Weit hinter sich vernahm sie Tumult. Befehle und Ermahnungen drangen ihr zugleich ans Ohr. Es war einer jener seltenen Momente, während die befohlenen Soldaten des Lords und die gedungenen Wächter ihres Mannes einer Meinung waren. Die einen schlossen die Tore, die anderen bemannten die Palisadengänge.
Bestlins Reitfähigen bestiegen ihre Pferde und harrten aus - sie warteten auf ihren Einsatz.
Schützend hielt Alna das junge Ding mit ihrem linken Arm vor sich und lenkte ihres Mannes alten Karren mit der Rechten. Jenem, der ihnen schon so lange treue Dienste leistete, sollte nun auch einem Kind aus fernem Gefilde einen eben solchen leisten. Einen von derlei Art, der Hoffnung verspricht. Einem der die Wende hervorbringen könnte.
Kiraa umarmte und schmiegte sich ganz fest an sie. Das arme Ding verlor in der vergangenen Nacht ihre in diesen Ländern einzig wahre Bezugsperson. Es war ihr weder bestimmt zu genesen noch ein Leben in vermeidlicher Sicherheit zu verbringen. Sie sollte allein, ohne mütterlichen Beistand erfahren sollen, was die körperliche Reife und Erwachsenwerden an Hürden bereithielt.
Die verworrenen Fäden des Schicksals erlaubten ihr bloß den anstrengenden Weg aus ihrer angestammten Heimat, bis in den fernen unbekannten Osten zu begleiten.
Das Mädchen war Jünger als ihr Kayden, schien ihm jedoch in vielerlei zu ähneln. Tapfer ließ sie allerlei Strapazen über sich ergehen, erholte sich von diesen in kürzester Zeit und überwand gar fiebrige wie traurige Momente. Der Verlust ihrer Lieben muss diesem unreifen Ding im Herzen unermesslich schmerzen, vergrub sie sich seit dem in den tröstenden Armen einer ihr unbekannten Person.
Auch wenn dem alten Zossen, der den klapprigen Wagen zog, zwei getreue Serfems schützend begleiteten, beurteilte die Zeit ihre Verfolger als die besseren verbündeten. In innerer Zwiesprache betete sie zu allen erdenklichen Boten des Himmels, die starren Baumreihen des ›flüsternden Waldes‹ noch rechtzeitig zu erreichen.
Ein ihr bisweilen Unbekannter überbrachte ihrem Geliebten vor wenigen Momenten die missliche Kunde, dass Kopfjäger die Spur der bei ihnen untergekommenen Frauen aufgenommen haben. Klarich hegte keinerlei Zweifel an dessen Worten, wusste er unlängst, dass ein ungebetener Suchtrupp in Agrea sein Unwesen trieb und unliebsame Fragen stellte. Dennoch blieb es ungeklärt, wie es diesen in solch kurzer Zeit gelang herauszubekommen, wo sie zu suchen hatten.
Ein Mosaik aus vielerlei Bildern entstand in ihren Gedanken.
Zwei Jungen, die ebenso wie sie jetzt, auf dieser unebenen grasbewachsenen Ebene vor ihren Häschern davonrannten. Ob es ihren Kindern einst ähnlich erging? Ungewissheit, Angst und das stete Gefühl als wende sich die Zeit gegen sie?
Ein schrilles Kreischen buhlte um Kaydens Aufmerksamkeit und ließ diesen irritiert dreinschauen. Sein Kopf wendete sich von dem nahenden Karren wie seinen berittenen Begleitern hinüber zu jener Stelle, von wo er glaubte, dass dieses wilde Geschrei seinen Ursprung habe.
Abseits des Rabengehölzes nährten sie sich rasch auf schäbig aussehenden Pferden. Er zählte nicht derer Anzahl, meinte jedoch Frauen wie Männer erkennen zu können, die sich absichtlich barbarisch verhielten. Ohne Zweifel kamen sie über die östliche Anhöhe.
»Kopfjäger«, knurrte Rondal. Er vollführte mit seinen Händen stumme Anweisungen und drei der Begleiter spannten Sehnen in die Bogen und rückten ihre Köcher zurecht. Die Übrigen eilten zu den Pferden.
Jene beiden, die den Karren flankierten, zogen ihre Waffen. Der Linke beugte sich herab und schien sich mit dem Lenker auszutauschen, der zustimmend nickte. Es war ersichtlich, dass die anrückende Horde das Gespann noch vor Erreichen ihrer Pfeilgrenze bedrängen würde.
Kayden schluckte und schätzte sorgfältig die Entfernungen beider. Mit Entspannung und Bedacht, erreichst du dein Ziel, hallten die ermahnenden Worte seines Onkels in den Ohren. Er war aufgeregt und seine Hände begannen zu zittern. Seine Gedanken an Alric zwangen ihn, seinen inneren Ruhepol aufzusuchen. Durch die erzwungene Ruhe und Muße besann er sich und sortierte sein Befinden.
Jene, die man Köpfjäger schimpfte, rückten beständig näher und die beiden Bewaffneten stoben ihnen mit blank gezogener Klinge mutig entgegen. Zwei Personen befanden sich auf dem Wagen. Ein junges Mädchen, welches sich in den Armen einer älteren Frau schmiegte.
Seine Augen weiteten sich schockiert und sein Mund öffnete sich ohne Zutuns. Tief und stockend japste er nach Atem, seine Nasenflügel bebten. Die Knöchel seiner rechten Hand knackten ungewöhnlich Laut, als sich diese krampfhaft zur Faust ballte.
»Sie schaffen es nicht. Beeilt euch verdammt«, rief Rondal. Ihre Begleiter ließen ihre Bögen an Ort und Stelle fallen, zogen ihre Scimitar und eilten auf lautlosen Sohlen hervor. Rücklings brachen drei Reiter aus dem Buschwerk und jagten den vorherigen zügig voraus. Auch sie würden dem Wagen vermutlich nicht schnell genug zur Hilfe eilen können.
Die Kopfjäger verstanden ihr Geschäft. Sie wussten ihre Aufträge erfolgreich zum Abschluss zu bringen.
Sie verfolgten eine Spur wie reißender Tiere gleich einer Witterung und schlugen rücksichtslos zu. Blutzoll unter den ihren nahmen sie zur Kenntnis, zählten für einen jeden jedoch nur insoweit, dass den Übrigen erhöhte Gewinne bevorstünden. Sie behielten stets das Ziel ihrer Belange vor Augen.
»Bleib hier«, beschwor er den jungen Mann, der ungestüm den Schattenjägern folgen wollte. »Was auch immer geschehen wird, du kannst nichts ändern.«
Sirrende Geräusche erklangen in Kaydens Ohren. Er erinnerte sich, dass verschiedene marodierende Banden, bearbeitete Pfeile nutzten, die seltsam pfeifende Laute von sich gaben.
Ihre Schützen verfügten über scharfe Augen, denn folgend dieses Sirrens tönten Schmerzenslaute.
Sein Blick schien in einer zeitlichen Verschiebung zu ruhen. Er glaubte den Pfeil, der in einen der berittenen Schattenjäger einschlug, verfolgen zu können. Er steckte dem Reiter oberhalb der linken Schulter und vibrierte mit jedweden seiner Bewegungen auf und ab. Der Getroffene war entweder schmerzbefreit oder von der Wunde nicht sonderlich beeindruckt. Er Ritt weiter und schwang seine Waffe.
Jene Zwei, die den Karren begleiteten, stritten mit jeweils zweien zugleich. Dass die Schattenjäger ungeahnt auftraten, brachte den Angriffswillen dieser wüsten Truppe leider nur kurzweilig zum Stocken. Momente, in denen das Gespann dem schützenden Wald näherkam und die zu überwindende Strecke zu den Verfolgern für sich ausweitete.
Rufe und Schreie mischten sich einander. Dennoch, der Ausgang schien unausweichlich.
»Kayden.« Er hörte seinen Namen, wollte sich jedoch nicht ablenken lassen, hoffte er bevorstehende Situation, allein durch kraft seiner Gedanken beeinflussen zu können.
Rondal wurde energischer und begann dem Jungen ungehalten die Schulter zu schütteln. »Verdammt Kayden, reiß dich zusammen!«
Angesprochener vermochte nicht zu begreifen, was direkt vor seinen Augen geschah; stattdessen erschauderte sein gesamter Körper. Ein ihm bisher ungeahnter Druck machte sich in seinem Innren breit, so als wolle etwas aus ihm herausbrechen.
Druckartiger Schmerz umhüllte seine Brust und sein Atem geriet zum Erliegen. Gerade in jenem Augenblick, als er dachte, das Ende sei nah, sah er zähe Bilder vor seinem Auge dahingleiten.
Ein schmaler spitzer Schaft erhob sich in die Höhe und begann seinen unausweichlichen Sinkflug. Die ältere Frau auf dem Fuhrwerk sah das Unheil nahen und schob das Mädchen brüsk von sich. Sie stand auf und empfing den Boten des Todes.
Das Geschoss grub sich oberhalb des Bauches bis beinahe zur Hälfte in ihren Leib und die Gewissheit traf Kayden wie ein Hammerschlag. All sein Schmerz, der aufgestaute Druck, der in seinem Inneren wogte, suchte sich Bahn.
Rondal, der zu seiner Rechten stand, wurde sichtlich ungehalten. Er verfolgte die Atemaussetzer und wollte dem Jungen durch eine Ohrfeige zurück in die Gegenwart befördern. Mit erhobener Hand verharrte er mitten in der Bewegung.
Der junge Schattenjäger richtete sich vollends auf und hob verkrampft den Kopf. Seine Arme hingen kraftlos herab und seine Augäpfel begannen zu rollen.
Sein Mund öffnete sich und ein nie gehörter Laut entwich seinem Halse. Ein Schrei, den ein menschliches Ohr nicht als ein solches Wahrnehmen würde, gar konnte - es wahr schlicht absurd.
Rondal sah in dessen Augen nicht mehr den Jungen, der er war. Es war sein Verstand, der durch seine Sicht dem Herzen berichtete, wie es sich zu entscheiden hatte. Sein Gegenüber nickte und ohne dass es eines weiteren Wortes bedurfte, rannten sie los.
Dem Geheul der im Wald streunenden Hunde und Füchse folgte ein geräuschloser Schall, der sich vom Waldesrand rasant ausbreitete. Überall dort, wo dieser in empfindsames Gehör drang, hoben sich derer Köpfe, die diesen in ihrer ureigenen Sprache bestätigten und weitertrugen.
Veyeds und Serfems Blick begegneten sich, als sie das wilde Geschrei der Tiere wahrnahmen. Kylion ruderte mit den Armen und seine Stimme hallte über den Tumult hinweg. »Was ist los? So 'was habe ich noch nie erlebt!«
In scheinbar blindem Durcheinander erhoben sich allerorts Vögel. Gleichwohl, ob klein oder groß, sie schrien, und begannen ihren lang ersehnten Flug. Falken, Bussarde, Adler einfach alles, was Flügel besaß, stieg in die Lüfte. Sie kreisten über Falkenhorst und stoben in einer schwarzen Front gleich in Richtung des Waldes davon.
Serfem und Kremir blickten gleichermaßen zu Veyed, der abwehrend die Hände hob. »Ich habe nichts getan.«
An jedem Ort des verborgenen Landes erhoben sich Unruhen. Sondergleichen ward seit Bestehen Falkenaus weder gesehen noch erlebt. Ob Bauer, Handwerker, Soldat oder Schattenjäger; bei allen überwog Neugierde der Sorge.
Der Thulene wendete seinen Blick und glaubte in den Augen Kylions Verwunderung zu erkennen. Sorgenvoll blickte er drein und wand sein Augenmerk dorthin, wo die Baumgrenze begann.
»Die Vögel kamen vor dem Sturm, so wie sein Wappentier den Verlauf der Reiche prägte«, flüsterte der Falkner und hielt unbeabsichtigt die Schulter Veyeds.
Dieser sah auf. »Was sagst du?«
Er bekam keine Antwort, stattdessen rief Serfem aufgebracht nach einem Pferd und einer Schar Soldaten.
Auch wenn diese den Wald weitestgehend mieden, mit ihm als Führer würden sie reiten, wohin er sie führte.
Kremir beobachtete den halb nackten jungen Mann, der sichtlich verwirrt von Kylion, zu den sich entfernenden Serfem und zurückblickte.
Der Falkner schnaufte und nickte fortwährend. Er legte Veyed seine Rechte auf die Schulter. »Es hat begonnen.«
Zwei in dunklem Braun gehüllte Gestalten eilten zielstrebend über den Bach. Der Größere der beiden strauchelte oftmals an hervorstehenden Oden oder von Nagetieren gegrabenen Löchern. Die grasbewachsene Ebene zwischen dem Rabengehölz und dem ›flüsternden Wald‹ war und würde stets unbebaut bleiben und blieb gänzlich der Natur überlassen.
Der scheinbar Jüngere schwebte offenbar über jedwede Unebenheit. Seine Füße schienen den Boden kaum zu berühren. Er sprang und hüpfte jeglicher Hindernisse spottend, wohingegen andere längst gefallen oder sich verfangen hätten. Seine in beiden Händen gehaltenen gekrümmten Schwerter schimmerten silbern im Lichte der Sonne. Er hielt die Klingen rückwärtig, sodass es einem Betrachter erschien, als würden die Waffen seiner Geschwindigkeit nicht standhalten. Sie folgten seinem Weg und würden in seinem Namen Gericht halten.
Ungeachtet der ihm folgenden sirrenden Geräusche hetzte er dem Karren entgegen.
Abermals erscholl dieses vermaledeite Geschrei. Dieses Mal jedoch nicht der Vorfreude, dieses glich einem Gurgeln oder erstickendem Laut, als die scharfen Schneiden zweier kreuzgeführter Klingen durch den Leib einer der Kopfjägerinnen schnitt.
Sensen gleich wirbelte Kayden seine Waffen. Sein Oberkörper schwenkte elegant wie ein schmiegsames Weidenholz und bog sich von der einen zur anderen Seite. Seine Schritte glichen einem Tanz, nur das auf jedwedem, der seinen unausweichlich der unbarmherzige tot folgte.
Die Schattenjäger, seine Begleiter hielten sich in seiner Nähe, bedacht darauf, ihm keinen Anlass zu bieten seine Klingen zu kreuzen.
Aus Richtung des Waldes schwoll der Krakeel unzähliger Vögel. Einer undurchdringlich schwarzen Front gleich drangen unzählbare Punkte, die rasch an Größe und Substanz zunahmen.
Es waren die unlängst ausgestorben geglaubten Greifvögel in allerlei Wuchs und sie hielten Jagd. An ihrer vordersten Frontlinie flogen die Größten. Aars - die Majestäten der Lüfte.
Über dem jungen Kämpfer vollführten sie eine Schleife und stoben abwärts. Das Heulen der Kopfjäger klang seltsam entrückt in den Ohren Kaydens, aber er erkannte ihre heillose Flucht.
Er zeigte mit dem linken ausgestreckten Arm in ihre Richtung. »Ich will ihre Köpfe!«
Kaum ausgesprochen wendeten die berittenen Jäger ihre Pferde und stürmten hinter den Flüchtenden hinterher. Rondal und ein Weiterer hielten das Umland im Auge. Ihm war die lederne Rüstung des rechten Armes aufgeschlitzt und Blut sickerte hervor.
»Kümmere dich um ihn«, befahl Kayden in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Der Junge war die längste Zeit der kleine Junge gewesen. Sein Geist gestatte ihm nicht die Jahre der Jugend, die einem anheim stehen sollten. Ihm blieben lediglich Momente, eine Reife zu erreichen, die übrigen mit der Mannesreife und so mancher darüber hinaus erst erreichen würde.