Überfordert ließ Hermine sich auf das große Bett sinken. Inzwischen war sie sowieso zu spät zum Frühstück, da konnte sie genauso gut gar nicht erst hingehen. Der Kuss von Snape war zärtlich gewesen, nichts hatte an jenen Mann erinnert, der sie grausam gedemütigt und ohne Rücksicht auf sie seine Lust befriedigt hatte. Es war anders als jene Küsse, die sie mit Lucius Malfoy ausgetauscht hatte. In dessen Armen konnte sie sich entspannen, konnte die Zärtlichkeit genießen und erwidern, weil sie wusste, woran sie war. Sie wusste inzwischen, dass der ältere Malfoy auf seine Art ein ebenso gebrochener Mann war wie Draco. So, wie er ihre Ehrlichkeit anziehend fand, empfand sie es selbst als angenehm, dass Lucius Malfoy vor ihr keine Geheimnisse hatte. Sie standen auf unterschiedlichen Seiten, sie würden immer Herr und Sklavin sein, doch er brachte ihr genügend Respekt als eigenständiger Mensch entgegen, um sie nie gegen ihren Willen zum Sex zu zwingen. Er brauchte sie, um aus der ungnädigen Wirklichkeit fliehen zu können, um vergessen zu können, dass er bei Voldemort in Ungnade gefallen war und vermutlich sogar seine eigene Frau ihn bespitzelte.
Snape hingegen war in seiner Launenhaftigkeit undurchschaubar. Ich kann es nicht einmal Launenhaftigkeit nennen, dazu ist er immer vielzu emotionslos!, überlegte Hermine, während sie sich mit ausgebreiteten Armen rückwärts auf die Matratze sinken ließ, Es sind eher widersprüchliche Handlungen. Als ich ihn das erste Mal hier gesehen habe, hat er sich nach meinem Wohlbefinden erkundigt und wirkte ernsthaft interessiert. Dann geht er auf Malfoys Verkaufsangebot ein und ... naja. Dann pflegt er mich gesund, lässt mich mit Ginny reden, zeigt sich fürsorglich, aber kalt. Und jetzt die Sache mit dem Patronus. Und im Kräutergarten. Und eben wieder. Was will er? Wieso spricht er nicht einfach aus, was er von mir will?
Genervt drehte Hermine sich auf die Seite und kuschelte sich in die eigenen Arme. Alles, was er an diesem Wochenende zu ihr gesagt hatte, schrie danach, dass er ihr Vertrauen gewinnen wollte, dass er auf Harrys Seite stand und sie als Verbündete brauchte. Seine Handlungen zuvor hingegen sprachen eine andere Sprache. Wenn er auf Harrys Seite stand, wieso hatte er dann Dumbledore getötet? Warum hatte er die Sache mit dem Elderstab verraten? Ich drehe mich im Kreis!, dachte sie frustriert, Diese Fragen stelle ich mir nun schon seit Wochen. Warum? Warum? Warum? Was ist sein Motiv?
Plötzlich setzte sie sich auf. Ein Gedanke war ihr durch den Kopf geschossen. Ist das wirklich wichtig? Ich hatte mir gestern vorgenommen, ihn auszuhorchen, um dahinter zu kommen, doch ist das wirklich nötig? Ist es nicht egal, welches Motiv er hat? Falls er tatsächlich vorgibt, einen Plan gegen Voldemort zu schmieden, kann mir doch sein Grund egal sein. Entweder, er meint es ernst, gut für mich. Oder er meint es nicht ernst und versucht vielleicht, mich auf diese Weise auszuspionieren - irrelevant. Ich habe nichts zu verbergen und Dracos Geheimnis ist sicher bei mir. Er wird keine Vorteile daraus ziehen können, mir vorzuspielen, auf meiner Seite zu sein.
Rasend schnell dachte sie nach, versuchte an alle Möglichkeiten zu denken, welchen Schaden es ihr zufügen würde, sich auf Snapes Spiel einzulassen. Doch außer enttäuschter Hoffnung, falls er sie doch betrog, fand sie einfach nichts. Nur mit Draco an ihrer Seite - der immer wieder deutlich machte, dass er sich an keiner Verschwörung beteiligen würde - hatte sie geringe Aussichten, irgendetwas ausrichten zu können. Doch falls Snape es ernst meinte, falls der engste Vertraute von Voldemort tatsächlich nicht auf dessen Seite stand, ergaben sich ungeahnte Möglichkeiten. Sie würde es zumindest auf einen Versuch ankommen lassen und schauen, welche Reaktion sie erhielt, wenn sie ihm sagte, dass sie ihm vertraute.
"Granger?"
Die Stimme vom Flur vor Snapes Zimmer ließ Hermine aus ihren Gedanken aufschrecken. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass irgendjemand so schnell nach ihr schauen würde, doch offensichtlich war Lucius Malfoy nicht erfreut über ihre Abwesenheit. Mit einem grimmigen Ausdruck im Gesicht und vor der Brust verschränkten Armen lehnte er sich in den Türrahmen des Zimmers und schaute auf sie hinab.
"War die Nacht mit Severus so schön, dass du dich gar nicht von seinem Bett trennen kannst?"
Innerlich seufzte Hermine. Sie bekam langsam den Eindruck, tatsächlich so etwas wie Eifersucht in ihrem Besitzer zu wecken. Erst seine Wut, als er sie beim Verlassen von Dracos Zimmer erwischt hatte, dann gestern seine stumme, demütigende Inspektion ihres Körpers, nachdem sie die Nacht mit Snape verbracht hatte. Sie wollte keine solchen Gefühle von ihm, immerhin waren sie kein liebendes Pärchen, das sich ab und an mal über Belanglosigkeiten stritt, sondern Herr und Sklavin. Es war schön, Trost bei ihm zu finden, aber mehr war für beide in dieser Beziehung nicht drin. Sie wusste, dass er sich körperlich zu ihr hingezogen fühlte, das gab ihr ein geheimes Gefühl der Macht, aber alles, was über körperliche Anziehung hinausging, würde ihr Leben zu kompliziert machen.
"Ganz im Gegenteil", erwiderte sie schließlich so unbeeindruckt wie möglich, "Snape ist der letzte, mit dem ich das Wort schön in Zusammenhang bringen würde."
Schweigend, aber immer noch mit kalter Miene, starrte Lucius auf sie hinab, bis sie schließlich aufstand und einige Schritte auf ihn zuging: "Was wollt Ihr von mir? Warum errege ich ständig Euren Zorn, wenn andere Männer mich anschauen? Ihr habt mich an Snape verkauft, vergesst das nicht. Es ist unfair, dass Ihr wütend auf mich werdet, aber selbst nicht verhindert, dass er mich mit in sein Bett nimmt."
Bei ihren letzten Worten wurde sein Blick plötzlich weich, er löste sich aus seiner abweisenden Haltung, breitete die Arme aus und schloss Hermine in eine enge Umarmung.
"Ist ja gut, meine kleine Löwin", flüsterte er leise, "kein Grund, mich gleich so anzufauchen."
"Bei Schlangen weiß man nie", gab Hermine ebenso leise zurück, "ein Löwe tut gut daran, der Schlange zu zeigen, dass er um ihr verborgenes Gift weiß, sonst kommt die Schlange vielleicht auf die Idee, sie könne hinterrücks zubeißen."
Ein brummendes Lachen ließ die Brust des blonden Mannes vibrieren: "Ein schönes Bild. Aber denkst du wirklich, dass diese besondere Schlange ihren Giftzahn vor dir versteckt?"
Überrascht schaute sie auf, blickte ihm geradewegs in die blauen Augen: "Tut sie es nicht?"
Der Ausdruck in seinen Augen machte ihr Angst. Trost und Halt waren die einzigen Dinge, die sie sich geben konnten - das war Lucius Malfoy doch wohl hoffentlich auch bewusst? Ehe er jedoch auf ihre Frage antworten konnte, wurden sie unterbrochen.
"Vater? Meinst du nicht, dass es unhöflich ist, deinen Gast so lange beim Frühstück alleine zu lassen?"
Erleichtert nutzte Hermine die Ablenkung, um sich aus der viel zu liebevollen Umarmung von Malfoy zu lösen. Sie eilte an dem älteren Mann vorbei und warf Draco vom Vorrübergehen ein leises "Danke!" zu, ehe sie den Gang runter Richtung Küche verschwand.
"Spinnst du?", verlangte Draco aufgebracht von seinem Vater zu wissen, "Mir kann es ja egal sein, aber ... wir wissen doch beide, warum Snape hier ist! Denkst du wirklich, es ist eine gute Idee, ihn sitzen zu lassen, um nach deiner Sklavin zu sehen? Welchen Eindruck, meinst du, macht das auf ihn? Willst du ihn wirklich darin bestärken zu denken, dass du sie als etwas anderes siehst als ein wertloses Schlammblut?"
"Wenn es dir so egal ist, Sohn", entgegnete Lucius frostig, "dann behalte deine Meinung das nächste Mal für dich!"
Mit diesen Worten ließ er Draco stehen und marschierte zurück zum Frühstücksraum. Genervt fuhr der sich durch die Haare. Er wünschte, es könnte ihm wirklich egal sein, doch was immer sein Vater tat, wenn er Misstrauen im Dunklen Lord schürte, würde das auch unwillkürlich auf ihn, den Sohn, zurückfallen.
oOoOoOo
Gedankenverloren saß Hermine an ihrem Schreibtisch in der Bibliothek und schaute in die Luft. Der Morgen war für ihren Geschmack bereits zu aufregend gewesen, zu viele Dinge waren gesagt worden, zu viele neue Erkenntnisse gewonnen, über die sie nachdenken musste. Bis zu diesem Tag war sie davon ausgegangen, dass Lucius Malfoy sie als Mittel nutzte, seine Verzweiflung zu vergessen. Hinter sich zu lassen, dass er seit ihrem fünften Schuljahr nicht mehr in der Gnade des Dunklen Lords stand, dass seine Frau ihm misstraute und ihn bespitzeln ließ. Und natürlich auch, um seine körperlichen Wünsche zu befriedigen. Doch dessen war sie sich jetzt nicht mehr so sicher. Konnte es ein, dass dieser Mann ihr tatsächlich so etwas wie zärtliche Gefühle entgegenbrachte? Dass irgendwo in seinem offensichtlich verwirrten Geist die Idee entstanden war, sie könne ihm mehr geben als ihren Körper und ein wenig Trost?
"Sollten Sie nicht arbeiten?"
Erschrocken sprang Hermine von ihrem Stuhl auf - sie war so in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Snape direkt hinter sie getreten war. Offensichtlich amüsiert über ihre Reaktion hob dieser eine Augenbraue und blickte sie fragend an.
"Ich arbeite sowieso schneller, als Mr. Malfoy erwartet hatte, da kann ich mir eine kurze Gedenkpause schon mal erlauben!", erwiderte sie trotzig. Seine Reaktion bestand nur daraus, dass seine Augenbraue noch ein Stück weiter hoch wanderte, ehe er mit den Schultern zuckte und sich auf das Sofa sinken ließ. Kurz stritt Hermine innerlich mit sich selbst, dann ging sie raschen Schrittes zur Eingangstür der Bibliothek, schloss diese, und kehre zu Snape zurück. Dieser beobachtete ihre Handlungen mit sorgfältigem Desinteresse, doch als sie sich schließlich neben ihm auf das Sofa sinken ließ, hatte sie seine volle Aufmerksamkeit.
"Ich habe nachgedacht", eröffnete sie das Gespräch.
"Das ist mal etwas Neues."
Missmutig blickte sie ihn an, ließ sich jedoch nicht weiter von seinem Seitenhieb aus der Fassung bringen: "Ich habe beschlossen, Ihnen eine Chance zu geben. Wenn ich sage, dass ich anfange zu glauben, dass Sie auf Harrys Seite stehen, und dass ich, falls dem so ist, Ihnen helfen will - was würden Sie dann tun?"
"Ich würde anfangen, an Ihrem Verstand zu zweifeln", erwiderte Snape ungerührt, "Wie kommen Sie auf diese hirnrissige Idee?"
Mit offenem Mund starrte Hermine ihn an. Hatte sie ihn falsch verstanden? War das nicht sein Ziel gewesen? Hatte er nicht versucht, ihren Blickwinkel zu ändern und ihr über viele Ecken zu beweisen, dass er auf ihrer Seite stand? Der Raum um sie herum fing an, sich zu drehen.
"Miss Granger!", mahnte ihr ehemaliger Lehrer mit ernster Stimme, während er sie gleichzeitig bei beiden Armen packte und auf seinen Schoß zog. Unfähig, sich aus ihrer Starre zu lösen, ließ Hermine es einfach geschehen.
"Hören Sie mir jetzt gut zu!", flüsterte er ihr kaum hörbar zu, sein Mund so nah an ihrem Ohr, dass sie seinen warmen Atem an ihrer Wange spüren konnte, "Sie sollten aufpassen, was Sie in diesen Mauern laut aussprechen. Sie können niemals wissen, wann jemand lauscht. Ist Ihnen das nicht klar? Egal, wie gut Sie sich abgesichert fühlen, es kann immer jemand mithören!"
Wortlos nickte sie, während sie angespannt darauf wartete, dass er sich doch noch als Verbündeter zu erkennen geben würde.
"Sie sind eine beeindruckende junge Frau. Ich rechne es Ihnen hoch an, dass Sie nach allem, was ich zuvor getan habe, den Mut und die Willensstärke finden, mir zu vertrauen. Sie tun gut daran. Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihr Vertrauen nicht missbrauchen werde. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass alles gut wird, aber ich versichere, ich werde mein Möglichstes tun."
Ein Zittern ergriff Hermine: "Heißt das, Sie sind auf unserer Seite?"
Lächelnd griff Snape mit seiner großen Hand nach ihrer Wange, streichelte ihren Wangenknochen und nickte. Nervös und noch immer unsicher, ob sie seinen Worten wirklich vertrauen konnte, erwiderte sie das Lächeln. Sie meinte, so etwas wie Erleichterung in seinem Blick lesen zu können, doch ehe sie sich sicher war, hatte er bereits wieder eine verschlossene Miene aufgesetzt, sie von seinem Schoß gehoben und war aufgestanden. Gerade wollte er sich zum Gehen wenden, da beugte er sich noch einmal zu ihr herunter und flüsterte erneut leise: "Sorgen Sie dafür, dass keiner der Hausbewohner misstrauisch wird. Vergessen Sie nicht, offiziell leiden Sie immer noch an dem Trauma, dass ich Ihnen zugefügt habe, und hassen mich."
Er war bereits aus der Bibliothek verschwunden, als Hermine schließlich zu sich selbst murmelte: "Ich leide nicht nur offiziell darunter!"
Erschlagen ließ Hermine sich zurück auf das Sofa sinken. Ihr Herz raste vor Aufregung, ihr Geist hingegen schien wie erfroren zu sein. Sie wusste, sie hätte einen Freudentanz darüber aufführen sollen, dass sie ausgerechnet in Severus Snape, dem einflussreichsten Todesser, einen Verbündeten gefunden hatte. Die Panik jedoch, die jede seine Berührungen noch immer in ihr auslöste, dieser Strudel aus Erinnerungen, trübte die Freude. Ein Teil in ihr, der sich immer wieder als aufbrausend und emotional erwies, schrie innerlich bei dem Gedanken, künftig häufiger alleine mit diesem Mann sein zu müssen. Ihr Verstand war überglücklich, doch ihre Gefühle weigerten sich, ihm zu vertrauen.