Es war einmal vor langer, langer Zeit ein winziges Wesen. Es war so klein, dass es meist übersehen wurde. Deshalb hat auch noch nie jemand davon gehört. Es war so klein, es konnte mit einem der kleinen Schirme einer Pusteblume weit, weit fliegen.
Und genau das war seine Art zu reisen. Denn sonst wäre er nicht weit gekommen. Ja, einen einzigen Grashalm zu erklimmen, war für dieses kleine Geschöpf fast so beschwerlich, wie für einen Menschen auf den Mount Everest zu klettern. Und etwa eine Möwe sicher zu erklettern, war für ihn völlig undenkbar.
So freute sich der Kleine immer, wenn die Löwenmäuler gelb aus der Erde kamen. Denn das waren die ersten Boten, dass es bald wieder weiter ging und er noch mehr vom geheimnisvollen nimmer endenden Land zu Gesicht bekommen konnte. Allerdings musste er sich dafür rechtzeitig bereit machen und einen der langen Stengel erklimmen, an dessen Spitze sich die Schirmchen bilden.
Das war gar nicht so einfach. Manchmal wurde es einfach nur klebrig, wenn ein Stengel unerwartet zerdrückt wurde, während er daran hoch kletterte. Das war für ihn ganz schön gefährlich, denn in dem weißen Saft konnte er glatt ertrinken. Zum Glück war es erst einmal vorgekommen. Und noch nie hatte ihn einer der Riesen erwischt, die manchmal ganze Büschel der Löwenmäuler ausrissen und verschlangen. Davor hatte das Wesen wirklich Angst. Es hatte dies einmal beobachtet, als er sicher in der Luft an einem kleinen Schirmchen hing und einen gehörigen Schrecken bekommen.
Was er nicht wusste, war, dass er überall, wohin ihn die kleinen Schirme trugen, und wo er so dann den nächsten Abschnitt seines Lebens verbringen musste, Glück brachte. Aber es war so.
Der Wind freute sich, mit ihm zu spielen. Die Erde freute sich, wenn er landete. Und manchmal freute sich auch ein Menschenkind, wenn es ihn samt Schirmchen von einem Stengel pustete. Doch von alledem wusste der kleine Win Wendemann nichts.
Ihm selbst gefiel es sehr, durch die Luft zu sausen, auch wenn die Landungen manchmal unsanft waren. Doch weh getan hatte er sich noch nie. Oder es war schnell wieder vergangen, weil es jedes Mal soviel Neues zu entdecken gab, wo auch immer er landete.
Doch dieses Mal fiel sein Schirmchen zu seinem Schreck in einen Haufen aus ganz vielen Nadeln. Sofort kamen einige Angst einflößenden Ungeheuer herbei und begannen, den Schirm davon zu zerren. Win aber war so klein, dass sie ihn übersahen.
Nun war guter Rat teuer, denn wie er bald feststellen musste, gab es viele von den Ungeheuern und sie wuselten flink umher und schienen niemals zu schlafen. Da war es für den Kleinen wahrlich nicht leicht, sich am Leben zu erhalten. Einmal, als er besonders schnell ausweichen musste, klammerte er sich einfach an eins der Beine eines Ungeheuers. So schnell war er noch nie über die Erde gesaust! Da wurde ihm richtig schwindlig und er war sehr zufrieden, als das Wesen aus dem Nadelhaufen heraus rannte und einen Moment verharrte. Schnell ließ sich Win fallen.
Nun fühlte er sich sicherer.
Doch bald begannen auch hier draußen die Ungeheuer hin und her zu rennen. Win musste sich wieder anstrengen, ihnen auszuweichen. Schließlich verstand er worum es ging: Offenbar waren viele Schirme hier gelandet und das hatten sie gar nicht gern. Sie beeilten sich sehr, ihre eigene Ordnung wieder herzustellen.
Interessant, meinte Win, und er überlegte, wie es wohl wäre, wenn er sich auch ein Haus bauen würde und mit anderen winzigsten Wesen zusammen lebte. Vermutlich wäre er auch nicht begeistert, wenn da haufenweise Dinge hereinwehten, die er gar nicht haben wollte. Da würde er wohl auch aufräumen.
Er kam auf die Idee, mit dem Wind zu sprechen. Denn der hatte ja wohl für die Unordnung gesorgt. Ob er da nicht ebenso einfach wieder die Schirmchen entfernen konnte? Win fand, dass er dann gleich weiter reisen könnte, irgendwohin, wo es nicht so viele bedrohliche Wesen gab.
Der Wind jedoch meinte, dass dies nicht in seiner Macht läge. „Wie soll ich denn das machen? Die Schirme sind so klein und haben sich verklebt, die kriege ich doch nicht von den Nadeln sortiert.“
Das verstand Win.
Der Wind aber war nicht zufrieden. Es passte ihm gar nicht zuzugeben, dass er nicht bestimmen konnte, wen er trägt und wen nicht. Und so fing er an, sich mächtig aufzublasen und allem zu rütteln. Und bald schon pustete er Blätter durch die Luft und wirbelte Staub auf.
Das gefiel nun weder den Ungeheuern noch Win. Doch alles Zureden half nichts. Sie mussten abwarten, bis sich der Wind von alleine abgeregt hatte.
Dann fragte Win die Sonne, ob sie nicht eine Idee hätte. Die aber meinte, da könne sie gar nichts tun. Vielleicht würden auch einige der Schirmchen schon bald aufplatzen und Wurzeln schlagen. „Aber das macht die Ungeheuer bestimmt noch ungeheuerlicher und gar nicht glücklich“, rief er und dann rutschte er auf einer Wurzel hinab an den Fuß eines Baumes.
„Du kannst bestimmt auch nichts tun“, schimpfte er, ohne dass der Baum ihm irgend etwas getan hätte.
Doch der war schon alt und hatte viel gesehen. Und er merkte, dass das winzigste Geschöpf es nicht böse meinte und schon gar nicht böse auf ihn, den Baum war. Da tat er, was er schon immer getan hatte, seit er ein starker großer Baum geworden war, wenn ihn jemand um etwas bat: Er schenkte alles, was er hatte, und diesem Geschöpf, das ihn bat, gerade helfen konnte. Und das war seiner Meinung nach in diesem Fall ein Tröpflein seines eigenen Saftes: Harz. Nicht so viel, dass es ihm weh getan hätte. Und auch nicht zu viel für das winzigste aller Geschöpfe. „Da, versüße dir dein Leben, ändere, was du kannst, aber ärgere dich nicht über das andere.“
Wins Augen leuchteten. So etwas Köstliches hatte er noch nie gegessen! Vergessen war die Aufregung im Ameisenhaufen. Er schlemmte den ganzen Tag lang. Dann suchte er sich eine winzige Ausbuchtung in der Rinde und machte sich ein Nachtlager.
In der Nacht begann es zu regnen. Es dauerte nicht lange, und Wins Lager wurde überflutet. Er versuchte, sich festzuhalten, aber die Tropfen waren stärker. Sie spülten ihn mit sich fort. Er zappelte und strampelte, und obwohl er ein paar Mal unter Wasser geriet, kam er schließlich bei Tagesanbruch an eine seichte Stelle, der Regen hörte auf und Win konnte sich trocknen.
Als er sich umsah, stellte er fest, dass er am Rande eines ihm riesig erscheinenden Sees gelandet war. Was für ein Schreck, als er plötzlich bemerkte, wie das Wasser von oben durchwühlt wurde und ein quietschegelbes Etwas Schlamm aufwirbelte! Er klammerte sich schnell an irgendetwas und wartete ab. Als würde die ganze See sich erheben und das Innerste der Erde nach außen gekehrt. Was er nicht sehen konnte, weil er viel zu klein war, war dass es der Stiefel eines Kindes war.
Etwas grabschte nach dem Stein, an dem sich Win festklammerte und warf ihn mit juchzenden Geräuschen in die Luft.
Win konnte sich gerade festhalten, bis der wieder ins Wasser fiel. Doch zu seinem Entsetzen wiederholte sich dies noch ein paar Mal. Irgendwann war Ruhe. Win atmete auf. Er sehnte sich nach einem seiner Schirmchen, mit denen er so gerne reiste, aber nichts in seiner Umgebung deutet darauf hin, dass es hier welche gab.
Da sprach er wieder mit dem Wind. „Kannst du mir nicht so ein Schirmchen pflücken und zu mir schicken“, fragte er, „das wäre viel besser als auf diesem grässlich schweren Stein in den Himmel zu rasen und wieder auf die Erde zu prallen.“
Der Wind prustete ein wenig und fühlte wohl auch Schadenfreude. Das geschah diesem Win nur recht, der ihn so geärgert hatte. Doch der Wind legte sich bald und blieb ruhig.
„Schade“, meinte Win und er suchte sich einen Unterschlupf für die Nacht, der ihm sicher erschien. Am nächsten Morgen wollte er sich auf die Suche nach einer passenden Reisemöglichkeit machen.
In der Nacht hatte er einen Traum: Er saß auf einer bunten Fläche und schwebte mit ihr durch die Luft. Oh, wie wunderbar! Diese Fläche landete sanft auf der Erde und erhob sich wieder und sie spielte im Wind. Nie wieder müsste ich auf Schirmchensuche gehen und hohe Stengel erklimmen, dachte er und seufzte.
Er ahnte nichts davon, dass sein wunderbar weiches Nachtlager der Kokon einer Raupe war. Als er am nächsten Morgen erwachte, sprach er mit dem Wind: „Wenn du mir kein Schirmchen bringen kannst, ich werde vielleicht ganz anders reisen.“
Der Wind war neugierig, aber Win wollte nicht mehr erzählen. So begann der Wind zu pusten und immer heftiger zu werden. Bald brauten sich dicke Wolken am Himmel zusammen und auf Win und die Erde prasselte ein dicker Regen nieder.
Da kuschelte sich der Winzling wieder in sein neues Zuhause und er begann zu träumen. Als am nächsten Morgen die Sonne schien, begann sich die Fläche unter ihm zu bewegen. „Ein Erdbeben! Nein, das ist nicht gerecht“, rief Win.
Der Wind lachte. „Da hast du es. Mir sagst du, ich sei nicht mächtig genug. Aber nun du!“
Doch da blinkte etwas Leuchtendes unter der scheinbaren Erde hervor. Es kam immer mehr zum Vorschein und schließlich – hatte sich ein prächtiger Schmetterling entpuppt!
Da freute sich der Wind bei seinem Anblick und auch Win war glücklich. Seine schimmernd-bunte Fläche! Doch wie konnte er damit fliegen?
Dieses Rätsel löste sich bald von selbst, als der Schmetterling zu seinem ersten Flug aufbrach. Und wer immer ihn sah, der rief: „Oh, wie schön!“ und war glücklich.
Win genoss das neue komfortable reisen – und sah mehr von der Welt, als er sich erträumen konnte.