Advent, Advent, ein Lichtlein brennt.
Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier,
dann steht das Christkind vor der Tür.
Wie sehr hatte Raffael diese Zeit im Jahr gehasst! Jahrelang. Vier Jahre, um genau zu sein. Genauso viele, wie Kerzen auf dem Adventskranz waren. Doch dies hatte sich wie durch ein Wunder über Nacht geändert. Und das kam so …
Es war Heiligabend und schon spät, als er mit dem Wagen in dichtem Schneetreiben über die Landstraße nach Hause fuhr. Der Schnee fiel schon seit Stunden vom Himmel. Die Räum- und Streufahrzeuge des Landkreises hatten ihr Möglichstes getan, um den Verkehr auf den Straßen zumindest so lange am Laufen zu halten, bis alle, die ihre Familien besuchten oder in die Kirche gingen, wieder sicher in ihren Häusern angekommen waren. Doch irgendwann kehrten auch diese Fahrzeuge heim, denn wer wollte schon freiwillig an Weihnachten im Einsatz sein? Raffael, lautete die Antwort.
Er war Polizist und irgendwer musste auch an so einem Abend Dienst machen. Vorzugsweise jemand, der keine kleinen Kinder und Familie hatte. Raffael war ein solcher jemand. Das war nicht immer so gewesen, als Kind wuchs er auf wie alle anderen Kinder, mit einer Mutter und einem Vater, und natürlich dachte er, dass sie ihn liebten. Das taten sie auch, bis zu jenem Tag im Spätherbst vor vier Jahren, als er sein unfreiwilliges Coming-out hatte.
Als er kurz nach 23:00 Uhr das Revier verließ, sah er den Schnee unter den Straßenlaternen im Wind wirbeln wie unzählige silberglänzende Funken. Raffael schaute für einen Augenblick wie verzaubert zu, dann riss er seinen Blick los. Selbst hier im Ort waren Schneeverwehungen auf der Straße und wenn er es noch bis zu seiner kleinen Wohnung im nächsten Dorf schaffen wollte, dann musste er sich ranhalten. Er schob den Schnee mit dem Ärmel vom Autodach und von der Windschutzscheibe, stieg ein und fuhr los.
Schon kurz hinter dem Ortsschild bereute er, dass er nicht einfach auf dem Revier übernachtete. Für solche Fälle gab es dort ein altes Feldbett, aber wenigstens sein Kater sollte an diesem Abend nicht einsam sein. Hieronymus war noch ein junges Tier und nicht gerne allein.
Raffael schätzte, dass er bei den Straßenverhältnissen mindestens eine Dreiviertelstunde brauchen würde bis nach Hause. Er versuchte, soweit es ging, auf den Spuren anderer Fahrzeuge, wo man sie noch erkennen konnte, zu bleiben. Trotzdem schlingerte sein Wagen immer wieder und Raffael gab sich große Mühe, auf der Fahrbahn zu bleiben. Um sich von seinem eigenen Leichtsinn abzulenken, hatte er das Radio laut und sang die Songs, die er kannte, mit. Sogar „Last Christmas“ von Wham. Dabei verdrängte er den Gedanken, dass auch George Michael nicht glücklich gewesen war und starrte geradeaus in den Schneeflockenflug. Nur war langsam fahren keine Lösung. Er musste auch ankommen, bevor der Schnee und die Verwehungen auf der Landstraße noch schlimmer wurden. Auf gerader Strecke begann er zu beschleunigen.
Zu spät erkannte er das entgegenkommende Fahrzeug, das voll aufgeblendet und offenbar mitten auf der Straße fuhr. Raffael betätigte die Lichthupe, aber ohne Erfolg. Noch immer kam der andere Wagen auf ihn zu. Jetzt zu bremsen würde bedeuten, die Kontrolle zu verlieren. Es blieb nichts anderes übrig, als die Spur zu halten. Raffael betätigte die Signalhupe, da war es schon zu spät. Um nicht mit dem anderen frontal zusammenzustoßen, zog er nach rechts, über den unbefestigten Fahrbahnrand, eine steile Böschung hinunter und in den Tiefschnee hinein. Vor Entsetzen hielt er die Arme schützend vors Gesicht. Als das Auto plötzlich mit einem Ruck inmitten einer Schneewehe steckenblieb, traf ihn von hinten etwas hart am Kopf. Das waren seine Schlittschuhe, die er nach dem Ausflug mit Kollegen im Wagen vergessen hatte, schon seit mehr als einer Woche. Raffael ächzte und stöhnte. Sein Blick verschwamm und für einen Augenblick verlor er die Besinnung.