Die schmale Mondsichel war noch nicht aufgegangen, da schreckte Charlotte aus dem Schlaf. Das Schiff glitt sicher über den ruhigen Atlantik, an Bord schliefen alle, bis auf die Wachmannschaft und die Maschinisten. Der Ballsaal lag dunkel und still da, nachdem auch die letzten Tänzer und Musiker ihre Kabinen aufgesucht hatten.
Und doch war eine feine, leise Melodie zu hören, wie aus dem Nichts. Eine einsame Violine in der finsteren Nacht ...
Näher, mein Gott, zu dir ...
Charlotte blinzelte vor Verwirrung und setzte sich auf. Träumte sie? Sie tastete nach dem Lichtschalter und zog daran.
Warmes Licht erfüllte den holzgetäfelten Raum. Schon wollte sie erleichtert aufatmen, da sah sie ihn!
Ein junger Mann stand da, mitten in ihrer Kabine! Er zitterte und starrte mit schreckgeweiteten Augen ins Leere.
„Was machen Sie hier?!“, rief Charlotte entrüstet. Hastig zog sie die Decke bis unters Kinn.
Langsam hob er den Blick und richtete ihn kraftlos auf sie, doch sagte er kein Wort.
„Raus hier! Sofort!“, keifte sie dafür umso energischer.
Er rührte sich nicht von der Stelle.
„Haben Sie nicht verstanden? Raus hier oder ich rufe die ... den ...“ Nun, sie wusste selbst nicht, wer hier wohl zuständig sei. Der Steward vielleicht? Der schlief doch selber längst!
Ganz deutlich erklang das Spiel der einsamen Geige.
... näher zu dir ...
Der junge Mann schluckte, als wolle er etwas sagen. Sein Blick nahm einen flehentlichen Ausdruck an. Was war das? Er zitterte noch immer am ganzen Leib, und aus seinen zerzausten Haarsträhnen tropfte es – er war völlig durchnässt! Auf seiner Schulter und an der feschen Matrosenmütze glitzerten sogar Eiskristalle! War er etwa ins Wasser gefallen?
... näher zu dir ...
Die traurige Violine verstummte.
Ehe Charlotte den Eindringling erneut zum sofortigen Verlassen ihres Schlafgemachs auffordern konnte, wurde die Erscheinung immer blasser und verschwand schließlich vor ihren Augen!
„Was?!“ Entsetzt sprang die junge Frau auf und stand aufrecht auf der Schlafstatt, die Decke festgekrallt in ihren Händen. Gehetzt schaute sie um sich, doch sie war allein.
Lediglich ein nasser Fleck auf dem Teppich vor ihrem Bett kündete davon, dass sie sich die unheimliche Begegnung nicht eingebildet hatte.
„Oh mein Gott!“ Charlotte sackte in sich zusammen und schluchzte bitterlich. Das hielten ihre sonst so zuverlässigen Nerven nicht aus! Ein fremder Mann war in ihre Kabine eingedrungen, einfach so, und dann hatte er sich in Luft aufgelöst, als sei er ein Geist! Sie sprang aus dem Bett, um sich zu vergewissern, dass die Tür verriegelt war.
Ja, war sie. Das trug keineswegs zu Charlottes Beruhigung bei. Bibbernd vor Angst und Müdigkeit starrte sie in das Dunkel der Kabine und war sich sicher, bis zu ihrer Ankunft in New York kein Auge zumachen zu können.
Das sanfte Brummen des Ozeanriesen wiegte sie nach einer Weile dennoch in den Schlaf.
Näher, mein Gott, zu dir ...