Beitrag zum 05.02.2020
Thema: »Weißer Nebel«
Jari fuhr schreiend hoch. Im nächsten Moment drückte ihn eine Hand energisch zu Boden.
»Kein Grund, so zu brüllen. Du bist in Sicherheit.« Zhyans Stimme klang erschöpft und als Jari die Augen öffnete und seinen Kopf zu ihm wandte, sah er seinen Freund neben ihn knien. Die Haare fielen Zhyan ins Gesicht, trotzdem erkannte der Junge den abgekämpften Ausdruck in seinen Augen.
»An was kannst du dich erinnern?«, fragte der verbannte Prinz leise.
Jari schluckte. Bilder einer dunklen Gasse und einer gruseligen Gestalt mit Schnabel, die ein Fläschchen in der Hand hielt und böse zischelte. Fesseln, die sich in seine Handgelenke bohrten und um seine Knöchel geschlungen waren. Und eine viel schwärzere Dunkelheit. Das Heulen des Windes. Die eklige Flüssigkeit. Krallen, die seinen Rücken aufschlitzten. Ein Flackern im Wind. Zuletzt der regenbogenfarbene explodierende Hurrikan, der Trümmer regnen ließ. Das alles zog in Jaris Geist vorüber.
Zhyan legte seinem Schüler, nachdem dieser alles erzählt hatte, eine Hand auf den Kopf, vergrub die Finger in den Haaren und zog sanft daran, während der Junge leise weinte.
»Ich weiß, dass du dir die Schuld gibst, weil du nicht auf mich gehört hast. Aber ich sage dir jetzt was, und ich möchte dafür, dass du aufhörst zu weinen und mich ansiehst.«
Schnell wischte Jari mit dem Arm seine Tränen weg und blickte aus traurigen Augen zu dem Freund hoch.
»Als Prinz weiß ich Recht von Unrecht, Schuld von Unschuld und wahren Mut von verzweifelter Rebellion zu unterscheiden. Dir ist ein großes Unrecht widerfahren, dort in Dhoobalhar. Du hättest die graue Stadt nie sehen dürfen! Es ist meine Schuld, dass dich ein Schnabelzahndrache gefangengenommen und verschleppt hat.« Bei diesen Worten zog Jari die Augenbrauen zusammen und wollte heftig protestieren, sagen, dass er selber auf diesen Drachen hereingefallen war, weil er nicht rechtzeitig weggelaufen war, doch Zhyan bohrte seine Finger so fest in seine Kopfhaut, dass er lieber die Klappe hielt.
»Es ist meine Schuld, wirklich! In dieser Welt, nein, nicht nur hier, sondern auch in anderen, existiert ein Codex. Eine Art Gesetzgebung für Lehrmeister. Darin steht beispielsweise, dass Schüler nicht angreifbar sind, solange sich der Lehrer in unmittelbarer Nähe aufhält. Leider ist der Begriff ›unmittelbar‹ nicht näher definiert. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass der Marktplatz darunter fallen würde. Dir hätte dort eigentlich nichts passieren dürfen. Ich glaube jedoch, nein, ich weiß, weshalb diese ganze Sache trotzdem geschehen ist.«
Zhyans Blick wurde sehr finster. Seine Pupillen zogen sich zusammen und sahen aus wie die einer am Tag umherstreifenden Katze. Dieser Ausdruck erschreckte Jari und er rutschte unruhig auf dem Bauch nach hinten. Sofort erschien jene Sanftheit wieder, mit der Zhyan seinen Schützling anzusehen pflegte.
»Ich zeige es dir, wenn du wieder fit genug bist und mich begleiten kannst. Deine Verletzungen sehen schlimmer aus, als sie wirklich sind. Leider reichen meine Heilkräfte nicht aus, alles zu heilen. Aber keine Sorge, Drachentränen haben eine sehr geheimnisvolle magische Wirkung. Es werden allerdings Narben bleiben, das kann ich dir sagen.«
Der junge Mann zog eine Phiole aus einer versteckten Tasche seines Gewandes hervor und lächelte Jari an.
»Drojhidã hat mich auf den Feldern Peehars aufgegriffen«, erzählte er weiter und hielt die Phiole mit den Drachentränen fest in der Hand. »Wir waren innerhalb kurzer Zeit in Saphauras Turm. Während er draußen gewartet hat, habe ich auf meinen Weg nach ganz oben die Wände ein wenig mit Asche verschönert.«
Jari musste glucksen. Er konnte sich lebhaft einen wütenden Zhyan vorstellen, der mit geballten Fäusten unzählige Treppen hinaufstürmte und dabei eine lange Aschenwolke hinter sich herzog, welche von den Flammen, die aus seinen Händen blitzten, stammte.
»Saphaura war nicht überrascht, mich zu sehen. Allerdings scheint sie vergessen zu haben, dass der Prinz des Königreiches der Farben zu Jähzorn neigt. Sie war sogar so dreist, mir gegenüber zu behaupten, du seist unversehrt!« Mit diesen Worten schossen Flammen aus Zhyans Fäusten, und Jari kreischte auf, denn das Feuer hielt auf ihn zu!
Doch es verbrannte ihn nicht. Blitzschnell hob der Lehrmeister die Hand und vollführte eine bogenförmige Bewegung, sodass die kleinen Flammen nach rechts glitten und verglühten.
»Nun, was dann passiert ist, hast du ja mitbekommen. Danach hat uns Drojhidã hierher gebracht.«
Erst jetzt wurde Jari bewusst, dass er sich die ganze Zeit über auf die Worte seines Freundes konzentriert und seine Umgebung noch gar nicht in Augenschein genommen hatte. Um sie herum war weißer Nebel, der jedoch nicht dicht war. Man konnte noch den steilen Abhang und davor die Meisosū-Quelle erkennen.
»Was meinst du mit wahren Mut?«, fragte Jari, dem der Satz ganz am Anfang einfiel.
Zhyan legte Daumen und Zeigefinger auf die Stirn des Jungen.
»Du hast dort unten bei dem Schnabelzahndrachen wahren Mut bewiesen. Weil du dich ihm nicht gebeugt hast. Du hast dich gewehrt. Und das macht mich sehr stolz. Denn eigentlich kommen die Lebenden nicht mehr aus Dhoobalhar raus, wenn sie einmal dort sind. Aber du hattest wahnsinniges Glück, dass du ausgerechnet in dem Teil gelandet bist, in der Saphauras Macht herrscht.«
»Was ist eigentlich mit ihr passiert? Sie war auf einmal weg!« Aufmerksam blickte Jari sich um und der Prinz stand auf, half ihm vorsichtig hoch und führte ihn an den Abhang. Er hielt den Jungen an den Schultern fest gepackt, und das war gut so, denn Jaris Knie zitterten und er wäre eingeknickt und wohlmöglich in die weiße Nebellandschaft gepurzelt, die sich unter ihm ausbreitete.
»Das Weiß repräsentiert die Reinheit. Farben beschmutzen das Weiß, und deshalb musste es sich außerhalb des Turmes ausbreiten.«
»Also ist der weiße Nebel nichts anderes, als Saphaura selbst, oder? Weil du ihren Turm zerstört hast, musste sie sich einen anderen Ort suchen«, überlegte Jari.
Anerkennend drückte Zhyan seine Schulter.
»Sie wird uns hier aber keinen Ärger machen. Und wir ihr auch nicht. Denn ich bringe dich jetzt erstmal zurück nach Baingahr. Nachdem ich deinen Rücken mit den Drachentränen behandelt habe.«
Jari schloss die Augen, als die warme Hand seines Lehrers, eingerieben mit der Flüssigkeit aus der Phiole, über die Wunden strich.
Zhyan würde alles wieder gut machen, dessen war er sich sicher.