Priska kam in die Stube und beklagte sich: „Du, Oma, ich kann einfach nicht einschlafen! Oh, was hast du da für einen wunderschönen blauen Stein an deiner goldenen Halskette?“
„Ach, dies ist eine lange Geschichte“, antwortete die Oma. „Setz dich mal hin. Ich erzähle sie dir gerne! Sie fängt an wie ein Märchen, also es war einmal ein kleiner Indianerjunge. Diese Geschichte passierte vor mehreren Tausend Jahren bei der Hochkultur der Maya. Dies war ein entwicklungstechnisch fortgeschrittenes Volk. Die meisten lebten in Dörfern und nicht in Städten. Also wie wir, auf dem Land. Ihre Häuser hatten offene Durchgänge. Stell dir vor, man konnte keine Türen schliessen oder bei Wutanfällen zuknallen! Den Ackerbau betrieben sie mit Milpas. Du schaust mich fragend an. Ich versuche, es dir zu erklären. Dies bedeutet, sie rodeten alles Ackerland und setzten es in Brand, um so mit der Asche einen guten Nährboden zu schaffen für ihre Nahrungsmittel. Sie bauten Mais, Bohnen und Kürbis an”.
„Da wäre ich ja glatt verhungert!“, fuhr Priska dazwischen.
Die Grossmutter setzte unbeeindruckt fort: „Das war das Bündnis der drei. Der Mais gab den Bohnen die Rankhilfe, diese gaben den Dünger und die Kürbisblätter schützten das Ganze mit ihren grossen Blättern. Sie haben so viel erfunden! Zum Beispiel den Dreizehn-Monde-Kalender! Oh, du gähnst ja, willst du jetzt ins Bett?“
„Nein, bitte, bitte, erzähl weiter, du kannst einfach so gut erzählen”.
„Wo waren wir, ach ja bei den Maya. Ohne sie wäre unsere Zivilisation nicht so, wie sie heute ist! Sie lebten recht einfach und verehrten den Gott K‘awiil. Bei einer solchen Familie wohnte ein kleiner Junge mit schwarzen Haaren. Wie alt bist du Priska?“
„Ich habe meinen achten Geburtstag nächsten Monat!“
„Er war genauso alt wie du! Zudem hatte er geheimnisvolle Augen!“
„Warum?“, rief Priska aufgeregt dazwischen.
„Na, sie waren wirklich etwas Besonderes. Mit dieser Haarfarbe hätte man dunkle Augen erwartet, aber nein sie waren hellblau und blitzten vor Intelligenz!“
„Was meinst du damit?“, unterbrach Priska.
„Genauso wie du, alles fiel ihm leicht und er konnte gut rechnen und lesen. Aufgrund der Tradition schielte er auf beiden Augen. Er sah auch komisch aus mit seinem länglichen Schädel“.
„Wieso war sein Kopf länglich?“
„Du fragst viel! So werde ich nie mit der Geschichte fertig! Es war Brauch, den Kopf von Babys zwischen zwei Brettern einzubinden, sodass er immer länglicher wurde! Siehst du den kleinen Bengel jetzt vor dir?“
“Ja, schon, aber hatte er nichts an? War er nackt?“
„Natürlich nicht, du hast sehr gut aufgepasst! An diesem Tag war es bereits dunkel und recht kalt. Der Mond schien megahell und stand hoch am beleuchteten schwarzblauen Himmel. Es war Vollmond. Der Knirps hatte seine wärmste Kleidung an. Dies war eine Art Poncho. Es war hellgrün, also passte es nicht besonders gut zu seinen dunklen Haaren! Weisst du, was ein Poncho ist?“
„Na, klar Omi, so eines hatte ich am Karneval an. Es war richtiggehend cool, aber erzähl weiter“.
„Es war also, wie gesagt, Vollmond und somit eine helle Nacht. Das Kerlchen schlich sich leise aus dem Haus in den dunklen geheimnisvollen Wald. Weisst du, er hatte eine seltene Gabe. Er konnte verstehen, was die Tiere redeten. Und so hörte er die Vögel singen und sie sagten: „Lauf weg! Der böse Wolf kommt!“ Der Junge war gehorsam und lief wieder nach Hause.
Immer, wenn Vollmond war, wiederholte sich dies. Bei jedem weiteren Versuch ging er etwas tiefer in den Wald. Beim sechsten Mal traf er angstvolle Rehe und Hirsche, die riefen ihm zu: „Lauf schnell weg, der böse Wolf ist im Anmarsch“. Und er lief ängstlich nach Hause. Beim neunten Vollmond traf er eine Wildsau, diese grunzte beunruhigt: „Der böse Wolf ist gleich um die Ecke.“ Auch dieses Mal folgte er.
Vier Monate später, es war der dreizehnte Vollmond des Jahres. Ich weiss nicht mehr, wieso dies passierte, oder ob er einfach von der mystischen und mysteriösen dreizehn beeinflusst wurde. Er lief wiederum in den geheimnisvollen Wald in dieser kalten Nacht. Der Mond schien besonders prächtig. Wiederum kreuzte er den Weg von diversen Tieren, von kleinen wie von grossen. Eine Ameise brüllte so laut wie möglich, war aber für den Jungen kaum hörbar: „Sei vorsichtig und kehre um!“ Diesmal war er unvernünftig und ungehorsam. Immer tiefer lief er in den dunklen Wald. Er traf einen Hasen, diese weinte: „Der Wolf hat mich gerade erwischt, siehst du die Blutspuren am Boden? Ich werde sterben! Bitte, bitte kehr um!“ Die Neugier war einfach zu gross. Sie war nach jedem weiteren Vollmond gewachsen. Und an diesem dreizehnten Vollmond wollte er dieser Sache auf den Grund gehen. Schliesslich war er fast ein Jahr älter! Gehauen oder gestochen! Koste es sein Leben, wollte er dem Geheimnis auf den Grund gehen! Er folgte den scharlachroten Blutspuren des Hasen und begegnete als Nächstes einem rostroten Fuchs. Dieser hielt an und fauchte ernsthaft: „Jüngling, was du jetzt machst, ist nicht besonders schlau! Kehre um, ist der Ratschlag eines weisen Fuchses. Dieser Wolf ist besonders gemein!“ Der Bub missachtete auch diesen Rat. Er war nicht besonders gross und durchstreifte mutig den gefährlichen Wald. Unentwegt schlugen ihm die Äste ins Gesicht und zerkratzten auch seine dünnen Arme. Immerfort lief er forsch weiter. Er wollte diesen sagenumwobenen Wolf unbedingt kennenlernen! In der Weite hörte er das ferne Heulen eines wilden Tieres, das sich im Wind verlor. Die Blätter rauschten und flüsterten: „Gefahr, Gefahr!“
Der Bub zog weiter und bei der nächsten Ecke witterte er den Wolf. Er hatte eine sehr gute Nase. In einer Lichtung begegnete er endlich dem Wolf. Seine Erwartungen waren riesig. Der Wolf sah wie die heutigen Wolfshunde aus. Das Fell war dunkel und dicht. Das edle Tier war rabenschwarz und strotzte vor Gesundheit. Die beiden näherten sich einander misstrauisch mit gemächlichen Schritten. Der Junge war äusserst vorsichtig. Obwohl dies hierfür eigentlich schon zu spät war. Die Begegnung war unheimlich. Jetzt war der Wolf bei ihm und beschnupperte seine Hände vorsichtig und neugierig. Wer war dieses Menschenskind? Warum wagte es sich so nahe an seiner Seite? Der Wolf leckte die salzigen Finger des Buben. Der war mittlerweile zu Tränen übermannt und streichelte das weiche Fell des edlen Tieres und redete sanft mit ihm. Dieser war gerührt und nunmehr war das erste Augenwasser sichtbar. Es quoll langsam aus seinen hellblauen Augen und tropfte auf den Boden. Der Wolf erwiderte: „Du bist das erste Lebewesen auf diesem Planeten, das keine Angst vor mir hat! Komm mit mir! Ich möchte dir etwas als kleine Belohnung und Erinnerung schenken.“ So kehrten sie wiederum in den dichten Wald zurück. Er lief nahe hinter dem schönen Wolfstier. Während Minuten schritten sie so voran durch schmale Pfade und der Wald schien die Atmung anzuhalten vor diesem ungleichen Paar. Bei einer zweiten Waldschneise verliessen sie den Wald. In der Mitte der Lichtung war der Boden sandig. Das wilde Tier fing zielgerichtet langsam an zu scharren und nach einer Weile kam etwas Blaues zum Vorschein. „Für dich!”, murmelte der Wolf. Der Junge hatte schon wieder Tränen vor Rührung in den Augen. Er bückte sich und hob den wunderbaren blauen Stein auf. Beim Wolf bedankte er sich mit einem Küsschen auf die Schnauze.
Und dieser schöne Stein ist uralt und ist ein echter Glücksbringer. Er wird von Generation zu Generation weitergegeben. Irgendwann wirst du ihn um den Hals tragen. So, jetzt ist Zeit fürs Bett!“
„Danke Omi, es war eine schöne Geschichte, ich gebe dir jetzt auch noch einen Gutenachtkuss. Du, wie spät ist es eigentlich? Die alte Standuhr ist stehen geblieben.“
„Ach, die läuft schon lange nicht mehr, ist ein antikes Erbstück. Es ist acht Uhr“.
„Ja, aber, was ist mit der Acht, ich sehe eine römische Dreizehn!“
„Sagte ich doch, du bist intelligent und wissbegierig! Ich weiss nicht, wo der Maler seine Gedanken hatte beim Verzieren des Zifferblatts. Diese Geschichte erzähle ich dir ein anderes Mal. Schlaf gut!“