Ein Knall zerriss die Stille. Goldenes Licht durchflutete den Raum und verschlang die Schatten.
Dort wo vor einem Atemzug die Rückwand des Ratssaals gewesen war, klaffte ein schwarzes Loch.
Angsterfüllte Schreie schalten von den Steinwänden wider. Metall kreischte auf, als Schwerter aus den Scheiden gezogen wurden. In den Augen der Hüter des Lebensfunkentempels, die sich kampfbereit aufgestellt hatten, spiegelten sich die schimmernden Klingen.
Bald darauf kehrte die Stille zurück, die gelegentlich durch ein Wimmern unterbrochen wurde.
Es vergingen einige Atemzüge, in denen die Belletristicas und Hüter gefesselt den fließenden Bewegungen des goldenen Feuers, das die Öffnung umgab, betrachteten. Flammen züngelten an den Steinen entlang und verzehrten knisternd den Staub, der sich in den Fugen festgesetzt hatte.
Ein Windhauch und Schrittgeräusche kündigten unerwartete Besucher an.
»Haltet euch bereit«, zischte Roy.
Seine linke Hand rutschte am Heft nach unten. Zähneknirschend hob er das Schwert, bis die Parierstange in der Höhe seiner rechten Schulter war.
Der Duft einer Frühlingswiese wehte den Hütern um die Nase.
Marias Lippen umspielte ein Lächeln. »Das können nur Feen sein.«
»Womöglich mischten die Dämonen einen Wiesenduft-Trank, um uns in Sicherheit zu wiegen«, zweifelte Lyndis.
Knurrend stellte Viktoria ihr Standbein nach hinten und brachte sich in Kampfstellung. »Wer immer auf uns zukommt, wenn sie eine falsche Bewegung machen, greifen wir an.«
Ein zustimmendes Nicken machte die Runde.
Mittlerweile waren die Eindringlinge so nahe, dass man schemenhaft die Umrisse erkannte.
Ein Raunen ging durch den Raum, als die Flügel der Vorangehenden durch den Feuerschein anfingen zu glitzern.
Stoff raschelte, Leder knirschte.
Ellariana blickte über die Schulter. Die Belletristicas fielen auf die Knie und senkten die Köpfe demütig.
Ein Klirren an ihrer Rechten ließ sie zu Dark blicken. Das Schwert der Bewahrerin lag vor ihrem gebeugten Bein.
Bevor die letzte Fee den Ratssaal betreten hatte, knieten alle Hüter und bezeugten mit dem Schwert auf dem Steinboden ihre Ergebenheit.
Verstohlen schielte Ellariana nach oben. Ihre Augen wanderten von einer Fee zur anderen. Ihre Mundwinkel zuckten, als ihr die Feennamen wieder einfielen.
Belle mit dem karottenfarbigen Haar, das sie zum Pferdeschwanz gebunden hatte sowie Tãkaro mit der violetten Strubbelfrisur erkannte sie zuerst.
Danach kamen Maldeca und Khaeli. Nur durch die andersartige Kleidung gelang es Ellariana, die Zwillingsschwestern auseinanderzuhalten. Maldecas Liebe zu maßgeschneiderten weiß-grauen Anzügen, war das komplette Gegenteil von Khaelis, die ohne eiserner Rüstung nicht die Zitadelle verließ.
Weiter rechts stand eindeutig Penny. Schmunzelnd überlegte Ellariana, ob die Pergamentrollen in ihren Armen die Übersichten der Schatzkammer waren.
Unerwartet ratterten die Flügel der vorletzten Fee. Die Augen der Bewahrerin weiteten sich. Offensichtlich hatte es Lizzy geschafft, ihre Schwingen durch Feentechnik zu modifizieren.
Zuletzt stand Juno. Kaum kreuzte sich Ellarianas Blick mit dem der Fee, brach ein Wirbelsturm in ihrem Magen aus. Die Trauer in Junos verwässerten Augen stach wie ein Dolch in Ellarianas Herz. Eine Träne löste sich und hinterließ einen goldenen Glimmer auf Junos Wange.
Plötzlich näherten sich schwere Schritte.
»Zu plump und träge, da kommt sicher keine Fee«, zischte Roy.
Marv schnappte nach Luft. »Der Erbauer.«
Mit aufgerissenem Mund verglich Ellariana den Ankömmling mit dem Bildnis des Erschaffers, das in jedem Ratssaal in Belletristica über der Tür hing.
Unverkennbar, das schulterlange, schüttere dunkle Haar. Der spärliche Bartwuchs, der an den Kieferknochen und rund um die Lippen aus der blassen Haut wucherte. Als sie dann die Ringe an der linken Hand entdeckte, war sich Ellariana sicher. Der Erbauer war gekommen, um ihnen in der schweren Schicksalsstunde mit Rat zur Seite zu stehen. Die Lederschnallen an seinem schwarzen Hemd knirschten, als er sich auf den Herrschersitz des Tempeloberhauptes fallen ließ.
Wärme schwang in seiner Stimme. »Ihr dürft euch erheben.«
Ellarianas Zähne knirschten, als sie die Spinnweben und Staubablagerungen an den Arm- und der Rückenlehne entdeckte.
Anklagend blickte sie zu Jack. Als oberstes Irrlicht unterlag es seiner Verantwortung, dass der Herrscherstuhl für unvorhergesehene Augenblicke akkurate gesäubert war.
»Bewohner von Belletristica, Hüter des Lebensfunkentempels, das schwarze Feuer der Verzweiflung entflammte im höchsten Turm der Zitadelle.« Der Erbauer legte die Hand auf Khaelis Unterarm. »Kaum das Khaeli wusste, wer den Beistand der Feen benötigt, alarmierte sie ihre Schwestern und mich.«
Maldeca trat nach vorne. »Bewahrer der Werke, was ist geschehen?«
»Ahhh ...« Papier raschelte. Felix’ linke Hand zitterte derart stark, dass einige Pergamente zu Boden schwebten. Ungeschickt durchwühlte er den Stapel, den er auf seinem rechten Arm balancierte.
Eine Abbildung blieb vor Ellarianas Füßen liegen.
https://belletristica.com/de/books/18036-herbst-im-zoo/chapter/75549-blut
»Rhesusaffen?«, flüsterte Maria und schüttelte den Kopf.
Schmunzelnd hob die Bewahrerin das Bild auf. »Naja, ein Affe von hinten hat was.«
»Wenigstens war es kein Pavian.«
Die Faust vorm Mund dämpfte Ellarianas Lachanfall soweit ab, dass es sich wie ein Husten anhörte.
Khaelis Augenbrauen wanderte nach oben, tiefe Falten kräuselten ihre sonst glatte Stirn. Zeitgleich funkelten ihre Augen zur Bewahrerin herüber.
»Erbauer, ehrsame Feen, in der vergangenen Vollmondnacht kamen Bellestriticas, um ihren Weihnachtspseudonymen Leben einzuhauchen«, erzählte Felix. »Doch etwas ging schief. Als wir zurückkamen, blitzten uns dunkelblaue Augen aus der Finsternis entgegen und dunkle Stimmen sprachen von dämonischen Invasionen. Wir ...«
Junos Aufschrei ließ Felix verstummen. »Sternengift!«
Zustimmend nickte der Bewahrer der dreihundertsechsundsiebzig Werke. »Wir fanden die Chronik des Tempels.« Mit steifen Schritten ging Felix zu dem Erbauer und übergab das ledergebundene Buch. »Es geschah schon einmal, dass sich die Pseudonyme verwandelten. Aber es gibt ein Heilmittel.«
Schweigend wartete der Bewahrer, bis der Erschaffer den Eintrag gelesen hatte. Erst als dieser aufblickte, fuhr Felix fort: »Neun der furchtlosesten Hüter haben sich bereit erklärt, die Zutaten zu finden.«
Felix blickte über die Schulter. »Treten vor.«
Die Metallplättchen auf den Brust- und Armrüstungen klirrten, als acht Hüter mit festen Schritten sich neben Felix stellten.
»Wer ist der Neunte?«, fragte Belle.
Die Brust des Bewahrers der Werke schwoll an. »Ich.«
»Es bleibt nicht mehr viel Zeit.« Der Erbauer erhob sich. »Bald wird die Düsternis die Persönlichkeit der Pseudonyme verwirrt haben und wir müssen sie in die lebensverzehrende Lava stoßen.«
»Die Feen haben euch Hilfe versprochen«, sagte Tãkaro. »Uns ist es untersagt, die Zutaten für den Trank zu suchen, aber wir werden in der Nähe der Stelle warten, wo ihr diese finden werdet.«
Lizzys Flügel summten. »Wenn ihr es gefunden habt, bringt das euch begleitende Irrlicht es zum Erschaffer.«
»Ich habe eine Karte des Tempels, Masqûera sowie des Gebirges angefertigt.« Die Brille rutschte Penny bis zur Nasenspitze hinunter, während sie die Pergamentrollen austeilte.
»Viel Glück, Hüter. Das Schicksal von Belletristica liegt in euren Händen«, verabschiedete sie der Erbauer.
Die neun Bewahrer nahm eine stramme Haltung ein.
Wie aus einem Mund schmetterten sie ein Versprechen aus: »Dass wir die Bewohner und Pseudonyme in Belletristrica von den dämonischen Kräften beschützen werden.«
Ellariana legte die Hand in den Nacken und massierte mit geschlossenen Augen die schmerzende Stelle. Sie konzentrierte sich auf die Geräusche, aber außer ihrem Atem und das sanfte Surren, das die Flammen des Irrlichts hervorrief, war nichts zu hören.
Vor Kurzem war der Raum mit den Stimmen der anderen Hüter erfüllt gewesen. Um sich nicht gegenseitig zu behindern, war kurzerhand eine Vereinbarung getroffen worden, wer wann und wo die Zutat suchen sollte.
»Willst du hier bis zum Sonnenaufgang warten?«
Brummend zog Ellariana die Nase nach oben und drehte ihr Gesicht von dem blauen Licht weg.
»Wenn ich Jack sehe!«, schimpfte das Irrlicht. Ihr Flammenkörper strahlte lichterloh. »Dann werde ich ihm die Lohen lang ziehen. Voller Absicht hat er mir die lahmste Hüterin zugesprochen.«
Ellarianas Lider sprangen auf. »Verdammt!«
Sofort kniff sie die Augen wieder zusammen. »Verschwinde!«
Misstrauisch blinzelte die Bewahrerin. Tränen sammelten sich am Unterlid und kullerten die Wangen hinunter.
»Wie heißt du?«
»Fleur.«
Verschmitzt schmunzelnd sagte Ellariana: »Eher, FeuBleu. Ich bin Ella.«
Zischend schnellte das Irrlicht in Spiralen zur Saaldecke hinauf. Fleur plusterte sich auf, bis ihr blauer Flammenkörper doppelt so breit war.
»Wir müssen zuerst den Feenstaub suchen«, erinnerte sich die Bewahrerin.
Sie rollte gerade die Karte ein, als ihr ein Funkeln in der Nähe der roten Kristalle, die am Fuße des Gebirges standen, auffiel. Sie sprang aus dem Stuhl, der knarzend davon schlitterte. Aufgeregt beugte sich Ellariana über die Karte.
»Kann es sein!«
»Hast du was entdeckt?«, hinterfragte Fleur und schwebte herab.
»Wo finde ich die Weihnachtserinnerung?«
Das Funkeln verblasste und erschien im östlichen Viertel von Masqûera.
»Penny, was würden wir nur ohne dich tun!«
Erleichternd lachend und mit strahlenden Augen steckte sie die Pergamentrolle in das Behältnis, das an ihrem Gürtel baumelte.
Der kühle Wind wehte durch Ellarianas Haar. Sie blickte zurück. Durch die herabfließende Lava hob sich der Gebirgszug von der Dunkelheit ab. Der Mond stand gerade über dem Tempel. Sie hatten noch einige Stunden Zeit, bis die ersten Sonnenstrahlen die Nacht zurückdrängen würden.
»Wir halten uns rechts.«
Ohne das Ellariana gefragt hatte, verstärkte Fleur die Leuchtkraft. Unebenheiten und Gesteinsbrocken hoben sich durch das Licht hervor, sodass sie ihnen rechtzeitig ausweichen konnte.
»Es war klug, dass ihr die Stationen aufgeteilt habt«, erklang Pennys melodische Stimme aus der Mitte des Kristallkreises.
»Danke, dass du magische ...«
Pennys Hand schnellte nach oben. Verstohlen blickte die Fee in die Dunkelheit, zugleich legte sie den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Wonach du suchst, findest du nicht hier. Nimm diesen Beutel.« Penny wartete, bis Ellariana den Lederbeutel am Gürtel befestigt hatte. Dann streckte sie erneut den Arm aus. »Lege den Kristall auf deine rechte Handfläche und blase sanft darauf. Nachdem du die Zutat gefunden hast, halte ihn in der Linken.«
Zögerlich nickte Ellariana und blickte zu Fleur. »Bereit?«
»Hmmm.« Der Flammenkopf bewegte sich auf und ab.
Mit geschlossenen Augen blies die Bewahrerin auf ihre Handfläche. Die Luft begann zu knistern.
»Wo sind wir?«, stieß Ellariana aus.
Der Ufersand knirschte unter den Schuhsohlen. Durch das Vollmondlicht erkannte sie südlich vom See einen Wald und einen Gebirgszug, der sich weiter nach Nordosten zog.
»Das Seewasser leuchtet türkis ... da vorne ist ein Felsen, der wie aufeinandergestapelte Steinplatten aussieht.«
Fleur schwebte in Richtung des Gesteins.
»Sind wir am verzauberten See?«
»Das werden wir erst wissen, wenn wir auf Blütenfeen treffen.«
»Warte!« Ellariana blieb abrupt stehen. »Die Hügel des Feenvolks sind nördlich.«
»Tzzzz« Fleurs Flammenfinger malten ein Gesicht mit nach unten gezogenen Mundwinkel in die Luft. »So groß und keine Ahnung.«
Fassungslos über die Respektlosigkeit starrte die Bewahrerin dem Irrlicht hinterher.
♫»Ich fliege stolz voran, mach’ uns stark. Dieses Licht, das dort scheint auf dem See, es blendet! Ich bin bereit, komm’ doch zu mir ...«♫
»Arghhh! Warum singst du?«
»So beginnt jedes Abenteuer.«
»Bei Prinzessinnen.«
»So?«
»Ahhh ... du ...«
Mit einem Mal erklang ein Piepsen. Ellariana drehte den Kopf zum See. Das Fiepen wiederholte sich. Der Ton spiegelte die Angst, den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit wider.
Das Mondlicht reichte aus, dass sie den Urheber des Quieken entdeckte. Wenige Schritte vom Ufer entfernt flatterte eine Blütenfee über der Wasseroberfläche. Ihr linker Arm bewegte sich hektisch auf und ab, die Flügel schlugen so schnell, dass sie nicht mehr zu erkennen waren. Ihr schmerzverzerrtes Gesicht war zu dem Fischmaul gerichtet, das sich um das rechte Feenbein geschlossen hatte.
Die Bewahrerin stürmte ins Wasser. Der Raubfisch war so mit seiner Beute beschäftigt, dass er die Hände um den Körper erst bemerkte, als es zu spät war. Ruckartig zog Ellariana den Fisch, der erschrocken das Maul öffnete, aus dem See. Fleurs Flammenkörper umhüllte die Blütenfee und bewahrte sie dadurch vor dem Sturz ins Wasser.
»Ich sollte dich braten«, drohte die Bewahrerin, warf den Fisch aber zurück in den See.
Ellarianas Herz klopfte laut, als sie ans Ufer watete. Das Geschöpf, das kleiner als das Irrlicht war, saß zusammengesunken auf einem Stein. Das Wasser tropfte vom silbernen Haar und die Flügel lagen eng an ihrem Rücken an.
»Hast du ihr die Schwingen abgebrannt?«
»Tzzzz.« Fleur sprang in die Luft und landete mit gespreizten Beinen auf Ellarianas Nase. »Nicht mal deine Nasenhaare verbrennen wegen mir.«
»Du vorlautes ...«
Klägliches Husten unterbrach die Bewahrerin. Sie schnippte das Irrlicht vom Nasenrücken und setzte sich vor den Stein.
»Bist du verletzt?«
Die Blütenfee streckte das Bein aus. »Ich glaube nicht.«
»Was wolltest du zu dieser späten Stunde am See?«
Sie nahm die rechte Hand vom Brustkorb. »Wenn man Glück hat, erhält der gesammelte Feenstaub in der Nacht nach Vollmond durch das Seewasser eine besondere Reinheit.«
Ellarianas Augen weiteten sich. Ein Korn des reinsten Feenstaubs funkelte in der kleinen Handfläche.
»Nimm.«
Mit zitternden Fingern öffnete Ellariana das Band des Beutels. Der goldene Schimmer des Feenstaubs zauberte ein Licht und Schattenspiel auf ihre Gesichtszüge.
Die Bewahrerin sprang auf.
»Wir müssen zurück! Pass auf dich auf«, sagte Ellariana und blies auf den Kristall in ihrer linken Hand.
»Maskenrauch.«
Gespannt blickte die Bewahrerin auf die Karte. Das größte Gebäude in der Stadt begann zu schimmern.
Ellariana seufzte. »Masqûera«
Fleur schoss zwischen den Bäumen hindurch. »Das Theater?«
»Hast du dem Erbauer das Feenstaubkorn gebracht?«
Das Irrlicht neigte den Kopf. »Es entglitt mir und fiel in die Lava.«
»Was!«, schrie die Bewahrerin und stolperte über ihre Beine.
Lautstark lachend, sprang das Irrlicht von einem Busch zum Nächsten.
»Dein Gesicht ...« Fleur hielt sich den Bauch. Der Körper war so hell, dass Ellariana ihre Augen abschirmen musste. »Werde ich nie vergessen.«
»Du ...«
»Wir sollten uns beeilen.«
Die Verwünschungen, die Ellariana dem Irrlicht hinterherrief, verrauchten ungehört im Wald. Fleurs Lichtkörper wurde immer kleiner. Schnaubend setzte sich die Bewahrerin in Bewegung. In Laufschritt folgte sie den blauen Flammen, die auf den Büschen loderten und ihr den schnellsten Weg nach Masqûera signalisierten.
Das Blut rauschte in Ellarianas Ohren. Sie beugte sich vornüber und schnappte nach Luft. Kraftlos hob sie den Kopf und wischte den Schweiß von der Stirn. Ihre Augen suchten das Theater. Wie erhofft erstrahlte es lichterloh. Die Bürger von Masqûera machten die Nacht zum Tag, wenn sie die Gelegenheit bekamen, eine späte Theateraufführung und den dazugehörigen Maskenball auszurichten.
»Was hat dich aufgehalten?«, spottete Fleur. »Die Sonne geht bald auf.«
»Früh genug, um den Schluss des Theaterstücks zu sehen«, schnauzte Ellariana.
Um dem Irrlicht nicht mehr Genugtuung zu geben, stemmte die Bewahrerin die Hand gegen die rechte Seite ihres Oberkörpers und atmete geräuschlos tief ein und aus.
Nach wenigen Schritten nahm das Seitenstechen ab.
»Wir nehmen den Hintereingang.«
Fleur huschte an Ellariana vorbei. Zischend verschwand sie hinter jeder offenen Tür, um kurz darauf kopfschüttelnd wieder auf dem langen Gang weiterzufliegen.
»Bist du dir sicher?«, rief das Irrlicht von ganz hinten.
»Ja!«
»Das sind die Letzten.«
»Klopf an.«
»Tzzzz.« Das Irrlicht schrumpfte. »Nichts wissen«, piepste Fleur und verschwand durch das linke Schlüsselloch.
»Belle!«, rief sie aufgeregt und düste durch das Rechte.
Ellariana streckte gerade den Arm aus, um an der linken Tür zu klopfen, als Fleur hinter ihr erschien.
»Takaro, ist auch hier.«
»Beide? Natürlich, wo sonst kann man eine Maske und Maskenrauch finden.«
Durch die Aufregung drückte Ellariana die Klinke hinunter, bevor sie angeklopft hatte. Stolpernd landete sie vor Belle auf die Knie.
»Ah, die dritte Hüterin«, sagte die Fee. »Ich darf dir nichts verraten. Außer, dass der Ankleideraum der Schausteller dir helfen wird. Hier, nimm diese Pipette, um den Rauch einzufangen.«
»Darf ich gleichzeitig nach zwei Zutaten suchen?«
Belle kippte ihren Kopf ein wenig zur Seite und schloss die Augen. Das Nicken war so zaghaft, dass Ellariana es nur durch die bewegenden Haarsträhnen erkannte.
»Danke.«
Das Geräusch der zufallenden Tür war noch nicht verklungen, da klopfte Ellarianas Zeigefinger gegen das Holz.
»Herein«, rief Tãkaro. »Wie viele Zutaten hast du gefunden?«
Die Bewahrerin schluckte. Fleur schoss an ihr vorbei und hüpfte in der Luft.
»Erst eines!«, platzte es aus ihr heraus.
Knurrend schob Ellariana das Irrlicht mit der offenen Hand hinter sich.
»Die Zeit drängt«, belehrte Tãkaro. »Diese Streubüchse wird dir helfen. Benütze sie im richtigen Moment.«
»Und wann ist der?«
»Vertraue deinem Gefühl. Nun geh Bewahrerin. Die Sonne geht bald auf.«
Die Holzstufen knarrten wegen Ellarianas hastige Schritte. Beide Hände am Geländer gelegt, stürmte sie in das Kellergeschoss hinab.
»Nach links«, befahl Fleur. »Nicht so weit!«
Ellariana lief zurück und in den Raum hinein.
»Kannst du nicht vor der Tür warten?«
»So macht es mehr Spaß.«
»Ein anderes Irrlicht wäre bestimmt hilfreicher!«
Fleur verschwand jäh in der Dunkelheit. Die Tür krachte ins Schloss, und sperrte das spärliche Licht aus.
»Warum leuchtest du nicht?«
»Tzzzz«
»Ich sehe nichts!«
»Tzzzz. Entschuldige dich.«
»Entschuldigung Fleur.«
Das Irrlicht entflammte und tauchte den Raum in ein Lichtermeer. Die Luft begann zu flimmern.
»Sieht es nicht wie ein Sternenhimmel aus?«
»Hmmm ... die Erscheinung wird gleich verschwinden.«
»Was? Fleur ... Qualm ... das ist der Maskenrauch.«
Hustend fischte Ellariana die Pipette aus der Innentasche und zog den Stift langsam zurück. Der Blick verschwamm durch den dichten Rauch, trotzdem wartete die Bewahrerin, bis sich das Gefäß gefüllt hatte.
Mit angehaltenem Atem stürzte sie aus dem Raum und rang nach Luft.
»Soll ich es zum Erbauer bringen?«
»Nein! Die Maske muss hier irgendwo sein.«
Tosendes Klatschen und Beifallsbekundungen weckten Ellarianas Interesse. Wie eine Schlafwandlerin folgte sie dem Geräusch. Fleur schwebte um ihren Kopf herum und versuchte durch das Aufflackern des Körpers, die Bewahrerin aus der Trance zu wecken.
Die Doppeltür zum Ballsaal war geöffnet. Musik und Gelächter lockten Ellariana näher. Als sie im Türrahmen stand, fiel der Wachschlaf von ihr ab. Benommen schüttelte sie den Kopf. Ihre Augen huschten über die Balletttänzer, die in traditioneller Kleidung den Schwanensee aufführten.
»Jetzt oder nie«, flüsterte Ellariana, zeitgleich schüttelte sie die Streubüchse. Plötzlich schwebten tausende Schneeflocken von der Saaldecke und führten durch den Lufthauch einen geruhsamen Tanz aus. Lächelnd hob Ellariana den Kopf und streckte gerade noch rechtzeitig die Arme aus, um die Maske aufzufangen.
»Jetzt kannst du zum Erbauer fliegen.«
»Gesunde Pseudonyme.«
Das dritte Mal in Folge flammte das Gebäude auf, in das Ellariana auf gar keinen Fall gehen wollte. Sie blickte von der Karte auf und die Straße entlang. Das Schild, auf dem ein Clownsgesicht gemalt worden war, jagte ihr einen Schauer durch den Körper. Mit hängendem Kopf schlenderte sie zum Eingang. Die Finger krallten sich bereits um den Türgriff, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
»Nicht so schnell«, raunte Lizzy, laut genug, sodass es nicht von dem Klackern der Schwingen verschluckt wurde.
»Hier.« Sie hielt der Bewahrerin eine Phiole vor’s Gesicht.
Schief lächelnd betrat Ellariana den Comedy-Klub und erstarrte. Der Raum war bis auf den letzten Stuhl besetzt.
Die grünen Auren der Anwesenden verdeutlichten, dass sich nur Pseudonyme in der Bar aufhielten.
»Auch das noch.«
Fleur flitzte durch den Türspalt und setzte sich auf ihre Schulter. »Tzzzz.«
»Was?«
»Mit deinem Sinn für Humor ist jede Hoffnung ...«
Verhaltenes Klatschen und das Kracken im Mikrofon übertönten Fleurs Worte.
»Wer will, wer hat noch nicht?«
Widerwillig hob Ellariana die Hand.
»Ah, eine Hüterin. Bezahlt der Erbauer so wenig, dass du eine neue Laufbahn anstrebst?«
Heiteres Gelächter erklang.
»Na dann, deine fünf Minuten jüngster Stern auf dem Comedy-Himmel.«
Ellariana zog das Mikrofon aus der Halterung, das ihr durch die schweißnassen Finger rutschte. Versohlen blickte sie in die Menge. Die Gesichtszüge sprachen Bände. Sofort sackte ihr Herz in die Hose.
»Was suchen wir«, flüsterte das Irrlicht.
»Träne eines Pseudonyms.«
»Dann bring sie zum Weinen«, spottete Fleur.
»Ahhh ... Hallooooo.«
Ein überlautes Gähnen erklang. Hilfesuchend blickte sie zum Tresen. Der Barmann hob den Arm und streckte drei Finger aus.
»Erzähl einen Witz«, murmelte Fleur. »Mach schon!«
»Ahhh ...
Ein Zwerg erkundigt sich bei einer Ruderbarke am Blutstrom: »Wie viel kostet die Fahrt zum Ghoulish Marschland?«
»Zwei Dukaten!«, sagt der Kapitän.
Entsetzt dreht sich der Zwerg um. Als die Barke ablegt und flussaufwärts gleitet, rennt der Zwerg am Ufer daneben her. Die ganze Fahrt lachen der Kapitän und die Ruderer, aber dem kurzbeinigen Geizhals geht die Puste nicht aus. Als die Barke das nächste Mal anlegt, keucht der Zwerg heran.
»Wie viel - japps - kostet die Fahrt zum Marschland von hier?«
»Jetzt kostet’s vier Dukaten!«, grinst der Kapitän. »Das Marschland liegt nämlich flussabwärts!«
Stille breitete sich aus. Die Pseudonyme starrten Ellariana mit offenen Mündern an. Unverhofft erklang ein glucksender Laut. Alle Köpfe drehten sich zur Bar. In diesem Moment verschwand der Barmann hinter der Theke. Seine Finger verkrallten sich in die Holzplatte. Das Glucksen wurde ein lautstarkes Lachen. Ein Pseudonyme nach dem anderen schloss sich dem hysterischen Gelächter an. Ungläubig beobachtete Ellariana, wie Tränen über die Wangen kullerten.
»Schnell!«
Zufrieden mit sich, verließ die Bewahrerin den Comedy-Klub und reichte Fleur die Phiole, in der eine hellgrüne Flüssigkeit schwappte.
»Wo finde ich dich?«
»Im östlichen Viertel.«
»Bin gleich zurück«, versprach Fleur und verschwand hinter der nächsten Häuserecke.
Es knirschte unter Ellarianas Schuhen. Ihre Brauen schoben sich zusammen, während sie den Blick über den Platz schweifen ließ. Unzählige Hütten standen kreuz und quer. Das an sich war nichts Besonderes. Der Pulverschnee auf den Dächern und der hart getretene Schnee am Boden jedoch, kam so unerwartet, dass sie die Kälte an den Händen erst spürte, als sie die Platzmitte erreicht hatte. Im Mondschein erkannte sie einen Schneehügel, den Kinder unter Tags zur Schlittenfahrt benützten.
Die Tür einer Hütte öffnete sich und Juno kam schwankend auf die Bewahrerin zu. Der Becher in ihrer Hand dampfte und es roch nach Gewürzen und herben Wein.
»Geht es dir gut?«, fragte Ellariana.
Mit roten Wangen nickte die Fee eifrig.
»Ich liebe den Winter. Gehen wir ein Stück?«
Als ob sie beste Freundinnen wären, hackte sich die Fee bei Ellariana ein und ging schweigend auf eine Bank zu.
»Pseudonyme erkrankten zuvor.« Juno sah nach Osten, während sie weitersprach. »Damals war ich noch keine zehn Sommer alt. Meine Mutter war die oberste spirituelle Fee und nahm mich mit zum Lebensfunkentempel.« Qualvoll lächelnd senkte sie den Kopf und blickte in den geleerten Becher. »Der Lebensbaum war dabei seine Magie auszuhauchen. Aber bevor das letzte Blatt sich dunkelblau färbte, rettete uns ein furchtloses Pseudonym durch ihre Selbstlosigkeit.«
Junos Stimme brach, zitternd legte die Fee ihre Hand auf Ellarianas. »Dieser Moment, als sich die roten Knospen auf den abgestorbenen Zweigen öffneten, ist meine schönste Weihnachtserinnerung.«
»Wir sollten zurückgehen«, empfahl die Bewahrerin.
Tränen liefen an Junos Nase entlang. Die Fee fing eine nach der anderen mit dem Zeigefinger auf und formte die Tropfen zu einem flüssigen Medaillon. Zum Schluss hauchte sie auf das Bildnis.
»Hier. Nimm es.«
Behutsam griff Ellariana nach dem vereisten Amulett und sah die Fee fragen an.
»Jetzt fehlen dir nur noch drei Zutaten.«
Mit der Karte in der Hand wartete Ellariana an der Ecke zu den Verliesen auf Fleurs Rückkehr. Für die letzten zwei Zutaten musste sie zuerst durch den Steingarten und dann die Stufen der Ewigkeit erklimmen. Dreihundertdreiunddreißig!
Eilige Schritte kamen auf sie zu. An dem Rascheln des Umhangs erkannte Ellariana, dass es sich nur um Viktoria handeln konnte. Bewusst trat die Bewahrerin in den Schatten zwischen zwei Fackeln und wartete, bis Viktoria bei ihr vorbei hetzte.
»Hast du schon alles?«
»Ochhh!« Viktoria sprang zurück. Ihr Gesicht wurde kreidebleich, jedoch war das Schwert bereits halb aus der Scheide gezogen.
»Wolltest du mir die Tränen mopsen?«
Ellariana schenkte ihr ein vielsagendes Lächeln.
»Darüber reden wir noch«, versprach Viktoria und lief den Gang hinunter, indem Fleur gerade entlang flog.
»Endlich.«
»Nächstes Mal kannst du je gehen«, entgegnete das Irrlicht.
»Die verseuchten Pseudonyme wurden in die Verliese gebracht.«
Ellarianas Schritte hallten von den Wänden wider. Schon von weiten erkannte sie Kaehli. Die Fee stand mit gezogenem Schwert vor einer Tür und blickte ihr mit verschmälerten Augen entgegen.
»Du bist die Letzte!« Kaehli streckte den Arm aus. In einer Hand hielt sie einen Dolch, in der anderen einen Bergkristall.
»Wähle Weise. Einer davon hilft dir die Tränen zu erhalten.«
»Nimm das Messer«, zischte Fleur.
Kopfschüttelnd griff Ellariana nach dem Kristall.
»Mit Zwang werden wir nichts erreichen. Dunkle Magie hat schon ihre Herzen vergiftet.«
Ohne jegliche Regung im Gesicht, drehte sich Kaehli um, und öffnete die Tür.
Saurer Geruch nahm Ellariana den Atem. »So also stinkt Bosheit.«
»Wie willst du die Träne bekommen?«, fragte Fleur.
»Keine Ahnung. Lass uns mal sehen, was uns erwartet.«
Schweigend umrundete Ellariana die Ecke und fand sich auf einem langen Gang wieder. Auf beiden Seiten standen verseuchte Pseudonyme an den handgelenkdicken Gitterstäben. Ihre Zungen züngelten zwischen den blutleeren Lippen hindurch.
Die Bewahrerin ging langsam den Gang hinunter, dabei blieb sie vor jeder Zelle stehen und betrachtete das Pseudonyme.
»Was suchst du?«
»Einen Funken der Hoffnungsaura, der Psyeudonyme umgibt.«
»Da hinten ... ein grünes Leuchten!«
Ellarianas Mund war ausgetrocknet, als sie am letzten Verlies ankam. Fleur hatte recht. In der Ecke kauerte ein Pseudonym. Ihr Gesicht war durch die Hände verdeckt.
»Hallo ...«
Ellariana kniete vor den Stäben nieder.
»Warum weinst du?«
»Es ist so dunkel. Ich verliere die Kontrolle über das Hoffnungslicht.«
Fleur klopfte auf die Schulter der Bewahrerin und zeigte aufgeregt auf ihren Beutel. Vorsichtig nahm Ellariana den Bergkristall heraus. Das weiße Licht drängte die Dunkelheit zurück. Als die Bewahrerin wieder aufsah, saß das Pseudonyme an den Gitterstäben und streckte die Hand nach dem Kristall aus. Der Lichtstrahl spiegelte sich in ihren schwarzen Augen.
»Willst du ihn?«
Heftig nickend streckte das Pseudonym die Hand aus. Kaum berührten ihre Finger den Bergkristall, löste sich eine Träne aus dem linken Auge.
Fleur schoss nach vorne. Es zischte. Vorsichtig öffnete das Irrlicht die Flammenfaust. Ein dunkler Stein in Tränenform lag auf ihrer Handfläche.
Fleur grinste. »Wo treffen wir uns?«
Vollkommen fassungslos stotterte Ellariana. »In den Lavahöhlen.«
Poliertes schwarzes Kalkgestein säumte den Gang, durch den vor Hunderten von Jahren die Lava geflossen war. Orange-roter Lichtschein wies Besuchern den Weg. Längst glitzerten Schweißperlen auf Ellarianas Gesicht und das Lederhemd klebte am Rücken. Hustend umrundete sie eine Felskante und stand plötzlich auf einem Plateau. Die Arme um den Bauch geschlungen, näherte sie sich dem Abgrund. Es zischte und weiß-grauer Rauch wehte über die Klippe. Als die Schwaden sich aufgelöst hatten, stand Maldeca neben Ellariana.
»Der Sonnenaufgang steht kurz bevor«, warnte die Fee.
Die Bewahrerin verdrehte die Augen. »Hast du schon einmal ein Lavagestein in der Hand gehabt? Sieht recht heiß aus«, grübelte Ellariana.
»In der Unterwelt bauen wir daraus unsere Häuser.«
»Ist Lava nicht flüssig?«
»Der Saft des Lebens lässt es erstarren.«
Ellarianas Mund wurde zu einem dünnen Strich, kleine Falten erschienen über der Nase. Ihr Blick huschte von Maldeca hinab zu dem Lavastrom.
»Was meinst du mit ...« Sie verstummte. Die Fee war verschwunden, dafür jagte ein blaues Feuer auf sie zu.
»Und?«
»Ich muss da hinunter.«
»Warum?«
»Eine Zutat ist ein Lavagestein.«
»Ich sehe keinen Weg«, stellte Fleur fest, nachdem sie unterhalb der Klippe entlang geflogen war. »Aber wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann ...«
Das Irrlicht stürzte sich hinab, tauchte in die Lava ein.
Wie lebendiges Feuer schnellte Fleur nach oben.
Sie kreischte, wurde schwerfälliger, erreichte gerade noch die Klippe.
Entsetzte fiel Ellariana neben Fleur auf die Knie. Ohne nachzudenken, zog sie ihren Dolch und schnitt sich in den Unterarm. Das Blut floß auf das brennende Irrlicht.
Die Flammen versteinerten. Eine Skulptur aus Lavagestein saß vor ihr am Boden und lächelte ihr selig ins Gesicht.
Gestein knirschte. Aus einer Wandöffnung schwebte das oberste Irrlicht auf sie zu.
»Tapfere kleine Fleur«, sagte Jack und streichelte über die erstarrten Gesichtszüge. »Der Erbauer erwartet dich beim Lebensbaum.«
Lautlos weinend folgte Ellariana dem Weg durch den Steingarten. Ihr Blick war verwässert, die Nase topfte und das Herz klopfte schmerzend gegen die Brust.
Die acht Hüter und die Feen bemerkte Ellariana erst, als sie aus dem Irrgang trat.
»Was steht in den Chroniken«, verlangte Roy zu wissen.
Felix schüttelte den Kopf. »Nichts.«
»Aber dort ist die letzte Zutat«, bemerkte Maria.
Viktoria sah über die Schulter. »Ah, Ella ist endlich da!«
Schuldbewusst blickte die Bewahrerin auf ihre Hände.
»Womöglich müssen wir alle gleichzeitig auf den Baum zugehen«, überlegte Marv.
Lyndis Mundwinkel zuckten. »Händchen haltend?«
»Warum nicht«, entschied Dark. »Die Sonne geht gleich auf!«
Kurz blickten die Hüter sich an. Einer nach dem anderen streckte den Arm aus. Ellariana nahm den äußeren linken Platz ein.
Knöchelchen knackten. Knurrend und mit schmerzverzerrter Miene zuckte ihr Kopf nach rechts. Viktoria grinste sie verschmitzt an.
Felix rief: »Eins, zwei ... drei!«
Es waren keine zehn Schritte zwischen den Hütern und dem Baum. Die ersten fünf liefen sie zusammen.
Plötzlich erklang ein Knall.
Ellariana fühlte einen Ruck im Arm. Sie schrie auf und stolperte weiter. Die Geräusche wurden dumpf. Benommen massierte sich die Bewahrerin die Schläfe und atmete tief durch.
Als sich ihr Blick wieder geklärt hatte, sah sie den Baum vor sich. Keine Armlänge entfernt. Lachend drehte sie sich um. Die Hüter standen hinter einer schummrigen Magiebarriere, die Ellariana zuvor nicht bemerkt hatte.
Maria schlug mit der Faust gegen die Hülle.
»Ich bringe für alle die Zutaten«, versprach Ellariana.
Sie wollte sich gerade umdrehen, da sah sie den Erbauer und eine Fremde auf sie zukommen.
Die Frau legte ihre Finger auf die Barriere. Ein einfühlsames Lächeln erschien auf ihren weichen Gesichtszügen.
»Ella, mein Liebling.«
»Kenne ich Sie?«
Anstatt einer Antwort schob sie den Ärmel der Robe nach oben.
Ein Wort schimmerte unter der Haut. »Ellariana.«
Die Augen der Bewahrerin öffneten sich voller Unglaube. Sie blickte auf ihren freien Unterarm, darauf erschien »Iasanara.«
»Das kann nicht sein«, stammelte Ellariana. »Ich bin ein Orthonym.«
Iasanara schüttelte sanft den Kopf. »Es tut mir leid.«
Ellarianas Blick hetzte vom Erbauer zu den Feen, und verharrte bei den Hütern. Eine goldene Aura umgab jeden, der außerhalb der Barriere stand. Sie hob den Arm. Ein grünes pulsierendes Licht umschloss ihren Körper.
»Ich bin kein Pseudonym«, schrie die Bewahrerin aus Leibeskräften.
»Doch mein Kind. Und dir ist ein großes Schicksal vorherbestimmt.«
Ellarianas Herz schlug ihr bis zum Hals. »Ich bin eine Bewahrerin!«
»Nur durch dich wird es uns gelingen, die Vergangenheit zu überwinden«, erklärte Iasanara.
»Was?«
»Jedes neue Pseudonym schwächt den Lebensbaum. Sieh«, Iasanara zeigte auf den obersten Ast, »Es ist nur mehr ein Blatt über.«
»Was passiert, wenn ...«
Iasanara schloss die Augen. Ellariana begann zu verstehen.
Ihr Herzschlag beruhigte sich wieder. Der kahle Baum aus Junos Weihnachtsgeschichte tauchte in ihren Gedanken auf.
Ellariana drehte sich um.
Die Bewahrerin wusste, was sie zu tun hatte.
Die Dolchklinge blitzte.
Entsetzensschreie verdrängten die Stille.
Wärme und Dunkelheit hüllte Ellariana ein.
Sie lächelte, als eine kleine blaue Flamme näherkam.
Als ihr Blut vor dem Baum im Boden versickert war, zerfiel ihr Körper zu Staub. Die Barriere zerbröckelte.
Die ersten Sonnenstrahlen berührten die Krone des Lebensbaumes.
Die unzähligen Blätter schimmerten wie Rubine.
Ein scharfer Wind wehte durch die Zweige, trotzdem löste sich kein Blatt.
Der Erbauer legte seine Hände auf den weißen Stamm.
»Die Quelle des Lebens ist wieder gefüllt. Viele Pseudonyme können durch Ellariana in Belletristica geboren werden und ihr heilender Lebensschimmer ist die letzte Zutat für den Trank.«