„Bitte, Severus. Tu mir noch diesen einen Gefallen. Ich weiß wirklich nicht mehr weiter!“
Mit dem Rücken zu der blonden Frau starrte Severus Snape in das flackernde Kaminfeuer in seinem Büro. Es war beinahe schon komisch, dass diese Frau ihm die ideale Gelegenheit bot, noch einmal in das Anwesen der Malfoys zurückzukehren, um mit Hermine Granger zu sprechen. Doch die Umstände bereiteten ihm Sorge: „Lucius ignoriert dich also?“
„Die ganze Woche über, ja“, erklärte Narzissa mit brüchiger Stimme, „ich verstehe ihn ja, wirklich, ich weiß, dass es nicht die feine englische Art ist, seinen eigenen Gatten überwachen zu lassen. Aber er hat ja alles daran gesetzt, mich zu so einem Schritt zu provozieren.“
Es fiel ihm schwer, Verständnis für Lucius aufzubringen. Er hatte ein ganzes Wochenende damit verbracht, das Verhältnis zwischen seinem alten Weggefährten und Hermine zu beobachten, hatte ihm deutlich gemacht, was genau seine Frau darüber dachte und wie gefährlich das alles war. Und obwohl er einerseits zu der Erkenntnis gelangt war, dass Narzissas Verdacht tatsächlich mehr als begründet war, so war er doch mit der Gewissheit heim gekehrt, dass Lucius Malfoy verstanden hatte, dass er sein Verhalten ändern musste. Aus gutem Willen und der Angst, Hermine in Gefahr zu bringen, sollte er etwas Falsches sagen, hatte er gegenüber Narzissa gelogen. Er hatte für das Oberhaupt der Malfoy-Familie viel mehr getan, als dieser oder irgendein anderer Malfoy es verdient hätten – doch wie immer wurden seine Taten nicht geschätzt, nicht erkannt, nur mit Füßen getreten. Dass Lucius seiner Frau die kalte Schulter zeigte, anstatt die Gelegenheit zu ergreifen, alle Zweifel aus der Welt zu räumen, ließ ihn ernsthaft an dem Verstand dieses Mannes zweifeln.
„Ich bin der Letzte, der als Eheberater funktioniert, Narzissa“, sagte er schließlich in einem schwachen Versuch, sich nicht erneut in fremde Angelegenheiten verwickeln zu lassen, doch er wusste schon vorher, dass das nicht fruchten würde.
„Das verlange ich doch auch gar nicht“, erwiderte sie verzweifelt: „Aber … du bist ein alter Freund unserer Familie. Lucius hat dir früher geholfen, als du neu im Kreis unseres Lords warst. Und du hast dich für ihn eingesetzt, als er in Ungnade gefallen ist. Er hat das nicht vergessen. Was du sagst, hat Gewicht für ihn.“
„Das hast du alles schon in dem Brief gesagt, der mich überhaupt dazu gebracht hat, das letzte Wochenende bei euch zu verbringen. Mein Besuch hat offensichtlich nicht gefruchtet. Warum sollte das jetzt anders sein?“, erkundigte Snape sich kühl. Seine Besucherin gab jedoch nicht auf: „Da ging es um etwas anderes. Ich dachte, das Schlammblut ist schuld, dass sich Lucius abgewendet hat, ich wollte dem auf den Grund gehen und gleichzeitig Abstand gewinnen. Ich glaube immer noch, dass sie schuld ist! Nur anders. Es war dumm von mir anzunehmen, dass Lucius sich tatsächlich ernsthaft für ein Schlammblut interessieren könnte. Aber sie kann ihm jederzeit bieten, was eigentlich nur eine Ehefrau geben sollte. Sie ist schuld, dass er mich nicht mehr braucht.“
Severus entging nicht der von Wut und Hass getränkte Tonfall, in dem Narzissa diese Worte äußerte, und er spürte, wie leichte Sorge in ihm hochstieg – diese Frau hatte Hermine schon einmal an den Rand des Todes gebracht und er traute ihr zu, das erneut zu versuchen. Er kam nicht umhin, nach allem, was er der jungen Frau angetan hatte, ein gewisses Maß an Verantwortung für ihr weiteres Wohlbefinden zu verspüren. Obwohl er festgestellt hatte, dass sie stärker war als gedacht, so war ihm doch nur zu bewusst, dass sie in ihrer Position als Sklavin im Hause Malfoy einem etwaigen Angriff von Narzissa schutzlos ausgeliefert wäre. Ihre geistige Stärke, die sie eine Vergewaltigung und die gewalttätigen Übergriffe ihrer Besitzer hatte verarbeiten lassen, machten ihren zierlichen Körper nicht weniger zerbrechlich.
„Also kein Eheberater“, stellte er sachlich fest: „Was genau erhoffst du dir dann von meinem Besuch?“
Er drehte sich endlich zu Narzissa um, während er auf eine Antwort wartete. Es dauerte einen Moment, ehe sie reagierte, und offensichtlich fiel es ihr schwer, ihre Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen: „Ich weiß auch nicht. Ich möchte mich einfach in meinem eigenen Haus nicht so alleine fühlen.“
„Warum fragst du dann nicht deine Schwester?“
Ein hysterisches Lachen erklang: „Ich will meine Beziehung zu Lucius verbessern, nicht endgültig zerstören. Du weißt doch, wie Bella ist. Sie würde ihn die ganze Zeit provozieren, sich über ihn lustig machen und demütigen. Ich liebe sie und bin ihr wirklich dankbar für alles, aber in so einem Fall ist sie nicht hilfreich.“
„Und du wendest dich stattdessen lieber an mich für emotionalen Halt?“, entgegnete Snape zynisch. Er konnte sehen, wie sie unter seinem kalten Blick im Sessel zusammen schrumpfte, doch sie gab nicht auf: „Verdammt, Severus, warum machst du es mir so schwer? Du hast so offen und hilfsbereit auf meinen Brief reagiert, was ist jetzt anders?“
„Es ist eine Sache, das Verhalten eines Mannes zu überwachen und ihm ins Gewissen zu reden, dass sein Verhalten gefährlich ist“, erklärte er schlicht: „Hier jedoch geht es um Gefühle. Das ist nicht mein Fachgebiet.“
„Dann … dann komm einfach so zu Besuch. Ohne irgendwelche Hintergedanken. Als Gastgeber für dich wird Lucius gezwungen sein, meine Anwesenheit anzuerkennen und sich mir gegenüber zumindest höflich zu verhalten.“
Snape ließ bewusst ein höhnisches Grinsen um seine Mundwinkel spielen, während er langsam nickte: „So verzweifelt, meine liebe Narzissa. Es lässt sich nicht abstreiten, dass die Familie Malfoy nicht mehr das ist, was sie einmal war.“
Es bereitete ihm eine gewisse Schadensfreude zu sehen, dass sein Gast unter diesen abfälligen Worten sichtlich zusammenzuckte, aber da beide wussten, dass sie auf sein Wohlwollen angewiesen war, konnte sie keine entsprechende Erwiderung äußern. Gefasst erhob Narzissa sich, reichte ihm mit gesenktem Kopf die Hand und verabschiedete sich.
Snape schloss die Tür hinter ihr und kehrte zum Kamin zurück. Wieder starrte er lange in die Flammen, ohne seine Umgebung wirklich wahrzunehmen. Schneller als erwartet hatte sich eine Möglichkeit ergeben, Hermine wieder zu sehen. Er musste den Besuch nutzen, um mit ihr alleine sein zu können. Der Kräutergarten würde erneut als Ausrede herhalten müssen, doch er war sich sicher, dass ihn auch diesmal niemand hinterfragen würde.
Entschlossen setzte er sich an seinen Schreibtisch, um einen Brief an Lucius zu verfassen, der ihm mitteilte, dass er am Samstagnachmittag zu Besuch zu kommen gedachte, um Narzissas Kräutergarten erneut als günstige Quelle von Zaubertrankzutaten nutzen zu können. Mit knappen, routinierten Bewegungen band er das Stück Pergament an das Bein seiner Eule und schaute dann zu, wie sie aus dem Fenster des Schulleiterbüros hinaus in die Nacht flog. Wenn er ehrlich zu sich war, verspürte er eine gewisse Vorfreude auf den Besuch. Es kam nicht oft vor, dass er etwas anderes als Müdigkeit und Verzweiflung ob der übermächtigen Verantwortung, die er trug, spürte, doch sie hatte dies nun schon mehrmals geschafft. Ihr einfühlsames, offenes Wesen machten sie zu einer erstaunlichen Frau – umso mehr bereute er, was er ihr angetan hatte.
Als er vor Monaten Lucius das Gold gezahlt hatte, um Hermines Jungfräulichkeit zu kaufen, hatte er nicht geplant, seine Seite des Handels wirklich auszunutzen. Er hatte verhindern wollen, dass irgendein anderer Todesser sie sich nahm, denn ihm war nur zu klar gewesen, wie erfreulich das für die junge Frau geworden wäre. Doch Draco Malfoy hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Unter der Last, Dumbeldore töten zu müssen, und dem Wissen, dass ihm bei Misserfolg der Tod drohte, war der Junge offensichtlich wahnsinnig geworden. Sein Hass und sein Verlangen, Hermine zu quälen, waren Severus schnell aufgefallen – einer der Gründe dafür, warum er ihm gefolgt war, als er beobachtet hatte, wie Draco an jenem Abend den Weg zu Hermines kleinem Schlafgemach eingeschlagen hatte. Er war abgestoßen, aber nicht überrascht gewesen davon, dass der junge Malfoy sich Hermine tatsächlich hatte aufdrängen wollen.
Er hatte einschreiten müssen. Hatte Draco unterbrechen und ihn verscheuchen müssen. Auf seine erkauften Rechte an der Sklavin hinweisen müssen.
Wie so oft zuvor hasste er sich für das, was er danach getan hatte, doch noch immer wollte ihm nicht einfallen, was er sonst hätte tun sollen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Draco in der Nähe geblieben war, um ihn mit Hermine zu beobachten, war einfach zu hoch gewesen. Er hatte sich in eine Sackgasse manövriert, in der ihm keine andere Wahl geblieben war, als entgegen seines Vorhabens doch mit ihr zu schlafen. Ihr brutal Gewalt an zu tun.
Hasserfüllt ließ Severus sich auf den Sessel vor dem Kamin sinken. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken an das, was er ihr angetan hatte. Er war gezwungen gewesen, sich so zu verhalten, wie man es von einem Todesser, der sich Sex erkauft hatte, erwartete. Er hatte nicht riskieren können, dass Draco seinem Vater oder sonst einem interessierten Todesser erzählt hätte, wie zärtlich Severus Snape mit einer Sklavin, einem Schlammblut umgegangen war. Doch das machte sein Handeln nicht besser. Und dass er es genossen hatte, dass er sich tatsächlich zu Hermine, zu ihrem jungen, aber so weiblichen Körper hatte hingezogen gefühlt, machte alles nur noch schlimmer.
Es musste ein Fluch auf ihm lasten, dass er stets durch seine eigenen Handlungen in eine Situation geriet, in der er direkt oder indirekt für das Leid und den Tod jener Menschen verantwortlich war, die ihm am meisten bedeuteten. Er hatte Lily verraten und ihren Tod verursacht. Dumbeldore, der einzige Mann, der ihn je wirklich gekannt hatte, war von seiner Hand gestorben. Und dann hatte er auch Hermine Granger, das intelligenteste Mitglied des Ordens des Phönix‘, die ihn zugleich immer wieder mit ihrem großen Herzen beeindruckte, das Schlimmste angetan, was einer Frau passieren konnte. Er wusste schon lange, dass er niemals dazu bestimmt gewesen war, ein glückliches Leben zu führen. Er hatte einen Fehler begangen, er hat sich von seinen Minderwertigkeitsgefühlen verleiten lassen – und er würde dafür den Rest seines Lebens zahlen. Doch egal, wie viel er opferte, wie viel er tat und auf sich nahm, das Leben dankte es ihm stets mit noch mehr Leid und Schuld.
Als vor so vielen Wochen der Todesfluch Harry Potter getroffen hatte und Lord Voldemort den endgültigen Sieg errungen hatte, war der letzte Wille zu leben von ihm gewichen. Er hatte versagt, er hatte es nicht nur nicht geschafft, Lilys Sohn zu schützen, er hatte auch Dumbledore enttäuscht. Nur die Aussicht, zumindest die Liebe von Potter zu schützen, und damit die letzte Erinnerung an Lily zu bewahren, hatte ihn davon abgehalten, dem ganzen Irrsinn ein Ende zu bereiten. Er hatte Potter nie gemocht, ja, er hatte ihn gehasst, sowohl den Vater als auch den Sohn. Doch er hatte sich stets verpflichtet gefühlt, auf Lilys Sohn Acht zu geben – und wenn das einzige, was ihm blieb, war, dass er jene Frau, die für Lilys Sohn das Glück der Welt bedeutet hatte, vor dem Zugriff anderer Todesser schützte, dann würde er es tun, das hatte er sich damals geschworen und ohne zu zögern Ginevra Weasley als seine Sklavin gewählt. Die Kraft, einen neuen Plan für den Sturz von Voldemort zu entwickeln, hatte er erst gefunden, als er Hermine Granger wieder gesehen hatte. Diese starke, junge Frau, die offensichtlich auch als Sklavin nie ihren Willen zum Leben und zum Kämpfen aufgegeben hatte, hatte ihn gelehrt, dass auch er nicht aufhören durfte zu kämpfen. Auch das war er Lily und Albus schuldig.
Schuld.
Sein ganzes Leben war durchzogen davon, dass er sich schuldig fühlte und tatsächlich schuldig war. Egal, wie sehr er nach Wiedergutmachung strebte, es war ihm bisher nie gelungen. Er hatte Lily schützen wollen, doch es war bereits zu spät gewesen. Er hatte Dumbledore helfen wollen, doch am Ende hatte der alte Mann ihn dazu getrieben, erneut zum Mörder zu werden. Er hatte Hermine Granger beschützen wollen, doch am Ende hatte sich sein Handeln gegen ihn gewendet und er war gezwungen gewesen zu tun, wovor er sie hatte bewahren wollen. Mit jedem Versuch, seine Schuld zu begleichen, hatte er stets nur neue Schuld auf seine Schultern geladen.
Er hasste sich. Nichts an ihm war liebenswert, nicht einmal für ihn selbst. Und doch war er gezwungen, weiter zu leben und zu kämpfen. Solange, bis er endgültig alles getan hatte, was in seiner Macht stand, um seine Schuld zu begleichen und die Welt wieder ins Lot zu rücken.
Genug jetzt!, befahl er sich streng, während er sich aus dem Sessel erhob und das Büro verließ, um zum Abendessen in die Große Halle zu gehen: Es bringt dich nicht weiter, in deinem Selbstmitleid zu baden. Du bist schon erbärmlich genug. Behalte wenigstens deine Würde und bemitleide dich nicht selbst! Du hast selbst Schuld an allem! Du hast jetzt eine Aufgabe vor dir und die verlangt, dass du bei der Sache und entschlossen bist. Hör auf, über die Vergangenheit zu heulen.
Jene Schüler, die an diesem Abend den Mut fanden, zum Lehrertisch hinaufzuschauen, bekamen einen Severus Snape zu Gesicht, dessen Lippen zu einem feinen Strich zusammen gepresst waren und dessen Augen eine unerbittliche Härte ausdrückten, wie sie sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatten. Was auch immer der Grund dafür war, so dachten diese armen Schüler, dieser Mann sah aus, als ob er bereit war zu töten.