Ruckelnd fuhr der altersschwache Bus über die holprige Straße.
Wald.
Wohin man auch sah, überall umgab sie dichter, düsterer Tannenwald.
Sie hatten Espoo schon lange hinter sich gelassen und fuhren nun, wie Ville es geschworen hatte, auf kürzestem Weg zum See.
»Du siehst blass aus, ist dir schlecht?«, fragte Tuulikki besorgt, als sie sich zu Anja umdrehte, die ihren Kopf in ihre Hände gelegt und die Augen fest zusammengekniffen hatte.
»Nein, alles in Ordnung«, log Anja matt. Sie sah kurz mit einem gequälten Lächeln auf, bis Tuulikki sich mit einem skeptischen Blick wieder umdrehte. Kaum war das geschehen, lehnte sie ihren schweren Kopf gegen die Fensterscheibe. Wie bereits im Zug flog die Landschaft an ihr vorbei und es ließ sie schwindeln. Sie waren die einzigen Reisenden im Bus. Seitdem sie die Stadtgrenze von Espoo verlassen hatten, war niemand mehr zugestiegen. Ville und Joonas strahlten wie Schulkinder, vereinzelt konnte sie einzelne Satzbrocken ihres Gesprächs verstehen und musste schmunzeln. Wenigstens die zwei freuten sich auf den Campingausflug.
»Wir sind da!«
Freudig sprang Ville auf die Beine und schulterte sein Gepäck, noch ehe der Bus an einem schäbigen, halb mit Moos überwucherten Wartehäuschen zum Stehen kam.
»Mach nicht so eine Hektik«, stöhnte Tuulikki, die ebenfalls aufstand und ihren schweren Fotorucksack aus dem Gepäcknetz befreite. Widerwillig erhob sich auch Anja und folgte mit geschultertem Rucksack der Gruppe. Kühle, feuchte Luft umfing sie, als sie die letzte Stufe des Busses genommen hatte. Klamm und modrig.
So langsam beschlich sie der Gedanke, dass es wirklich keine gute Idee gewesen war, die drei Fotografen auf ihrer Fototour zu begleiten. Sie fühlte sich fehl am Platz. Noch mehr, als Ville, Joonas und Tuulikki, ihre Kameras griffbereit, vorausgingen. Sie ließen damit Anja neben der einzigen Person zurück, die genauso wie sie kein Mitglied des Kunstseminars war.
»Willst du auch Fotos machen?«, fragte Anja, während sie den in rotes Nylon gehüllten Rücken Tuulikkis, etwa zehn Meter vor ihr, fixierte.
»Nein, das war nie meins. Joonas ist der Fotograf. Ich stehe lieber vor der Kamera«, war die knappe Antwort. Sanna vergrub die Hände tief in den Taschen ihres Mantels. Schweigend stiefelten sie weiter, ehe sie den Tross an einer schmalen Schneise in den Wald einholten. Sanna griff nach Joonas‘ freier Hand, kaum hatte sie ihn erreicht.
»Hier geht es runter zum See. Anja, du wirst begeistert sein«, grinste Tuulikki breit und drängte sich zwischen Sanna und sie. Sich unterhakend, gab sie die Richtung vor. Der schmale Pfad war steinig und rutschig, in keinerlei Weise befestigt. In der Ferne ragten dunkel die Tannenwipfel in den grauen Oktoberhimmel. Der Wald umfing sie bereits wenige Meter den Weg hinab wie ein schwerer, wollener Mantel. Dumpf schluckte er jeden ihrer Schritte. Energisch zog Tuulikki Anja weiter.
»Was wollt ihr hier eigentlich fotografieren, Tuulikki?«, fragte Anja nach. Ihr Blick glitt über mit Moos bewachsene, halb verfaulte Baumstümpfe und entwurzelte Stämme.
Einladend war definitiv anders.
»Ach, so dies und das«, antwortete Tuulikki und sah sich kurz über die Schulter zu ihren Begleitern um. Ville, der neben dem nun händchenhaltenden Pärchen her taperte, blickte auf, grinste und schloss mit ein paar schnellen Schritten zu ihnen auf.
»Die wunderschöne Natur, was denkst du denn?«, beantwortete er die Frage mit einem feinen Lächeln auf den Lippen und hakte sich auf Anjas freier Seite unter.
»Wir haben doch gesagt, dass wir dir die einzigartige finnische Natur zeigen wollen und das hier ist genau der richtige Ort dafür.«
Wie zur Bestätigung seiner Worte gingen sie in dem Moment um eine von Kiefern gesäumte Biegung, die den Blick freigab auf den See.
Ein See wie ein Spiegel aus Rauchglas. Vollkommen ruhig.
Keine Welle, die den See gekräuselt hätte. Beinahe schwarzes Wasser reflektierte die hohen Bäume am Ufer. Von ihnen stiegen langsam feine Nebelschwaden auf, die über die Glasfläche waberten.
Anja fröstelte in ihrer dünnen Jacke. Alles war klamm und kalt.
»Wir müssen noch ein Stück weiter am Ufer entlang zu der Stelle, die ich für unser Zeltlager ausgesucht habe.«
Bestimmt zog Tuulikki an Anjas Arm. Ville folgte ihnen.
»Warst du schon einmal hier?", fragte Anja leise und kuschelte sich ein wenig enger an den warmen Anorak Villes. Warum nur hatte sie die dumme Jeansjacke angezogen?
»Ja, vor einigen Wochen. Die Fotos, die ich gemacht habe, sind großartig geworden.«
Anja nickte nur. Das wollte sie auch in keinerlei Weise bezweifeln. Aber deswegen gleich hier campen zu wollen, schien ihr doch ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. Doch für Einwände war es nun zu spät. Und im Endeffekt hatte sie niemand gezwungen, sich der Gruppe anzuschließen.
Der Pfad wurde unwegsamer, je weiter sie kamen. Große Granitfelsen, wie von antiken Riesen in die Landschaft geworfen, ragten an den Ufern des Sees empor. Grau und kahl, als wollten sie den See daran hindern, sich weiter auszubreiten.
»Autsch, verdammter Mist!«
Erschrocken wandten sie sich um. Sanna kauerte auf der Erde und hielt sich mit schmerzverzogen den Knöchel.
»Ich hab dir gesagt, du sollst keine Chucks anziehen«, mäkelte Joonas, beugte sich aber mit besorgtem Gesicht zu seiner Freundin herab. Sanna warf ihm durch ihr Wirrwarr an feuerroten Haaren einen bitterbösen Blick zu und zischte etwas auf Finnisch, von dem sich Anja denken konnte, was es wohl heißen mochte.
»Geht's wieder?«
Ville hatte augenblicklich auf dem Absatz kehrtgemacht und ging vor ihr in die Hocke.
»Ja, ja, muss ja irgendwie.«
Die dunklen Augenbrauen konzentriert zusammengezogen, musterte Ville Sannas Knöchel, hielt ihn in den Händen und drehte ihn vorsichtig hin und her. Sie verzog die Mundwinkel.
»Tut das weh?«, fragte er leise. Sanna kniff die Augen zusammen und nickte nur heftig mit dem Kopf.
»Es ist nicht mehr weit. Nur noch ein kleines Stück, dann kannst du dich hinsetzen, während wir das Zelt aufbauen.«
Sanna nickte erneut und trat prüfend auf, ehe sie den Knöchel vorsichtig belastete.
»Das geht so nicht«, murmelte sie. Doch sie musste gar nicht weiterreden, denn Joonas und Ville baten auch schon an, sie jeweils auf einer Seite zu stützen.
»Gott, ist das vielleicht eine Dramaqueen«, zischte Tuulikki und zog sich die bunte Mütze weiter über die Ohren.
»Das ist aber auch verdammt uneben hier. Du weißt wirklich, wo wir hinwollen?«
»Aber klar. Nur noch über den letzten Vorsprung dort drüben. Dann sind wir da und Sanna kann sich von Joonas und deinem Ville pflegen lassen.«
Anja biss sich auf die Lippen, um den letzten Kommentar zu ignorieren, und drückte nur Tuulikkis Arm ein wenig fester.
Einige Laubbäume ließen ihre fast kahlen Äste über das Wasser hängen, berührten es an ein paar Stellen beinahe, da die Wurzeln der Bäume aus dem Erdreich zu brechen drohten.
»Wow, du hast nicht zu viel versprochen«, murmelte Joonas beeindruckt hinter ihnen.
Wie ein gerahmtes Bild fassten die Bäume die Aussicht auf das dunkle Wasser ein, das bis an den Horizont zu reichen schien. Das gegenüberliegende Ufer war in weiter Ferne, als sei der See ein wellenloses Meer.
Träge arbeitete sich der Nebel über die schillernde Oberfläche. Tuulikki grinste zufrieden.
»Hier ist es perfekt.«