Tiffy erschauderte und drückte sich noch näher an ihren Bruder, als eine weitere eisige Windböe die Schneeflocken um ihren Schnabel tanzen ließ. Auch Manu hatte sich so weit aufgeplustert wie es ging und schien dem Winter bisher genauso wenig abgewinnen zu können wie sie. Die frostigen Temperaturen waren wirklich grausig und dieser nasse Schnee machte das Ganze nur noch schlimmer!
Die beiden Jungvögel hatten sich noch nicht daran gewöhnt, allein im Nest zu sein und behielten daher ihre Eltern fest im Blick, die gerade am Vogelhaus waren, das die Menschen seit einiger Zeit mit Körnern befüllten. Bald schon würden die beiden mit ihren Eltern zusammen in den Garten fliegen, doch damit wollten sie warten, bis das Wetter ihnen wieder ein wenig freundlicher gesinnt war.
Eisige Böen machten so eine Bruchlandung im Schnee nämlich noch um einiges unangenehmer, als sie es ohnehin schon sein würde.
"Was denkst du, wieso machen sie das?", fragte Tiffy und sah ihren Bruder an.
Seitdem der Winter hereingebrochen war, hatten die Menschen das Vogelhaus regelmäßig befüllt, sodass alle im Umkreis lebenden Vögel nicht mehr beschwerlich unter der dicken Schneeschicht nach Futter suchen mussten.
"Ich weiß nicht", antwortete Manu zögernd und sah zum Haus, in dem die Menschen wohnten. "Vielleicht finden sie im Winter genau wie wir weniger Futter und wollen uns helfen." Tiffy überlegte einen Moment. Ihr gefiel der Gedanke, dass die Menschen an sie denken würden.
"Vielleicht hast du Recht."
Auch die Katze, die bei wärmeren Temperaturen oft zwischen den Büschen herumstromte, war kaum noch draußen. Tiffy konnte erkennen, dass das braune Fellknäul mal wieder von innen vor dem Fenster döste und ab und an einen Blick nach draußen warf. Sie schien den Schnee genauso blöd zu finden wie Tiffy und schien sich die Pfoten nicht nass machen zu wollen. Tiffy konnte sie da nur zu gut verstehen - immerhin konnte sie ja nicht fliegen.
Das laute Brummen und das dadurch kaum noch zu vernehmende Knirschen des Schnees kündigte ein Auto an, das auf die schmale Straße einbog, die vor dem Menschenhaus vorbeiführte.
Es blieb nahe des Eingangs stehen und das Tuckern hörte auf.
"Was ist das denn?", stieß Tiffy erschrocken hervor, als sie einen Blick auf das Auto warf. Manu antwortete ihr nicht, aber sein Körper schien ebenso erstarrt wie ihrer.
Auf dem Auto befand sich eine Art schlauchförmiges Netz, in dem sich etwas Grünes befand. Die Menschen hatten es mit dicken Seilen befestigt und die Jungmenschen sprangen aufgeregt darum herum, sobald sie aus dem Auto gekommen waren.
"Es sieht aus wie ... ein Baum", flüsterte Manu leise.
Tiffy konnte das erst nicht glauben und hatte schon ein gutes Wort für die Menschen einlegen wollen, als sie es auch erkannte. Da ragte ein brauner Stamm aus der hinteren Seite des Netzes hervor!
"Wie konnten sie das nur tun?" Sie rutschte ein Stück weiter nach hinten und starrte den Baum schockiert an.
Ihr Nest befand sich auch in einem dieser Bäume mit Nadeln und auch wenn ihrer deutlich größer war, als der auf dem Auto, bekam sie Angst, dass die Menschen ihren Baum auch eines Tages töten und mitnehmen würden.
"Was, wenn jemand darin gewohnt hatte?", flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu Manu. Der rutschte gerade zu ihr und kuschelte sich wieder gegen ihre Seite.
"Der Baum war sicher krank. Und sie haben bestimmt vorher nachgeschaut, ob er bewohnt war." Tiffy beruhigte sich ein bisschen, aber ihr bisher positives Bild von den Menschen war ins Wanken geraten. Sie hoffte sehr, dass Manu Recht hatte.
"Was macht ihr beide denn da hinten?" Ihre Mama hatte sich auf den Nestrand gesetzt und betrachtete ihre Schützlinge amüsiert, bis sie bemerkte, wie aufgewühlt die beiden waren. Sie hüpfte zu den Kleinen ins Nest und kuschelte sich zu ihnen.
"Was ist denn los?" Besorgt sah sie zwischen den beiden hin und her und da begann Tiffy zu erzählen.
Als seine Frau nicht zurückkehrte, begab auch der Vater der beiden Jungvögel sich zurück ins Nest und fand seine Familie versammelt dort vor. Ihm war schnell klar, dass mit den Kleinen etwas nicht stimmte und so hörte er einfach nur zu, wie seine Frau Tiffy und Manu erklärte, dass heute ein besonderer Tag für die Menschen war.
Als er erkannte, was die beiden so in Aufruhr versetzt hatte, beruhigte er sich wieder und sah doch voller Trauer zum Auto, von dem die Menschen ihren Weihnachtsbaum abluden. Jedes Jahr musste ein weiterer Baum sterben und das nur wegen eines Brauchs ...
Zwar hatte er den Menschen auch schon dabei zugesehen, wie sie neue Bäume gepflanzt hatten, aber auch das machte es für ihn noch nicht vertretbar ...
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Einige Zeit später - die Menschen hatten den Baum mittlerweile ins Haus getragen und aufgestellt - trug ein Mensch eine Kiste herbei und räumte allerhand Sachen zum Weihnachtsbaum. Auch wenn Tiffy der Anblick immer noch schmerzte, war sie doch zu neugierig, um nicht hin zu sehen.
Ein Jungmensch hüpfte auf die Box zu, fiel fast vornüber, als er hineingriff und zog dann etwas daraus hervor, das sie aus der Entfernung nicht so recht erkennen konnte. Es hatte komische Zacken an den Enden und war weiß ...
Der kleine Mensch wollte damit zum Baum gehen, doch seine Mutter hielt ihn auf. Sie schien viele kleine Lichter in der Hand zu haben, die Tiffy faszinierten.
Die Menschen konnten Licht in Gefäße füllen und nach ihrem Belieben an oder aus machen, aber so viele kleine Lichter hatte sie auch bei den Menschen noch nie gesehen. Die Menschin begann das Band aus Lichtern um den Baum zu wickeln und Tiffy stupste Manu mit dem Kopf an, der neben ihr vor sich hin döste.
"Sieh nur", flüsterte sie und richtete ihren Blick wieder auf das Menschenhaus, in dem der Baum mehr und mehr in ein Lichtergewand gehüllt wurde.
"Wow ..." Manu hüpfte plötzlich hellwach an den Rand ihres Nestes und beobachtete die Menschen aus großen Augen.
Gemeinsam sahen sie dabei zu, wie der Baum bald vollständig von den kleinen Lichtern umhüllt war und nun mit farbigen Bällen verziert wurde. Einige waren silber, andere rot und auch die großen Dinger, von denen der Jungmensch eins aus der Box gezogen hatte, wurden irgendwie am Baum befestigt, der langsam schon gar nicht mehr als Baum zu erkennen war, so prachtvoll wie er mittlerweile aussah.
Dann holten die Menschen kleine und große Boxen, alle in unterschiedlichen Farben und mit unterschiedlichen Mustern und legten diese unter dem Baum ab. Tiffy erinnerte sich daran, wie ihre Mama ihr erklärt hatte, dass die Menschen sich gegenseitig etwas schenkten und diese Geschenke erst spät am Abend auspackten.
Fasziniert beobachtete sie, wie das Wuseln der Menschen um den Baum nachließ und sie sich alle zusammen vor ihn stellten. Die Menschenfamilie kuschelte sich aneinander und verharrte so für einige Zeit.
Tiffy sah sich zögerlich in ihrem Nest um, als in ihr das seltsame Bedürfnis aufkam, ihren Eltern auch etwas zu schenken. Sie wollte ihnen eine Freude machen und sich danach genauso an sie kuscheln, wie die Jungmenschen es gerade taten.
Doch Tiffy konnte nichts Besonderes in ihrer Nähe finden. Ihr Nest war leer, bis auf ihren Bruder und sie und die umliegenden Äste waren auch nicht interessant. Sie wollte gerade resigniert aufgeben, als sie etwas Rotes aufblitzen sah. Dort, zwischen all den Nadeln, versteckte sich eine rote Beere, die sicher bei einem Futterstreit heruntergefallen sein musste.
Tiffy setzte sich auf den Rand des Nestes und versuchte mit ihren Krallen Halt zu finden, bevor sie ihren Schnabel vorsichtig Richtung Beere streckte.
"Was machst du da?" Sie spürte das Nest leicht wackeln, als Manu sich bewegte und lehnte sich hastig zurück.
"Ich habe etwas gesehen, was wir Mama und Papa schenken können." Den Blick immer noch auf die Beere geheftet, wollte sie gerade einen neuen Versuch wagen, als Manu noch näher kam.
"Tiffy, hör auf! Was, wenn du fällst?" Ihr Bruder zupfte an ihren Federn, um sie wieder ins Nest zu holen, doch so schnell wollte sie noch nicht aufgeben.
"Ich falle schon nicht, keine Angst." Sie sah zu Manu zurück, der sie ängstlich beobachtete. "Und außerdem wären Mama und Papa längst mit uns in den Garten geflogen, wäre das Wetter nicht so schlecht. Es kann also gar nichts passieren." Tiffy freute sich bereits auf ihr erstes Mal fliegen, aber Manu stand dem etwas skeptischer gegenüber. Sie hatten schon einige Male kleine Trockenübungen gemacht und sie hatte ganz klar gespürt, dass ihre Flügel sie im Notfall tragen konnten.
"Ich denke trotzdem nicht, dass das eine gute Idee ist", warf Manu ein. Tiffy war versucht, seine Bedenken einfach auszublenden, doch sie erinnerte sich wieder daran, dass ihre Mama ihnen immer wieder sagte, dass sie einander gut ergänzten und ab und an besser auf den anderen hören sollten.
Dieser Moment war jedoch nicht jetzt, entschied Tiffy und fixierte die Beere erneut.
"Bleib einfach still sitzen", bat sie Manu und lehnte sich erneut nach vorne. Ihre Krallen umschlossen so fest wie möglich die kleinen Ästchen, aus denen ihr Nest zusammen gesetzt war und sobald sie in Reichweite war, schnappte sie nach der Beere.
Für einen Moment merkte Tiffy, wie sie das Gleichgewicht verlor, doch dann breiteten sich ihre Flügel wie von selbst aus und fingen an zu schlagen, sodass sie zurück ins Nest und damit auf Manu plumpste.
Die beiden Jungvögel schüttelten sich, als sie sich wieder aufrichteten und sahen einander einen Moment lang nur an.
"Das war knapp", meinte Manu und drückte sie weiter ins Nest, als habe er Angst, dass sie sich aus Spaß noch einmal so weit herauslehnen würde. Tiffy legte die Beere hinter ihnen ab, damit ihre Eltern sie nicht gleich bemerken würden und drehte sich dann wieder zu ihrem Bruder um.
"Aber es ist alles gut gegangen, wie ich gesagt hatte." Manu sah sie nur ungläubig an und sagte nichts weiter dazu. Sie wussten wohl beide, dass sie einander manchmal nicht so ganz verstehen konnten.
Keinen Flügelschlag später landete ihr Papa auf dem Rand des Nestes und schob etwas Kleines, Bräunliches zwischen einige unordentliche Zweige.
"Wehe ihr verratet mich", flüsterte er scherzend, nachdem er sich zu ihnen gesetzt hatte. Tiffy sah kurz zu Manu herüber und war umso glücklicher, selbst etwas zum Verschenken zu haben.
"Schaut nur, es ist bald so weit." Er deutete auf die Menschen, die sich zusammengesetzt hatten und etwas aßen. Die Jungmenschen wirkten schon ganz aufgeregt und konnten kaum still sitzen.
"Na, beobachtet ihr die Menschen immer noch?", fragte ihre Mama amüsiert und drängte sich zu ihnen ins Nest, das für vier Vögel langsam zu klein wurde - aber Manu und sie wären bald flügge und würden dann für sich selbst sorgen.
Ihre Mama hatte eine große Motte in den Krallen, die Tiffy bewundernd musterte. So einen tollen Fang wollte sie auch einmal machen.
"Seht nur, sie fangen an." Ihre Blicke richteten sich auf die Menschen, die nun die Boxen auspackten - gerade die Jungmenschen konnten gar nicht schnell genug herausfinden, was sich darin befand.
"Hier, ich habe auch etwas für euch", lenkte ihr Papa die Aufmerksamkeit auf sich und zerteilte die Nuss, die er zuvor im Nest versteckt hatte, in kleine Teile, sodass alle etwas davon hatten.
"Dieses Jahr ein besonders schönes Exemplar." Ihre Mama schob die Motte ihrem Mann zu und die beiden rieben liebevoll ihre Köpfe aneinander, was Tiffy glücklich beobachtete.
"Wir haben auch etwas für euch!", platzte es dann aus ihr heraus und sie holte die Beere hervor.
"Manu und ich haben sie auf einem Ast gefunden." Ihre Eltern sahen sich überrascht an.
"Danke ihr beiden." Sie kuschelten sich aneinander und Tiffy schloss glücklich die Augen.
"Eigentlich hat Tiffy das alles allein gemacht", meldete sich Manu leise zu Wort und sie sah ihn erstaunt an.
"Aber du hast auf mich aufgepasst." Manu sah zweifelnd zu ihr auf und Tiffy stupste ihn aufmuntern an.
"Du hast mich sogar aufgefangen, als ich ins Nest zurückgefallen bin." Sie bemerkte, wie ihre Eltern sich gegenseitig ansahen, aber Tiffy war auf Manu fixiert, der sie nun anlächelte.
"Danke."
"Ich hab' euch lieb", meinte Tiffy und genoss die Wärme ihrer Familie um sich herum.
"Wir haben euch auch lieb", erwiderte ihr Papa und so saßen sie bis die Nacht hereinbrach zusammengekuschelt beieinander und beobachteten die Menschenfamilie, die nun wieder saß und gemeinsam lachte.