Du bist Brenna Sundergeer.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht ziehst du dich in den Sattel. Der braungescheckte Tinker schnaubt und bewegt sich, während du die Zügel aufnimmst.
Die Pfeilwunde in deiner Seite ist dank Allysters Heilkünsten erstaunlich gut verheilt. Du hattest Glück. Es war nur eine Fleischwunde, zudem ist der Pfeil glatt durchgegangen. Doch immer noch musst du aufpassen. Eine heftige Bewegung und die Wunde könnte wieder aufreißen. Aber du bist so weit, reiten zu können.
Eine Woche ist vergangen und ihr wollt den Dunkelelfenwald verlassen. Ihr habt den Schöpferstein, die Dunkelelfen werden sich, sobald sie können, auf eure Fährte setzen.
Allyster, Aji vor sich auf dem Sattel, wartet, bis du mit einem Nicken zu verstehen gibst, dass ihr reiten könnt. In langsamem Tempo trotten die Pferde durch den Wald: Die Schimmelstute Melréd geht voran, dann folgt dein Tinker und schließlich das Maultier.
Deine eigene Stute merkt bald, dass du dich bei jeder Erschütterung im Sattel versteifst. Du bist erstaunt, als das Kaltblut plötzlich sanft auftritt und umsichtig nach dem sanftesten Weg sucht, um dich zu schonen.
„Du bist eine Gute“, murmelst du dem Pferd zu und klopfst ihr den Hals. „Du brauchst einen Namen!“
Die Stute schnaubt als Antwort. Allyster allerdings dreht den Kopf nach hinten. „Was vernehme ich da? Zeigt sich in deinem kalten Kämpferherzen etwa Zuneigung zu deinem Reittier?“
Der Mann hat Ohren wie ein verfluchter Luchs!
„Nein“, antwortest du laut. „Ich muss nur wissen, wie ich das Vieh im Notfall rufen soll.“
Aus irgendeinem Grund hält Allyster das für eine Einladung und lässt sich nach hinten fallen, bis eure Pferde Seite an Seite gehen.
„Nach meiner Erfahrung bewirkt ein elfischer Name Wunder, was die Gehorsamkeit und Treue eines Pferdes angeht.“
„Schön“, brummst du. „Dann ist dein Pferd auch elbisch benannt?“
Allyster nickt auf diese hochnäsige, huldvolle Art, die du so überhaupt nicht leiden kannst. „Melréd ist das elbische Wort für ‚treuer Freund‘.“
„Wie … einfallsreich“, bemerkst du. „Ist es nicht eine Stute?“
„Wenn ich ehrlich bin“, Allyster senkt die Stimme, als wolle er sein Pferd nicht beleidigen, „ich nenne jedes meiner Pferde so.“
„Toll“, meinst du trocken. „Dann nenne ich meine Stute einfach genauso!“
Allyster verdreht kopfschüttelnd die Augen. „Ernsthaft bitte, Brenna!“
Du schluckst deine Wut herunter und berührst den dicken Verband an der Seite. Während Allysters Schimmelstute einen kleinen Abhang herunter springt, sucht deine Stute sich ihren Weg am Rand entlang.
„Ich finde, ihr Fell sieht aus wie Rauch“, sagst du nach einer Weile und betrachtest nachdenklich das weiß-braune Scheckenmuster.
„Wo siehst du da Rauch?“, fragt Allyster mit zusammengezogenen Brauen. Aji dreht sich vor dem Zauberer im Sattel um und sagt: „Ich finde auch, dass sie wie Rauch aussieht!“
„Danke.“ Du meinst das ehrlich. Es kommt selten genug vor, dass Aji das Wort ergreift. Und nun, da er den Stein der Toten um den Hals trägt, bist du doppelt vorsichtig. Ein Teil von dir lacht darüber, dass du dich vor einem kleinen Jungen fürchtest – aber Aji erscheint dir wie ein Fremder, mit seinen pinken Haaren und den lilanen Augen.
„Duma“, sagt Allyster.
„Was?“, fragst du.
„Duma. Das ist elbisch für ‚Rauch‘. Die weibliche Form, die übrigens hellen Rauch bezeichnet statt den schwarzen Qualm eines Waldbrandes.“
So belehrt bereust du bereits, mit den Namen angefangen zu haben. Deine Stute schnaubt allerdings erfreut.
„Duma also?“, fragst du leise und musst wider Willen lächeln.
°°°
Endlich erreicht ihr den Sumpf. Der Himmel spannt sich weit über dem von Schilf durchbrochenen Land und scheint niedriger zu sein als über dem Tannenwald. Du atmest auf, als du den Forst von Ewyân verlässt. Es fühlt sich an, als würde ein Druck um deinen Brustkorb verschwinden, den du vorher kaum wahrgenommen hast.
Auch die Pferde heben die Köpfe. Melréd wiehert befreit und lang.
Du tauscht einen Blick mit Allyster und zuckst mit den Schultern. Im nächsten Moment lasst ihr die Zügel fahren und schlagt den Pferden die Hacken in die Seiten.
Duma und Melréd galoppieren auf die sumpfigen Wiesen hinaus, das Maultier hetzt hinterher. Du musst dich im Sattel aufstellen, um deine Wunde zu schonen, aber der Wind, der dir in die kurzen Haare fährt, ist alle Mühen und Schmerzen wert.
Eine Weile donnern die Hufe über die Erde und die Pferde lassen den Wald weit hinter sich. Schließlich bremst Allyster die Tiere aus.
„Wir sollten langsam reiten, bevor wir noch im Sumpf landen“, meint der Zauberer. Du unterdrückst ein Seufzen. Elender Spaßverderber! Natürlich hat der Magier Recht – wie immer – aber der Galopp hat dich für einige wertvolle Minuten alle Sorgen vergessen lassen.
°°°
Es wird Abend, als ihr beginnt, nach einem geeigneten Rastplatz Ausschau zu halten. Plötzlich hält Allyster Melréd an und starrt in den Himmel. Du folgst seinem Blick und bemerkst einen kleinen Punkt, der sich euch schnell nähert. Schließlich erkennst du, dass es sich um einen schlanken, schwarzen Vogel handelt – eine Amsel.
Allyster streckt eine Hand aus und die Amsel landet darauf. Sie blinzelt den Magier aus schwarzen Knopfaugen an und hüpft ein wenig hin und her. Dann streckt sie ein Bein aus, an dem eine kleine Botschaft befestigt ist.
Du treibst Duma zu Melréd herüber. „Nachricht von Elred?“
Der Zauberer nickt und entrollt die kleine Schriftrolle. Dann liest er vor:
„Hallo Allyster, hallo Aji, hallo Brenna.
Wenn alles gut gegangen ist, habt ihr jetzt bereits einen Schöpferstein in den Händen. Wir haben soeben das Reich der Orks erreicht – da fällt mir ein, es wird eine Weile dauern, bis mein gefiederter Helfer euch erreicht, also haben wir die Grenze wohl schon überschritten. Doch zurück zum Jetzt: Wir haben bereits eine Patrouille belauscht und etwas sehr interessantes erfahren, darum die Botschaft: Der vierte Schöpferstein befindet sich in den Händen der Piraten von Mondsee. Brecht dorthin auf, wenn ihr könnt – Falur meinte ja, dass wir keine Zeit verlieren sollten.
Ich darf nicht für Arthrax sprechen, aber ich hoffe, ihr seid alle wohlauf. Wir beide befinden uns nun vor den Grenzposten des Orkreichs. Es ist eine dunkle und ausgesprochen stürmische Nacht. Einzig die Feuer im Wachtturm flackern …“
Elred berichtet weiter ...:
- Einzig die Feuer im Wachtturm flackern über uns in der Dunkelheit wie glimmende Sterne. Lies weiter in: „Das Land der steinernen Klaue“, Kapitel 1
[https://belletristica.com/de/books/20828/chapter/21223]
- Optional: Eine zerklüftete Gerölllandschaft erstreckt sich bis zum Horizont, darüber spannt sich ein farbloser Himmel. Lies zuvor „Das Land der steinernen Klaue“, Prolog
[https://belletristica.com/de/books/20828/chapter/21222]
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Dir hat Band 1 des Spielbuchs gefallen?
Wenn du möchtest, kannst du mir für deine absoluten Lieblingswerke ein paar Brotchips über Ko-fi spendieren: https://ko-fi.com/grauwolfautor
Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!