„Schnell Khirani, folgt mir!“, eine Fai mit blonden Locken, durch die sich die spitzen Enden ihrer Ohren bohrten, hatte die Tür zu seinem Studierzimmer aufgestoßen, war raschen Schrittes an ihn herangetreten und hatte seinen Ärmel gepackt. Verwirrt und überrumpelt lief er eilig hinter ihr her durch die langen Gänge des Palastes in Narth’ Mahat. Vorbei an Gemälden der Ahnen der königlichen Familie und vorbei an unzähligen Wandteppichen.
Khirani, einst ein einfacher Soldat, hatte sich durch sein strategisches Geschick bald zum Kommandant hochgearbeitet und war an den Hof berufen worden, um den König zu beraten. Bald nach seiner Ankunft hatte er mit dem Sohn des Königs, Tanis, Freundschaft geschlossen und das Herz dessen Schwester, Nyal, im Sturm erobert.
„Was gibt es denn so dringendes?“, rief er der Fai zu, die es so eilig hatte. Lachend sah diese über die Schulter und erwiderte: „Euer zweites Kind ist bald da.“
Khirani wurde langsamer. Seine Füße fühlten sich mit einem Mal so wacklig an, wie an dem Tag, als er Nyal zum ersten Mal gesehen hatte. Aus ihrer Verbindung war vor wenigen Jahren ein Mädchen geboren, dass die Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte. Seine kleine Liadan hatte in kürzester Zeit den ganzen Hof verzaubert. Als bekannt wurde, dass Nyal erneut ein Kind erwartete, hielt er dies für die Krönung.
„Wollt Ihr nun kommen oder nicht?“, hörte er Astras herrische Stimme. Die Fai, seit Jahren die beste Freundin seiner Frau, stapfte die Meter zurück, die sie gelaufen war, bevor sie merkte, dass er nicht mehr hinter ihr war, sondern nervös durch sein dunkles, ständig zerzaustes, Haar fuhr. Astra verdrehte die Augen. Jetzt war nicht die Zeit, um den aufgeregten Neu-Vater mit kalten Füßen zu spielen. Energisch ergriff sie seinen Arm und führte Khirani zu den privaten Gemächern.
Dort lag Nyal auf Kissen gebettet, ihr Gesicht gerötet vor Anstrengung und gezeichnet mit Erschöpfung. Die goldenen Locken verschwitzt. Eine Hebamme beugte sich über sie und tupfte die Schweißperlen von ihrer Stirn.
Khirani trat durch die offene Tür und ein Lächeln umspielte seine Züge, als er sie sah. „Nyal, Liebste, wie geht es dir?“, fragte er sanft und kam näher, um ihr über die Wange zu streicheln. „Ich fühle mich müde“, antwortete sie und ihre grauen Augen funkelten, „Begrüß deine neue Tochter, Khirani.“ Mit einer Hand wies sie vor sich auf Astra, die gerade ein Bündel entgegennahm und liebevoll in Armen wiegte.
Khirani warf einen Blick aus seinen dunkelblauen Augen auf die neugeborene Fai, die ihre kleinen Hände, zu Fäusten geballt, ihm entgegenstreckte. Ihr Haar war jetzt schon deutlich dunkler als es Liadans waren, doch sie hatte ebenso graue Augen wie Nyal. Vorsichtig nahm er sie Astra ab und setzte sich mit ihr neben seine Frau. „Sei mir gegrüßt meine Kleine“, flüsterte er mit einem glücklichen Grinsen, „Wie sollen wir sie denn nennen, Nyal?“
„Ich fände Lad ganz schön. Lad í Sathil, was meinst du?“, Nyal ließ sich tiefer in die Kissen sinken. Die Geburt hatte sie ganz schön erschöpft und sie war müde.
„Ist mein Bruder schon da?“, ertönte die kindliche Stimme Liadans, die in Begleitung des Erzmagiers Nysander gekommen war. Sie rannte so schnell sie ihre Beine trugen an die Seite ihres Vaters und kletterte aufs Bett, um einen guten Blick zu haben. Liadan war ganz das Ebenbild ihrer Mutter mit ihren großen Augen und den goldenen Locken, die wirr vom Kopf abstanden.
Khirani hielt ihr das Bündel hin, „Eine kleine Schwester wohl eher und kein Bruder. Sie heißt Lad.“
Liadan betrachtete die kleine Fai neugierig und erwiderte auf die Worte ihres Vaters: „Kein Bruder? Macht nichts. Kann ich mit ihr spielen?“
Nyal lachte auf über die stürmische Art ihrer Erstgeborenen: „Jetzt noch nicht, Lia, da musst du dich noch ein paar Jahre gedulden.“ „Wie lange?“, ungeduldige Augen lagen auf ihren Eltern. „Laufen sollte sie schon können, bevor ihr durch das Haus tobt.“
Auch Khirani musste nun lachen, als Liadan eine Schnute zog, da sie angestrengt darüber nachdachte, wie lange genau das dauern würde. In ihrem Alter war die Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen noch eine halbe Ewigkeit.
Es klopfte und Tanis betrat den Raum. Sein burgunderrotes Hemd passte gut zu seinen tiefschwarzen langen Haaren, dem vollen Bart und den dunkelgrauen Augen. Er lief barfuß auf das Bett zu. Seine Hose trug noch die Falten von all den Stunden, die er sie in seine Reitstiefel gesteckt hatte. Ein breites Lächeln erhellte seine Züge: „Ist es gestattet? Ich hörte meine neue Nichte sei nun da.“
„Du hast richtig gehört. Komm her und schau dir unsere kleine Lad an.“, strahlte Khirani und das Vaterherz in seiner Brust schwoll an.
Seine gesamte Familie, bis auf Nyals und Tanis’ Eltern war nun in diesem Raum versammelt, zusammen mit Astra, der Freundin Nyals und Amme Liadans.
Die Zeit verging und es wurde Sommer, als Nysander durch die Gänge des Palastes rannte. Seine weite violette Robe schlackerte um seine Beine und seine Füße schlitterten über den steinernen Boden als er sein Ziel erreichte. Ohne Anzuklopfen riss er die Tür zu den Gemächern von Nyal und Khirani auf.
Nyal, eben noch konzentriert auf ihre Stickarbeit, fuhr erschrocken aus ihrem gemütlichen Sessel und ging auf ihn zu. „Nysander! Was soll das?“, fuhr sie ihn an und spürte sogleich Khiranis Hand an ihrer Schulter.
Nysanders dunkle Augen kamen auf den beiden zu ruhen und er erhob die Stimme: „Nyal, Khirani... Verzeiht bitte mein plötzliches Eindringen, doch eure Tochter Liadan ist die Auserwählte. Es würde mich nicht wundern, wenn Lad ebenfalls eine Auserwählte wäre.“
„Wovon redest du?“, Khirani hob überrascht eine Braue und bot Nysander einen Platz an, der sich dankend niederließ, ehe er fortfuhr: „Die Legende. Die Legende von den Waffen, die einst den Krieg entscheiden sollten. Ihr wisst, dass sie wirklich existieren. Der König hat die Dolche Eglesiel und Brythir in seinem Besitz und auch Orcomhiel wurde gefunden. Allein das Schwert der Missgunst gilt noch als verschollen. Ich war eben dabei, dass ich die Waffen untersuchte, da mich ihre Machart seit jeher interessiert hat, als eure Liadan zu mir kam. Der Zauber, der auf ihnen liegt und jeden davon abhält sie direkt zu berühren... Liadan ist auf einen Stuhl geklettert, um zu sehen, was ich mache und sie hat Orcomhiel berührt, ehe ich es verhindern konnte. Statt vor Schmerz aufzuschreien, hat die Klinge zu leuchten begonnen und Liadan meinte, es wäre schön warm.“
Nyal schlug die Hände vor den Mund. Ihre Augen waren bei Nysanders Ausführungen groß geworden. Der Legende nach sollte es zwei Auserwählte geben, die jene Waffen ohne Schwierigkeiten führen konnten.
Khirani lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf seine Knie und faltete die Hände. Sein Blick fixierte den Erzmagier, dessen Haar allmählich von grauen Strähnen durchzogen war. „Meine kleine Liadan? Nysander, diese Bürde können wir ihr nicht jetzt schon antun. Sie ist viel zu groß!“, seine Stimme war belegt und aus ihm sprach die Sorge eines Vaters.
Nysander schüttelte leicht den Kopf: „Ich weiß, Khirani und ich bin der gleichen Meinung. Ich denke aber, dass auch Lad dafür bestimmt ist. Ihre Aura ist ebenso stark wie Liadans.“
„Dann sollten wir Vorsorge treffen, ihnen die Kindheit so sorglos und schön wie möglich zu gestalten. Bis das Schwert Galmyn gefunden wird, werden sie noch in Ruhe leben können, aber wenn es soweit ist, dann müssen sie es erfahren.“, entschied Khirani.
„Nein!“, Nyal war aufgesprungen und baute sich vor den beiden auf, „Nein! Nicht meine Kinder! Du irrst dich Nysander. Es kann nicht sein, dass meine Töchter...“ Tränen schossen in ihre Augen und sie musste sich mit einer Hand an der Stuhllehne abstützen, da ihre Knie weich wurden.
Gerade als Khirani etwas erwidern wollte, flog die Tür erneut krachend auf. Tanis stützte sich keuchend in voller Rüstung am Türrahmen ab. Sein Haar klebte schweißnass an seiner Stirn.
„Was wird das? Ist es eine neue Sitte ohne Anzuklopfen hereinzuplatzen?“, Nyals Stimme klang schriller als gewöhnlich und zeugte für ihre Aufgebrachtheit.
„Ihr müsst fort von hier! Sofort! Die Kinder müssen in Sicherheit gebracht werden. Die Skalaner nähern sich der Stadt. Sie haben von der Geburt eurer Jüngsten erfahren und wollen sie töten“, Tanis’ Stimme ließ keinen Widerspruch dulden. Khirani erkannte die Dringlichkeit in seinen Worten und fasste Nyal am Arm, um sie aus dem Raum zu führen.
Über die Schulter warf er dem Erzmagier einen vielsagenden Blick zu, der sich sofort aufmachte, nach Liadan zu suchen.
„Astra!“, Khirani zog Nyal, der mittlerweile die Tränen über die geröteten Wangen liefen, hinter sich her ins Kinderzimmer, wo Astra Lad im Arm wiegte, die aus einem Alptraum erwacht war.
Sie hob den Kopf und fing den besorgten, aber energischen Blick Khiranis auf. Ein Nicken und sie begann alle notwendigen Dinge zusammen zu raffen, um mit Lad am Arm den beiden zu folgen.
Khirani brachte sie zu den Stallungen, wo bereits Nysander und Tanis mit Liadan warteten. Seine kleine Tochter blickte aufgeregt zwischen allen hin und her. Sie dachte, es wäre ein Spiel und dass nun ihr Vater dazu kam, um mitzumachen. Die Tränen ihrer Mutter bemerkte sie in ihrer Vergnügtheit nicht.
Khirani half Nyal auf ein Pferd zu klettern und setzte Liadan vor sie hin.
„Reitet nach Carrakas. Die Stadt ist aufstrebend und sicher, dort werden sie nicht nach euch suchen.“, riet er ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, „Ich komme bald nach.“
„Was ist mit Lad?“, Nyal schluckte schwer, „Wird Astra mit uns reiten?“
Tanis schüttelte den Kopf, „Nein, Schwester. Lad sollte mit Astra woanders hin. Sie sind hinter euch her und wenn ihr euch aufteilt, habt ihr eine größere Chance.“, sprach er an sie gewandt und richtete dann sein Augenmerk auf Astra und deren Mann, der die weiteren Pferde heranführte, „Sideral, die Stadt der Sterne. Reitet dorthin und beschützt sie mit Eurem Leben!“
Liadan blickte verdutzt zwischen den Erwachsenen hin und her. Sie verstand nicht, was vor sich ging, doch ihr traten Tränen in die Augen, als sie das Gesicht ihrer Mutter suchte und diese so aufgelöst vorfand.
„Wir holen sie, sobald sich die Lage beruhigt hat, Nyal“, Khirani drückte noch ein letztes Mal ihre Hand, bevor Nysander ihr ein Zeichen gab, dass es Zeit war aufzubrechen.
Auch Astra und ihr Mann ritten los. In die entgegengesetzte Richtung.
Gerade rechtzeitig, denn Geschrei wehte von der anderen Palastseite herüber und Rauch stieg hinter der Mauer bei den Gärten auf.
Khirani fühlte sich benommen. Er hatte kaum Zeit gehabt sich richtig von seiner Jüngsten zu verabschieden. Ein kleiner Kuss war noch möglich gewesen, bevor Astras Mann dem Pferd Schenkeldruck gab und sie fort waren.
„Wir müssen los. Du musst dich rüsten und wir müssen die Stadt verteidigen“, holte ihn Tanis zurück in die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die bereits in seinem Herzen so kalt war.
Er rang sich ein langsames Nicken ab und folgte seinem Waffenbruder und Schwager.
Es war der erste Tag von vielen, an denen er von allem, was er liebte, getrennt war und das beklommene Gefühl, dass er verspürt hatte, als man Lad von ihm entfernte, verging auch nicht, als er Wochen später Nyal und Liadan wieder in die Arme schließen konnte. Sie hatten die Feinde aus Narth’Mahat vertrieben und die Stadt sichern können, doch auch an anderen Orten entlang der Küste kam es zu Überfällen. Die Hafenstadt Akendi hielt sich tapfer, doch im Saphirozean zwischen den Ländern Skala und Aurenien fanden viele wackere Seefahrer und Soldaten ihr Ende bei dem Versuch die Boote der Skalanern aufzuhalten.
Die Lage war zu kritisch, um Lad zu holen. Sideral lag im Gebirge und noch waren die Skalaner nicht so weit vorgerückt. Sie entschieden sich aus reiner Vernunft dafür, noch abzuwarten und die Stellung im Umland zu verteidigen. Erst, wenn der letzte Feind zurückgeschlagen oder getötet wäre, dann würde er sie holen, das versprach er seiner Frau.
Aus Wochen wurden Monate und aus diesen Jahre. Auf Sommer folgte ein Winter und wieder ein Sommer. Liadan wuchs heran und sie bauten sich ein Haus in Carrakas. Die Stadt wuchs ebenso und wurde bald von Soldaten und ihren Familien bevölkert. Viele unter ihnen hatten ihr altes Zuhause verloren. Aurenien wurde immer wieder von Angriffen der Skalaner heimgesucht. Sie lagen im Krieg. Für Nyal ein nie endender Alptraum, den sie so gut es ging, von Liadan fernhalten wollte. Akendi war eingenommen worden und die Lage in Narth’Mahat kritisch. Auch andere Städte entlang der Küste waren betroffen. Carrakas blieb weitestgehend verschont, da sie noch nicht groß genug war, um ein gutes Ziel für die Skalaner abzugeben.
Khirani genoss einerseits das Gefühl wieder unter Gleichgesinnten zu leben, anstatt bei Hofe, doch verringerte es nicht seinen Verlust.
Er erwachte jeden Morgen mit der Hoffnung, sein kleines Mädchen wieder in die Arme schließen zu können, doch dann erreichte sie die Nachricht, dass die Skalaner Sideral angegriffen hatten und das Haus, in dem Astra gelebt hatte, war niedergebrannt. Sofort schickte man einen Suchtrupp und Hilfe für die Überlebenden der Stadt. In Astras Haus konnte man jedoch nur ihre Überreste finden, aber keine, die für ein Kind sprachen.
Nyal schloss sich nächtelang in ihrer Kammer ein und weinte bitterlich. Zerrissen zwischen einer vagen Hoffnung, dass sie entkommen konnte und der Angst, dass die Skalaner sie entführt und getötet hätten.
Liadan erinnerte sich später daran, dass ihre Eltern oft länger aufblieben und sie hörte das Schluchzen ihrer Mutter und sah den traurigen Blick ihres Vaters, wenn sie ihr Onkel besuchte und sie die Pferde in die Stallungen führten.
Man hatte Späher ausgesandt auf der Suche nach der jungen Lad, doch verlief jede Spur im Sande und mit ihrem Verschwinden, war in Nysander auch die Hoffnung darauf erloschen, dass die zwei Auserwählten, um die Schwerter zu führen, den Krieg beenden konnten.
Als Tanis die Nachfolge seines Vaters antrat, wurden Verhandlungen mit den Skalanern begonnen, die in den folgenden zwei Jahrhunderten immer wieder durch Auseinandersetzungen und Überfälle gestört wurden. Akendi und Sideral wurden wiederaufgebaut. Die Hafenstadt erholte sich durch ihre günstige Lage und die hochseetauglich Schiffsbauweise der Fai schnell. Bald schon florierte der Handel und auch Abkommen mit den Skalanern konnten diesbezüglich geschlossen werden.
Nyal betätigte sich immer öfter als Botschafterin und reiste zum Festland Skala. Allein Khirani ahnte, dass sie dies nicht nur tat, um dienlich zu sein, sondern auch, um dort nach ihrer Tochter zu suchen. Nachdem sie all ihre Tränen vergossen hatte, hatte sie beschlossen, die Hoffnung, dass sie noch lebte, nie aufzugeben.