Hermine war nicht entgangen, dass Tom heute ungewohnt abgelenkt wirkte auf ihrem gemeinsamen Gang von Verteidigung gegen die dunklen Künste zu Geschichte. Seine Zerstreutheit war sogar so weit gegangen, dass er tatsächlich noch einmal zum Unterrichtsraum hatte zurückkehren müssen, um seine Feder zu holen. Er hatte ihr versichert, dass sie ausnahmsweise ohne ihn zur nächsten Stunde gehen durfte, doch sein Verhalten hatte sie mehr als misstrauisch gemacht, und so war sie mit ihm gegangen und wartete nun darauf, dass er seine Feder im Klassenraum fand.
Der Beginn der nächsten Stunde näherte sich und langsam trafen die ersten Schüler des fünften Jahrgangs ein, die nun offensichtlich Verteidigung hatten. Aus der Entfernung sah Hermine, wie Augusta Bargeworthy auf sie zukam. Augenblicklich verkrampfte sie sich innerlich. Das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war, dass Tom irgendeinen freundlichen Austausch zwischen ihr und diesem Mädchen sah. Sie wünschte, sie wäre in der Muggelwelt, da hätte sie einfach auf ihre Armbanduhr starren können, um Blickkontakt zu vermeiden. Einige Schritte hinter Augusta lief auch ein Junge aus Slytherin, den Hermine als Orion Black erkannte. Sie erinnerte sich, wie er ungeniert nach ihrem Duell mit Riddle gefragt hatte nach ihrer ersten Stunde in Verteidigung. Zu ihrer Überraschung holte er mit eiligen Schritten zu Augusta auf, um dann an ihrer Seite auf die Tür zum Klassenraum zuzusteuern.
Als Augusta an ihr vorbeiging, nickte sie Hermine kaum merklich zu, was diese ebenso unauffällig erwiderte. Von Tom fehlte noch immer jede Spur, entsprechend konnte sie die höfliche Geste ruhigen Gewissens erwidern. Angestrengt lauschte sie auf das leise Gespräch der beiden.
„... und jetzt wollen Sie mich vor ihm warnen?"
Augusta klang irritiert und Orion lief rot an. Neugierig trat Hermine einen Schritt näher an die Tür heran, um der Unterhaltung weiter lauschen zu können. Zu ihrem Glück war das ungleiche Paar direkt hinter dem Eingang stehen geblieben und tuschelte nun leise im Stehen weiter.
„Ich weiß, es muss Ihnen merkwürdig erscheinen, dass ich erst über Tom Riddle schweigen wollte und nun mit solchen Worten komme, doch bitte glauben Sie mir, Miss Bargeworthy ..."
Hermines Herz setzte einen Schlag aus. Was dachte Augusta sich dabei, ausgerechnet mit einem Slytherin-Schüler über Tom zu sprechen? Und wovor genau wollte der junge Black sie warnen, immerhin hatte er zuvor stets wie ein glühender Anhänger gewirkt. Nervös wischte sie sich ihre schwitzenden Hände an ihrem Rock ab und lehnte sich noch näher an die Tür.
„Ich habe Ihnen doch bei unserem ersten Gespräch schon von seinen außerschulischen Aktivitäten erzählt", fuhr Orion hastig fort, „und ich fürchte, sie sind wahrlich nicht guter Natur. Ich glaube, unser Schulsprecher ist ein durch und durch böser Mensch."
Stille folgte, während Hermine versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Meinte er das ernst? Dachte er tatsächlich so über sein Idol? Aber soweit sie sich erinnern konnte, waren die Blacks nicht gerade Feinde von Lord Voldemort gewesen. Immerhin hatten sie Sirius aus der Familie gelöscht, weil er sich angeblich mit den falschen Zauberern angefreundet hatte.
„Wollen wir?"
Erschrocken wirbelte Hermine herum. Wie aus dem Nichts stand Tom neben ihr und lächelte sie unschuldig an. Mit rasendem Herzen und immer noch unstetem Atem nickte sie lediglich, ehe sie sich bei ihm einhake. Ihr entging nicht, dass er noch einmal kurz zurückschaute und für einen Bruchteil einer Sekunde ein Ausdruck grimmiger Zufriedenheit über sein Gesicht huschte.
„Deine neue Freundin scheint ein wahrlich großes Herz zu haben", begann er im Plauderton, während sie mit gemessenen, aber zügigen Schritten zum Klassenraum für Geschichte gingen.
„Bitte?", fragte Hermine irritiert. Sie war sich sicher, dass irgendetwas vor sich ging, was sie bemerken sollte, doch einfach nicht sah.
„Ich meine, sie freundet sich nicht nur mit einer Schülerin aus Slytherin an, sondern gleich mehreren."
Da war etwas in Toms Stimme, was sie nervös machte. Es war, als winke er mit einem ganzen Zaun, doch sie begriff nicht, worauf er hinaus wollte. Unsicher lächelte sie: „Vielleicht konnte ich ihr beweisen, dass nicht alle Schlangen nur aus Giftzähnen bestehen?"
Ein munteres Lachen ertönte: „Ein schönes Bild. Bei dir würde man tatsächlich vergebens nach einem Giftzahn suchen."
„So, wie ich Mr. Black bisher kennenlernen durfte, ist das bei ihm auch der Fall", erwiderte Hermine ungerührt. Sie hatte nicht vor, sich heute von Tom provozieren zu lassen. Sollte er doch nur seine abfälligen Bemerkungen über ihre mangelnde Gerissenheit machen. Er wusste nicht, woran er wirklich bei ihr war.
„Siehst du, und genau das meine ich, mein Herz", gab Tom zurück. Er blieb vor der Tür zum Klassenraum stehen und drehte sich ihr direkt zu. Die übrigen Schüler waren bereits eingetreten, da die Stunde in Kürze beginnen würde. Da sie ganz alleine auf dem Flur waren und niemand sie beobachten konnte, ließ er ein Stück seiner Maske fallen. Betont liebevoll legte er ihr zwei Finger unters Kinn, um sie zu zwingen, zu ihm aufzusehen: „Du, Hermine, bist so weit davon entfernt, eine Schlange zu sein, dass du genauso gut ein verirrtes Häschen sein könntest. Du unterschätzt deine Mitschüler mit solch einer Gewohnheit, dass ich mich wirklich bemühen muss, nicht laut zu lachen."
Wütend ballte Hermine ihre Fäuste: „Und wer war es, der mich mehrfach unterschätzt hat? Ich meine, mich zu erinnern, dass es eben jener Herr war, der sich selbst für den König der Schlangen hält."
Jegliche Belustigung verschwand aus Toms Gesicht und die Finger, die zuvor unter ihrem Kinn gelegen hatten, wanderten hinunter zu ihrem Hals, wo er mit leichtem Druck zupackte: „Ich hatte mir geschworen, dass es nie wieder vorkommen würde. Und nun, sage mir, Liebste, wann war das letzte Mal, dass ich dich unterschätzt habe?"
„Wer weiß?", zischte Hermine erbost: „Ich werde dich wohl kaum darauf stoßen, wenn ich bemerke, dass du mich unterschätzt. So offen gehe ich mit meinen Karten nun auch wieder nicht um!"
Seine Überheblichkeit machte sie rasend. Natürlich hatte sie sich darum bemüht, ihn in Sicherheit zu wiegen und den Eindruck zu erwecken, als hätte er sie fest im Griff. Aber die Selbstsicherheit, mit der er schlecht über sie sprach, weckten ehrgeizige und vor allem leicht reizbare Monster in ihrem Innern. Sie war nicht dumm. Sie war nicht naiv. Sie war nur einfach nicht intrigant und hinterhältig.
Lange starrte Tom sie nur, unergründlich, als hoffte er, ihr auf den Grund der Seele schauen zu können. Unwillkürlich fürchtete Hermine, dass er mit Legilimentik in ihren Kopf eindringen würde, doch sie wusste, selbst wenn sie es nicht abwehren konnte, sie würde es spüren und den Zauber erkennen. Noch hatte er ihn nie gegen sie eingesetzt.
Erst, als die leise schlurfenden Schritte von Professor Binns hörbar wurden, ließ Tom von ihr ab. Schweigend betraten sie nacheinander den Klassenraum, ebenso schweigend nahmen sie nebeneinander Platz. Hermine fragte sich schon, ob es ihm die Sprache verschlagen hatte, da flüsterte er ihr leise zu: „Das hier ist noch nicht ausdiskutiert. Ich werde für unsere Lernstunde am Freitag eine ganz besondere Lektion vorbereiten. Freu dich drauf."
oOoOoOo
„Ich traue der ganzen Sache nicht."
Es hatte noch zwei Tage gedauert, doch endlich war es Augusta gelungen, zusammen mit Markus und Ignatius einen Rundgang um den See zu machen, um ihr Gespräch mit Orion zu besprechen. Jetzt hatte sie endlich alles erzählt, doch die Reaktion ihrer Freunde war nicht so, wie sie es erwartet hatte.
„Wie meinst du das?", hakte sie nach.
„Ich verstehe nicht, wieso Black plötzlich so schlecht über Riddle redet. Ist er nicht eigentlich einer seiner engeren Freunde?"
„Es ist gar nicht plötzlich", widersprach Augusta, während sie sich auf einer der vielen Bänke entlang des Rundweges niederließ. Die beiden Männer stellten sich an den Rand des Gewässers und schauten sie skeptisch an. Frustriert erläuterte sie: „Als ich ihn das erste Mal auf Riddle angesprochen habe, hat doch schon durchgeklungen, dass es besser wäre, wenn ich mich nicht für ihn interessiere. Und das klang wirklich nach einer Warnung. Warum sollte Orion mich vor Riddle warnen, wenn er nicht schlecht von ihm denkt?"
Zu ihrer Überraschung ergriff Markus darauf das Wort: „So, wie du es damals geschildert hast, hat er dich nicht wirklich vor ihm gewarnt, sondern deutlich gemacht, dass du dich fernhalten sollst. Auf mich wirkte deine Darstellung des Gesprächs damals so, als wolle er nicht, dass du Riddle ablenkst."
„Exakt", nickte Ignatius, den Rücken zu ihr gedreht: „Er wurde wütend und abweisend, als du auf ihn zu sprechen kamst, und hat deutlich gemacht, dass du dich nicht für Riddle interessieren solltest. Nicht wie in er will dich schützen, sondern eher wie in er will Riddle bedeckt halten."
„Ihr wart gar nicht dabei!", entgegnete Augusta wutentbrannt. Es war nicht so sehr, dass sie den Worten ihrer Freunde keine Aufmerksamkeit schenken sollte, sondern eher, dass sie sich schämte, Orion nicht mit mehr Misstrauen begegnet zu sein.
Als habe er ihr Unwohlsein bemerkt, schritt Markus auf sie zu, um sich neben sie zu setzen. Er nahm ihre kalte in Hand in die seine und sagte sanft: „Du hast ein gutes Herz, Augusta. Es ist dir hoch anzurechnen, dass du nicht jedem als erstes unterstellst, dass er lügt und betrügt."
„Na, na, alter Schleimer", unterbrach Ignatius seinen besten Freund: „Nur, weil du endlich dazu übergegangen bist, Augusta zu duzen, heißt das nicht, dass du sofort so vertraut mit ihr umgehen solltest. Zügle deinen Charme."
Errötend rückte Markus ein Stück von ihr weg, doch sie verhinderte, dass er ihre Hand losließ. Seine Wärme gab ihr Kraft. Mit einem traurigen Blick flüsterte sie: „Vielleicht hätte ich diesmal vorsichtiger sein sollen. Gesundes Misstrauen ist sicher nie verkehrt."
Fürsorglich strich Ignatius ihr über den Kopf: „Na, komm, verfalle jetzt nicht in Selbstmitleid. Immerhin hast du nichts gesagt, was dich in Schwierigkeiten bringen könnte. Das Gespräch war doch völlig unverfänglich."
Unwillkürlich drückte Augusta die Hand von Markus fester. Sie hatte ihren beiden Freunden einen Teil des Gespräches verschwiegen, weil selbst sie sofort gespürt hatte, dass sie sich damit zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Sollte Orion tatsächlich gelogen haben, sollte er wirklich nur vorgegeben haben, schlecht über Riddle zu denken, könnte der Teil ihr zum Verhängnis werden. Sie betete, dass sie sich alle täuschten und kein Wort ihrer Unterhaltung an Riddles Ohr dringen würde.
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Angespannt beobachtete Orion, wie Tom in seinem Zimmer vor ihm auf und ab ging. Er hatte auf die richtige Gelegenheit gewartet, um von dem Gespräch mit Augusta zu erzählen. Oder, wenn er ehrlich zu sich selbst war, er hatte gezögert, was genau er Tom erzählen sollte. Denn er mochte Augusta, sie waren nicht umsonst so etwas Ähnliches wie Freunde. Doch was er zu berichten hatte, würde bei Tom nicht auf Gegenliebe stoßen, das hatte er gewusst, und so hatte er den Moment der Wahrheit hinaus gezögert. Am Ende jedoch hatte seine Loyalität gesiegt.
Schließlich blieb Tom stehen und schaute ausdruckslos auf sein Bett, als könnte er dort etwas sehen, was Orion verborgen blieb. Leise, aber trotzdem deutlich vernehmbar, sagte er: „Augusta Bargeworthy und ihre Freunde sind deutlich zu neugierig. Ich werde dem ein Ende bereiten."
Orion schluckte: „Was hast du vor?"
Langsam drehte Tom sich zu ihm um, während er sich auf sein Bett fallen ließ und gedankenverloren mit einer Hand über die Decke streichelte: „Ich sagte dir doch, dass ich eine Ahnung habe, aus welcher Richtung das plötzliche Interesse unserer Gryffindor-Freunde stammt, nicht wahr? Dass ich weiß, wer die Quelle ist."
„Ja, aber du wolltest nicht sagen, wer es ist."
Ein Lächeln umspielte Toms Lippen, doch der eiskalte Ausdruck in seinen Augen zeigte Orion deutlich, dass sein Freund und Meister gerade in einer gefährlichen Stimmung war. Immer noch leise erwiderte Tom: „Das werde ich auch jetzt nicht. Aber sagen wir es so: Diese Person hat erst kürzlich von neuem meinen Unmut auf sich gezogen und braucht eine kleine Erinnerung daran, mit wem sie es zu tun hat. Ich denke, das kann ich gut mit einem Hinweis an deine Freundin Augusta verbinden."
Orion erbleichte. Er hatte keine Ahnung, von wem Tom sprach, doch die Andeutung war mehr als ausreichend: „Du meinst so wie dein Hinweis für Avery?"
„Nein", wehrte Tom grinsend ab, ein Funkel in seinen Augen, das Orion noch nie gesehen hatte: „Jeder Mensch ist anders. Avery beispielsweise ist eher von der schlichten, groben Sorte, er braucht direkte Hinweise, um zu verstehen, also habe ich ihn direkt und grob behandelt. Miss Bargeworthy hingegen und ihre Quelle ... das sind zarte Geschöpfe, dominiert von ihren Emotionen, klug, aber letztlich sensibel und gefühlsbetont. Ich muss ihnen keine Schmerzen zufügen, damit sie verstehen. Für solche Menschen habe ich ... andere Methoden."
Für den Bruchteil einer Sekunde meinte Orion, einen roten Schimmer in Toms Augen gesehen zu haben, doch es war so schnell vorbei, dass er sich sicher war, dass der Schein der Kerzen ihm bloß einen Streich gespielt hatte. Was jedoch blieb war dieser Ausdruck auf seinem Gesicht, dieses Lächeln auf seinen Lippen, das ihm einen Schauer den Rücken runter schickte. Er hatte vom Moment seiner Aufnahme in den elitären Kreis gewusst, dass Tom weniger Skrupel hatte als die meisten anderen, dass er ob seiner klaren, kalkulierten Zukunftspläne in der Lage war, emotionslos zu tun, was die Situation erforderte. Doch der Tom, der jetzt vor ihm auf dem Bett saß, dieser Tom war nicht gefühlskalt oder kalkulierend. Dieser Tom schien sich regelrecht darauf zu freuen, Augusta und diese mysteriöse Quelle zu bestrafen. Zitternd senkte Orion den Blick.
Er bemerkte erst, dass Tom vom Bett aufgestanden war, als zwei dunkle Schuhe in seinem Blickfeld auftauchten. Rasch erhob er sich ebenfalls und schaute zu dem größeren Jungen auf. Eine kühle Hand legte sich auf seine Wange, während Tom sich ein Stück zu ihm hinunter beugte. Er konnte den warmen Atem seines Freundes an seinem Nacken spüren, ebenso wie er sich nur zu bewusst war, dass Toms Daumen nur einen Hauch über seinen Lippen verweilte.
„Du bist ein guter Junge, Orion", flüstere ihm Tom leise ins Ohr: „Du hast mir heute einen guten Dienst erwiesen, ich bin stolz auf dich. Das wird nicht ohne Folgen bleiben. Ich verspreche es dir."
Er konnte ihm nicht in die Augen schauen. Er konnte einfach nicht. Schwer atmend starrte Orion geradewegs auf die lose Krawatte seines Gegenübers, während er verzweifelt versuchte, seine unnatürliche Nervosität loszuwerden. Tom war gutaussehend, das konnte auch ein Mann anerkennen. Tom mochte es, unter vier Augen mit seinen Gefolgsleuten zu sprechen. Tom lobte immer, wenn jemand Lob verdiente. Dass sich sein Atem so unnatürlich beschleunigt hatte, dass sein Herz schlug wie verrückt und er sich merkwürdig befangen fühlte, war einfach ... völlig deplatziert.
Ein kaum hörbares Lachen ertönte, ehe Tom einen Schritt zurücktrat: „Du kannst jetzt gehen."
Hastig, immer noch unfähig, ihm in die Augen zu schauen, flüchtete Orion aus dem Zimmer.