Daroca starrte gelangweilt zur großen Scheune hinüber. Immer noch gingen dort Leute ein und aus, obwohl die Sonne schon vor Stunden untergegangen war. Wurden die denn nie müde? Sie wurde es langsam.
"Kann mich mal wieder jemand ablösen?", flüsterte sie über die Schulter zu den drei anderen, die ebenso lustlos im hohen Gras des kleinen Hügels lagen wie sie. Er war ein hervorragender Aussichtspunkt, lag nicht in der Nähe eines der Wege, die zum Anwesen hinüberführten, und war der Scheune relativ nahe. Das einzig Negative war die freie Fläche Weideland, die sie später würden überqueren müssen.
"Du machst das noch gar nicht lange", wies Ilmicea sie ab. "Höchstens eine halbe Stunde."
Eslam lachte. "Nie im Leben! Vielleicht die Hälfte davon!"
Balbiano sagte gar nichts - vermutlich war er eingeschlafen. Die nahezu unerträgliche Hitze, die allen seit Tagen zu schaffen machte, war seit Sonnenuntergang endlich zurückgegangen und ließ es zu, dass man halbwegs entspannt schlafen konnte.
"He, Balbiano!" Daroca stieß mit dem Fuß leicht in seine Seite, was ihn auffahren ließ.
"Geht es los?"
Sie seufzte frustriert. "Nein. Die sind immer noch total beschäftigt. Wenn das so weitergeht, kommen wir da heute gar nicht mehr rein."
Seufzend ließ sich Balbiano wieder ins Gras fallen.
Stille senkte sich über die vier Freunde. Daroca war überzeugt, dass die zirpenden Grillen sich über sie lustig machten, wie sie da seit Stunden sinnlos herumlagen und sich möglichst ruhig verhielten, um das Gras nicht in auffällige Bewegungen zu versetzen.
"Ich glaub, ich schlaf auch bald ein", murmelte Ilmicea. "Können wir es nicht morgen noch mal versuchen?"
"Nein", brummte Eslan. Er klang auch schon verdammt träge. "Yalach sagt, wir müssen das Ding heute Nacht besorgen, sonst zahlt er nicht."
Wieder schwiegen sie alle.
Dann richtete Balbiano sich ein wenig auf und stützte sich auf einen Ellbogen. "He, lasst uns doch ein Spiel spielen! Wir überlegen, was in der Kiste eigentlich drin sein könnte, und wer am nächsten dran liegt, hat gewonnen!"
Ilmicea winkte ab. "Wir sollen sie doch nicht aufmachen."
Das Grinsen auf Balbianos Gesicht war deutlich zu hören. "Ja ... eigentlich soll man sie auch nicht stehlen, oder? Und ich habe mein Dietrichset dabei ... das wird schon keiner merken!"
Er schwieg, doch er wusste, dass die Saat aufgehen würde - immerhin kannte er seine Freunde. Und er wurde nicht enttäuscht.
"Die Kiste könnte voller Münzen sein", sagte Eslan mit ehrfürchtiger Stimme.
Daroca schüttelte entschieden den Kopf. "Die wäre viel zu schwer für uns, Yalach ist doch nicht blöd. Edelsteine wären viel leichter!"
Die anderen starrten sie mit offenen Mündern an. "Woher weißt du das?", fragte Eslan zögernd.
Sie zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es eben." Sie würde nicht zugeben, dass sie das nur gehört hatte.
Balbiano ergriff das Wort. "Ich glaube nicht, dass sie etwas wie Münzen oder Edelsteine in der Scheune aufbewahren würden. Vermutlich sind es eher Alltagsgegenstände, die aber für irgendwas total wichtig sind, und Yalach will sie daran hindern, sie zu benutzen. Zaumzeug oder so, so dass er seine Pferde nicht mehr reiten kann."
Eslan und Daroca verzogen abweisend das Gesicht - ganz offensichtlich wollten sie sich von ihrer Vorstellung einer Kiste voller Gold und Edelsteine nicht abbringen lassen, egal, wie unsinnig sie war.
Dann sahen alle Ilmicea an. "Was ist deine Vermutung?"
"Keine Ahnung", wehrte sie ab. "Balbiano hat Recht, wird schon nichts allzu Wertvolles sein."
Doch die anderen ließen nicht locker, bis sie sich, genervt von ihrer Hartnäckigkeit, irgendetwas aus den Fingern sog. Was könnte jemand, der reich genug war, ein ganzes Anwesen zu besitzen, in einer Kiste aufbewahren? "Wahrscheinlich sind es ganz besondere Klamotten. Etwas, das seinen Status nach außen hin zeigt."
Damit hatte sie die anderen zufriedengestellt, die sich aufgeregt tuschelnd über die verschiedenen Möglichkeiten ausließen.
Ilmicea ließ sich nicht zu Spekulationen hinreißen. Das hier war nur ein Job. Wer nicht reich war, musste eben sehen, wo er blieb, und sie würde ihre jüngeren Geschwister nicht hängen lassen. Aufmerksam übernahm sie die Überwachung der Scheune, die die anderen ganz vergessen zu haben schienen.
Dann endlich verließen die letzten Personen die Scheune. Das Licht ihrer Laternen wurde immer schwächer, während sie dem Weg zum Anwesen hinter der nächsten Weggabelung folgten. Aus der Scheune selbst drang nicht das schwächste Schimmern.
Sicherheitshalber wartete sie noch eine Weile ab und beobachtete das Gebäude.
"Wir können los", verkündete sie dann leise. Die Gespräche hinter ihr erstarben sofort, und mit hektischem Rascheln tauchten die anderen drei neben ihr auf.
"Los jetzt", forderte sie sie auf - sie hatte keine Lust, noch länger hier herumzutrödeln.
Niemand schien sie bemerkt zu haben, als sie über die Weidefläche zur Scheune hinüberhasteten, und das Schloss des alten Tors widersetzte sich Balbianos Dietrichen nicht besonders lange. Hoffentlich hatte niemand das Quietschen des sich öffnenden Tors bemerkt - sie hatten es nur so weit aufgeschoben, dass ihre Körper hindurchpassten, aber es war dennoch ein Risiko gewesen.
Nun standen sie im Innern der Scheune und staunten nicht schlecht, was das Licht der einzelnen Kerze, die Ilmicea mitgebracht hatte, ihnen enthüllte.
Der gesamte Innenraum stand voller alter Möbel.
"Was ist das alles für Zeug?", fragte Eslan verblüfft.
"Der alte Soberan ist gestorben", erklärte Balbiano. "Der neue richtet wohl das Haus neu ein und lässt all die alten Sachen erst mal hierher transportieren."
"Genug jetzt", unterbrach Ilmicea sie. "Suchen wir die Kiste - ihr wisst, wie sie aussieht."
Niemand widersprach.
Nach nur einer Viertelstunde rief Daroca leise: "Ich hab sie!"
Mit wenigen Schritten versammelten sich alle um sie. Sie warfen sich gegenseitig aufgeregte Blicke zu.
"Mach auf", forderte Daroca Balbiano auf - und das ließ der sich nicht zweimal sagen.
Eslan ergriff als erster das Wort.
"Das ist ja nur Papier." Die Enttäuschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Daroca wühlte ein wenig zwischen den beschriebenen Blättern herum, aber da war nichts Wertvolles zu finden. Was konnte Papier schon wert sein?
"Vielleicht steht da was Geheimes drauf", vermutete sie. Niemand von ihnen würde das überprüfen können - als Straßenkinder konnten sie alle nicht lesen - und selbst wenn, hätte sich wohl kaum jemand von ihnen etwas Konkretes unter dem Wort "Besitzurkunde" vorstellen können.
"Seid ihr sicher, dass es die richtige Kiste ist?" Eslan suchte den Raum bereits wieder mit den Augen ab.
"Es ist die einzige, die wir gefunden haben", entschied Ilmicea. "Nehmen wir sie mit und verkaufen sie Yalach."
Entschlossen klappte sie den Deckel zu und ließ sich von den anderen helfen, das Ding aus der Scheune und über die Felder in Richtung der Stadt zu transportieren. Es würde lange genug dauern, und das Risiko, erwischt zu werden, stieg mit jedem Augenblick, den der Sonnenaufgang näherrückte.
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Dies ist ein Werk aus der SiXTY-MiNUTES-Challenge - eine Übersicht über die anderen Beiträge findest du hier: https://belletristica.com/de/books/16378-sixty-minutes-linksammlung/chapter/59976-sm-005-01-09-2019