Die Schneeflocken wirbeln in der Luft umher, während der Wind eisig durch die Gassen fegt. Er treibt den dicken Nebel vor sich her. Schon am Vormittag brennen alle Laternen in den Straßen und kaum eine Droschke oder anderes Fuhrwerk ist auf den Straßen zu sehen. Es ist kalt. Bitterkalt. Selbst jetzt noch, wo er rennt. Sie haben sich aufgeteilt, um ihre Verfolger abzuhängen und wahrscheinlich hat er diese auch schon vor einer Weile hinter sich gelassen. Denn er ist ein schneller Läufer. Und die Kälte spielt ihm in die Karten. Niemand will bei diesem Wetter wirklich hier draußen unterwegs sein. Trotzdem wird er das nicht überprüfen. Das ist Regel Nummer eins auf der Straße, drehe dich niemals um und bleibe niemals stehen, bevor du dich nicht wirklich in Sicherheit wähnen kannst. Das hat Laurie ihm eingetrichtert. Er läuft weiter zum Treffpunkt.
Unter der Brücke an der Lanestereet kommt er keuchend zum Stillstand. Sein warmer Atem kondensiert in der kalten Luft. Langsam kommt er zur Ruhe. Von hier kann er das Wasser der Themse rauschen hören. Es riecht auch modrig. Erst jetzt sieht er sich um. Noch kein Laurie in Sicht. Vermutlich macht er lieber einen Umweg mehr, als einen zu wenig. Kein Wunder! Hinter ihm sind William und die Bande hauptsächlich her. Er hat die Beute. Die Beute, das heißt in diesem Fall ein ganzer Sack Kartoffeln, den die Jungs einem Gemüsehändler in SoHo abgeluchst haben. Eine richtige Gemeinschaftsarbeit war das dieses Mal. Jamie kann sich noch an eine Zeit erinnern in der er einen Sack Kartoffeln nicht gerade als eine große Beute gesehen hätte. Aber das ist lange her. So lange, dass das Bild von Vater und Mutter schon fast verblasst und die Erinnerung letztlich doch nur vage ist.
„Jamie?“, wispert eine Stimme in der Stille. Er erkennt einen schemenhaften Schatten im Halbdunkeln der Brücke und braucht einen Moment, ehe er die helle Stimme zuordnen kann. „Lacie?“, flüstert er zurück. Das Mädchen löst sich aus dem Schatten der Mauer. „Die anderen sind noch nicht da?“, stellt sie fest, während sie sich über die Arme reibt und mit den Füßen aufstampft um sich zumindest etwas warm zu halten. Er schüttelt seufzend den Kopf. Hoffentlich ist alles gut gegangen. „Nein, aber wenn die große Turmuhr drei Mal schlägt, machen wir uns auf den Weg zum Versteck. So ist’s mit Laurence ausgemacht“, murmelt er verhalten. Vor den anderen darf er seinen Bruder nicht Laurie nennen, das mag der Ältere gar nicht. Vor den anderen sind sie nicht einmal Brüder. Das hat seine Gründe. Er weiß das. Aber weh tut es manchmal schon.
Unverhohlen sieht er zu ihr. Sie ist das neueste Mitglied ihrer Bande und das einzige Mädchen. Jamie findet sie hübsch. Sie hat dunkle Locken und Konblumenblaue Augen. Das gereicht ihr aber eher zum Nachteil. In der Nacht in der Laurence und Jack sie aufgelesen haben ist ihr kleiner Bruder gestorben. Erfroren ist er. So geht es in den kalten Monaten vielen. Immer wenn er daran denkt, scheint es ihm ein unendliches Glück das Laurence und er noch zusammen sind. Zwar behauptet Laurence es hat andere Gründe, jede Bande bräuchte schließlich ein Mädchen, aber Jamie weiß, dass sein Bruder Mitleid mit ihr hatte. Sie war alleine und verloren in dieser Nacht. So wie sie es vor einiger Zeit auch gewesen waren. Deshalb hat er sie aufgenommen, obwohl er sich vorher immer gegen Mädchen in der Bande ausgesprochen hat. Aber er hat Recht. Mädchen sind in einer Bande klasse. Sie haben das mit dem Ablenkungsmanöver viel besser drauf als Jungen. Das hat sie heute wieder unter Beweis gestellt.
Als die Turmuhr drei Mal schlägt sind weder Laurie noch Jack beim Treffpunkt. Jamie kann sich nicht helfen, er fühlt sich ein wenig hilflos. Lacie sieht ihn mit einen wissenden Blick an, bevor sie ihn auffordert: „Komm, wir gehen. Die anderen warten auf uns. Und vielleicht sind Jack und Laurence auch schon im Versteck und fragen sich nur wo wir bleiben.“ Unwahrscheinlich, denkt er. Laurie hält sich immer an seiner Abmachungen. Aber er will daran glauben. Also machen sie sich auf den Weg. Das Versteck ist eine ehemalige Lagerhalle im Fisher’s End. Die Bande bewohnt sie seit gut einem halben Jahr. Zusammen mit ein paar Ratten und anderem Ungeziefer. Vorher sind sie fast jede Nacht umher gestreift. Immer auf der Suche nach einem neuen Schlafplatz. Und sie sind ständig mit William und seinen Jungs aneinander geraten, die praktisch den ganzen Stadtteil SoHo als ihr Viertel ansehen. Deshalb haben sie mit dem erbeuteten Sack Kartoffeln auch nicht nur den Gemüsehändler, sondern auch die Bande bestohlen. Zumindest nach Williams völlig abstruser Logik. Jedenfalls ist die Lagerhalle ihr Zufluchtsort und seit sie sich dort aufhalten und ein Nachtquartier haben ist vieles einfacher geworden. Nur heute ließ sich der Ärger eben nicht vermeiden. Morgen ist der Weihnachtstag und Laurie hat beschlossen ihnen allen etwas Gutes zu tun. In Form eines Festessens. Die Kartoffeln. Kartoffeln sind nämlich super. Du kannst sie im Feuer garen und sie machen lange satt. Nur haben sie keinen Gemüsehändler im Viertel und deshalb mussten sie Williams Revier betreten. Das war der einzige Haken am Plan. Erwischt dich die Stadtwache bringt sie dich ins Zuchthaus. Aber erwischen dich William und seine Leute prügeln sie dich windelweich. Oder schlimmeres. Jamie betet. Unwillkürlich schnappt er sich den Rest des Weges Lacies Hand. Sie schaut ihn erstaunt an, sagt aber nichts. Er lässt sie nicht mehr los, bis sie bei der Lagerhalle angekommen sind. So lange ihre eiskalte Hand in seiner liegt fühlt er sich besser.
In der Lagerhalle sind nur Robin und Freddy, Von den andern beiden keine Spur. „Da seid ihr ja!“, ruft Freddy aus, kaum dass sie durchs Fenster klettern. „Sind Jack und Laurence nicht bei euch?“, will Robin wissen und Jamie hat sofort das Bedürfnis die beiden suchen zu gehen. „Ganz offensichtlich nicht. Oder seht ihr sie irgendwo?“, antwortet Lacie schnaubend und bringt die beiden damit zum Schweigen. Sie würden es nie zugeben, aber sie haben einen wahnsinnigen Respekt vor ihr. Er verzieht sich in eine Ecke der Lagerhalle, während Freddy und Robin sich von Lacie haarklein erzählen lassen, wie ihre Aktion verlaufen ist, während die beiden hier bleiben mussten, um aufs Versteck aufzupassen. Sie fasst die Situation ziemlich gut zusammen. Sie sagt auch, dass Jack und Laurie eigentlich schon hier sein wollten. Die Sorge um die Freunde ist ihr anzuhören. Sie hofft, sie kommen bald. „Ich will mir lieber nicht ausmalen, was wohl passiert ist, wenn sie nicht kommen“. Am Ende kann er Robin seufzen hören und Freddy ruft theatralisch aus „Schade wäre’s um die Kartoffeln, meine Freunde.“
Kaum das er sich niedergelassen hat kommt Corny angeschlichen. Corny ist eine der Ratten die Freddy immer füttert. Die mit dem weißen Punkt mitten im Gesicht. „Ich habe nichts zum Essen für dich“, nuschelt er in den Ärmel seines verschlissenen Hemdes. Die Ratte scheint von der Aussage nicht im Mindesten beeindruckt. Corny sucht überraschend oft die Nähe der Jungen. Am Anfang hat Lacie sich vor ihr gefürchtet aber mittlerweile füttert sie Corny genauso oft wie Freddy. Manchmal bleibt sie einfach bei ihnen sitzen obwohl der Rest der Ratten ziemlich scheu ist. Auch jetzt sieht Corny ihn nur aus großen Knopfaugen an, als würde er verstehen. Jamie seufzt. „Wieso kann ich nicht aufhören mir Sorgen zu machen?“, will er von dem Tier wissen. Doch das bleibt ihm die Antwort schuldig. „Mann, redest du mit der Rate?“, ruft Freddy ihm von der anderen Seite der Halle zu. „Ach halt doch die Klappe“, schallt es direkt von Robin, der ihm einen Stoß versetzt. „Tust du doch selber.“ Sie meinen’s gut und wollen ihn aufheitern, aber er fühlt sich nicht im Geringsten getröstet.
In der Nacht kommt Lacie zu ihm. Sie setzt sich ohne ein Wort zu ihm. Es ist noch immer eisig kalt und ihre Körperwärme tut ihm gut. Müde lässt er den Kopf an ihre Schulter sinken. Er hat versucht zu schlafen, aber die Gedanken kreisen zu sehr. „Weißt du, was ich mich manchmal frage?“, flüstert sie plötzlich. Er schüttelt den Kopf, als ihm klar wird, dass sie das nicht sehen kann. „Nein.“, antwortet er leise. „Was?“ „Ob die Leute um uns rum eigentlich merken, das Weihnachten ist.“ Jamie setzt sich auf. „Das verstehe ich nicht.“, murmelt er. „Wie meinst du das?“
„Ich weiß nicht“, gibt sie zurück und setzt dann zu Erklärung an: „Weißt du, die Leute scheinen in den Tagen vor dem Fest immer geschäftig und nervös. Sie eilen von hier nach dort und müssen immer noch irgendwelche Besorgungen machen. Es geht um die schönste Weihnachtsgans, den hübschesten Baum und die beste Kleidung, wenn es in die Kirche geht. Aber es geht nie um Weihnachten. Und ich frage mich, ob es bei ihnen überhaupt je richtig Weihnacht wird.“
Ob es überhaupt jemals Weihnacht wird. Er sieht sie eindrücklich an und Lacie erzählt weiter. „Ich war auch mal so. Ich kann mich erinnern, an das Jahr als Papa so krank war und seine Arbeit in der Fabrik verlor. Und Mama hatte kaum Aufträge als Näherin. Näharbeiten waren einfach nicht gefragt. Und wir mussten in diesem Jahr auf so vieles verzichten. Es gab keinen Baum, schon gar keine Gans und auch keine Geschenke. Ich war so traurig, Jamie. Mein Vater hatte mir in diesem Jahr versprochen, dass ich die Puppe, die ich mir schon so lange wünschte bekommen sollte. Und jetzt bekam ich weder die Puppe noch irgendein Geschenk.“
Die Enttäuschung konnte er mehr als gut nachvollziehen. Als sie nach dem Tod der Eltern zu Onkel und Tante kamen, war das Weihnachtsfest gar kein richtiges Weihnachten für ihn. Die Eltern waren gerade erst ein paar Wochen Tod als der Heilige Abend kam und die Verwandten ließen keine Gelegenheit aus ihnen deutlich zu machen, dass sie nicht erpicht darauf waren, weitere hungrige Mäuler zu stopfen. Sie ließen die Brüder das auch auf jede erdenkliche Art und Weise spüren. Und dann kam der Weihnachtsabend und seine Tante sagte ihm, für die gäbe es keine Geschenke, weil das Geld was von Mutter und Vater geblieben war ja reichen musste, um sie die nächsten Jahre zu versorgen. Das war bitter, aber Laurie tröstete ihn. Doch dann packten seine Vettern ein Päckchen mit Zinnsoldaten aus und Jamie fing lauthals an zu weinen. Die Figuren kannte er. Ja, er hatte sie sich ja selbst ausgesucht. Mit dem Vater war er kurz vor dessen Tod noch ins Spielwaren Geschäft gefahren und er hatte sich die Soldaten selbst ausgesucht. Er erkannte das Päckchen und den Soldaten mit dem blauen Schild, den sein Vater nur für ihn mit ins Päckchen hatte legen lassen. Wie war er an diesem Tag stolz gewesen und hatte sich schon auf das Geschenk gefreut. Nun sah er es in den Händen anderer. Laurie der an dem Tag mit dabei gewesen war, fuhr sofort auf und ging auf die Vettern los. Es gab eine Prügelei und Geschrei. Onkel und Tante sorgten bald darauf dafür, dass Laurie ins Zuchthaus kam, sie sagten er sei gefährlich und gewaltbereit und es sollte lange dauern, bis die beiden Brüder sich wieder sahen.
Er wird aus der Vergangenheit gerissen, als Lacie weiter erzählt. Er hat vermutlich etwas verpasst, aber er will sie nicht bitten neu anzufangen und spitzt deshalb umso aufmerksamer die Ohren. „… sie haben in dieser Zeit überhaupt viel gestritten und waren verzweifelt. Meine Mutter weinte viel und Papa schrie oft mit uns. Und dann auch noch keine Geschenke zu Weihnachten in diesem Jahr. Irgendwie schien doch alles furchtbar. Natürlich wollte mein Vater mich trösten und meine Mutter schlug vor, da er nicht viel mehr machen konnte, als sich im Lehnstuhl auszuruhen, er solle doch ein paar Kapitel aus unserem Geschichtenbuch vorlesen. Und als mein Vater mir und meinem Bruder so vorlas, was er sonst nie getan hatte, da war es einfach wunderschön. Als meine Mutter dann ein Weihnachtslied sang, während sie das Abendessen machte, sie mit meinem Vater lachte und es alles so friedlich war, da sagte Ryan plötzlich: Jetzt ist es Weihnachten geworden. Mein kleiner Bruder hatte viel besser als ich begriffen worum es geht, Jamie. Nicht um Geld. Nicht um Geschenke oder all die Dinge die man nicht hat. Es geht um die Familie und sich an dem zu erfreuen, was man hat. Es geht darum einfach glücklich zu sein. Dann wird es Weihnacht.“
Jamie schluckt. Ja, das klingt einleuchten und jetzt weiß er auch, was Lacie meinte, als sie gefragt hat, ob die Leute eigentlich wissen das Weihnachten ist. Wir Menschen sind schon komisch, denkt er. Wir scheinen nie wirklich glücklich zu sein, obwohl wir doch wahrlich allen Grund dazu hätten. Wir ärgern uns viel lieber über das was nicht ist, als uns an dem zu erfreuen was ist. Lacie hat Recht. Er seufzt als er den Kopf wieder an ihre Schulter legt. „Verstehe.“, murmelt er müde. „Meinst du für uns wird dieses Jahr Weihnacht?“, will er wissen. Er kann es nicht sehen, aber er hört das Lächeln förmlich in ihrer Stimme. „Ja. Ich glaube daran.“
Am nächsten Morgen wird er vom lauten Tumult geweckt. Freddy schreit irgendetwas durch die Halle. Robin antwortet lauthals und Jack ruft irgendetwas dazwischen. Jack! Mit einem Mal ist er hellwach. Er fährt hoch und weckt so unweigerlich Lacie, die halb neben ihm, hab auf ihm, eingeschlafen war. „Was ist passiert“, fragt sie noch schlaftrunken, als sie sich noch müde die Augen reibt. „Wir sind wieder da“, flötet ein äußerst gut gelaunter Laurie, noch bevor Jamie irgendetwas sagen kann. Mit einem Satz ist er auf den Beinen und fällt seinem Bruder um den Hals, noch bevor der weitere Worte verlieren kann. Er ist so froh ihn zu sehen, dass ihm die Tränen kommen. Er kann das nicht aufhalten. „Heulst du etwa, kleiner Bruder?“, flüstert Laurie ihm ins Ohr. Während er sich fest an ihn drück. „Du dachtest doch nicht etwa, ich würde dich einfach alleine lassen.“ „Du Trottel. Wo warst du“, erwidert er nur. Doch bevor er die Antwort hören kann, fällt sein Blick auf Lacie. Die grinst wissend. Mit den Lippen formt sie lautlose Worte. „Jetzt ist es Weihnachten.“