dem Glauben, er würde etwas für sie empfinden - was ja im Grunde genommen auch stimmte.
Und so verwandelte sich die warme Erinnerung an die zärtliche Umarmung bei Steve in Selbstzweifel und Selbstvorwürfe, die an dem zarten Band der Liebe, welches die beiden schon längst umwoben hatte, zwar zerrten, es jedoch nicht zerreißen konnten.
Als schließlich auch im Nachbarhaus schon längst alle Lichter ausgegangen waren, schleppte Steve sich müde die Treppe zum Schlafzimmer hinauf, zog sich leise aus und ließ sich ins Bett gleiten. Doch der ersehnte Schlaf wollte nicht kommen, denn Steve grübelte, wie er die Situation wieder in den Griff bekommen sollte.
Weil, so seine eingeprägte Überzeugung,
weil nicht sein kann, was nicht sein darf.