Etwas zügiger als zuvor gingen sie nun wieder die Kieswege entlang, den Schildern in Richtung des geheimnisvollen Areals entgegen. Auf dem Weg dorthin kamen sie an weiteren Blumengärten vorbei, die offenbar alle zu verschiedenen Gärtnereien im Landkreis gehörten. Im Vorbeigehen nahmen sie zwar wahr, dass auch hier die Ausstellungen schön waren, doch viel Zeit diese zu betrachten, nahmen sie sich diesmal nicht. Schließlich hatten sie ein anderes Ziel und die Sonne verschwand immer tiefer hinter dem Horizont.
Das vorige Gespräch nagte immer noch an Rove. Immer wieder dachte sie daran zurück, haderte mit sich selbst, ob sie Araz noch einmal darauf ansprechen sollte. Sie könnten das Thema nun zwar auf sich beruhen lassen. Doch so ganz wollte es Rove nicht in Ruhe lassen.
Sie sah im Gehen zu Araz hinüber und wollte sich räuspern, um seine Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, hielt aber inne. Er wirkte plötzlich angespannter als zuvor, sein Blick haftete an dem Waldstück, dem sie sich näherten. Sie kannte diesen Blick mittlerweile. Augenblicklich machte sich auch Anspannung in ihren Gliedern breit. „Was ist los?“
Bevor er antwortete, runzelte Araz die Stirn und hielt für einen Moment inne. „Wir sind wohl nicht die einzigen, die sich hierher geschlichen haben“, antwortete er schließlich. „Vielleicht sind es auch nur noch ein paar Arbeiter.“
Beide hielten nun für einen Augenblick inne.
Rove wandte den Blick in Richtung Wald. Ihre Neugier war so wach, dass es sie Mühe kosten würde, das Vorhaben abzubrechen. So oft, wie sie und Araz sich beruflich Zutritt zu verbotenen Bereichen schaffen mussten, sollte das doch auch hier kein Hindernis sein.
„Angst?“, fragte sie daher nur, mit gehobener Braue und ernster Miene.
Araz antwortete, in dem er versuchte, ihren Blick zu imitieren und den Weg wieder aufnahm.
Roves Mundwinkel zuckten kurz nach oben, ansonsten ließ sie sich nichts anmerken.
„Manchmal ist es schwierig zu glauben, dass unter deiner ernsten, vorbildlichen Haltung ein Rabauke steckt“, kommentierte Araz nach ein paar Schritten.
Diesmal war Rove es, die ihm die Antwort schuldig blieb. Still gingen sie einige Schritte weiter, während die Dunkelheit sich langsam, aber sicher über ihnen ausbreitete und die Welt in Finsternis tauchte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass dich dieses Thema so beschäftigt“, meinte Araz nach einer Weile. Sie hatten den Wald in der Zwischenzeit schon fast erreicht.
„Was meinst du?“
„Wegen der Träume.“
„Oh.“ Rove fiel in diesem Moment tatsächlich kein besserer Kommentar dazu ein. Was sollte sie auch sagen? „Wie kommst du darauf?“, fragte sie stattdessen.
„In den Einsätzen, unter den anderen Soldaten generell, wirkst du stark, unbezwingbar. Aber vorhin… da wirktest du fast ein wenig eingeschüchtert.“
Oh, dachte sie diesmal still für sich. Ja, sie wusste was er meinte. Sie hatte gehofft, dass es nicht so offensichtlich gewesen war. Warum nur musste nun er es wieder ansprechen?
„Vielleicht“, antwortete sie und hoffte, dass damit deutlich genug war, dass sie nicht über diese Thematik sprechen wollte.
Tatsächlich ließ Araz das Thema bis auf weiteres auf sich beruhen. Er sprach es nicht weiter an, stellte keine weiteren Fragen, sondern ging wieder still den Weg voraus. Sie folgte ihm auf Schritt und Tritt. Vor allem, da es nun so dunkel war, dass sie Schwierigkeiten hatte, den Weg vor ihren Füßen zu erkennen. Der Vollmond stand zwar hoch am Himmel und sollte genügend Licht spenden, doch Wolken verhinderten, dass das Licht auf der Erde ankam.
Erneut standen sie vor einem Tor, dass das übrige Gelände der Landesgartenschau von dem Wald trennte. Hatten sie nun einen Hinterausgang erreicht? Oder war dies tatsächlich das Areal, dass sie erreichen wollten?
Araz ging unbeirrt auf das Tor zu, vielleicht konnte er anhand der Schilder, die für sie nun nicht mehr lesbar waren, erkennen, wohin es führte.
„Da wären wir“, meinte er und bestätigte damit ihre Überlegung. „Ladies first?“
Auch dieses Tor war nicht verschlossen, sondern ließ sich einfach aufschieben. Konnte das wirklich sein? Wieso hatte man es nicht verschlossen? Waren zu dieser Stunde etwa doch noch Arbeiter unterwegs? Doch nirgends schien ein Licht, dass weitere Personen vermuten ließ. Wenn es noch Arbeiter wären, würden sie sicherlich in der Dunkelheit arbeiten.
Etwas wachsamer als noch zuvor trat Rove durch das Tor, dass Araz für sie offen hielt. Er folgte ihr und zog es hinter sich wieder zu. Hier innen im Wald war es noch finsterer, als zuvor noch zwischen den Wiesen. Es war auch deutlich kühler. Wieder war froh, dass Rove sich trotz der unerwartet warmen Temperaturen ihre Jacke angezogen hatte. Nun wünschte sie sich auch ihren Schal dazu, denn die Kälte kroch ihr bei jedem sanften Windhauch am Nacken hinab. So konnte sie nur ihren Kragen aufrichten, doch es machte kaum einen Unterschied.
Sie waren kaum ein paar Schritte durch den Wald gelaufen, da stolperte Rove beinahe in Araz hinein. Er hatte plötzlich angehalten und schien zu lauschen. Rove wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. Sie wartete, bis er sich ihr zuwandte.
„Hier ist noch jemand“, erklärte er leise. „Wir sollten etwas leiser sein.“
„Noch leiser? Dann können wir auch stehen bleiben oder umdrehen.“
Erneut blieb Araz abrupt stehen und wandte sich diesmal direkt zu ihr um. „Vielleicht wäre das sogar die bessere Idee.“
Auch Rove hatte innegehalten, diesmal ohne vorher in Araz hineinzulaufen. „Was ist los?“
„Es sind keine Menschen, die sich hier aufhalten“, erklärte Araz knapp. „Irgendetwas stimmt nicht.“
„Was meinst du? Was siehst du?“
„Ich sehe niemanden. Ich rieche sie. Ich höre sie. Ich fühle sie.“
Rove hob überrascht die Augenbrauen, sagte aber nichts. Dass die Sinne der Dämonen stärker ausgeprägt waren, als die anderer Wesen, wusste Rove. Dinge früher sehen, riechen und hören zu können, das war nichts Ungewöhnliches. Aber… „Fühlen?“
In der Dunkelheit konnte sie es zwar kaum erkennen, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er sie in diesem Moment belächelte. „Überrascht?“
„Nein, nicht wirklich. Ich kann es mir nur nicht vorstellen, wie das funktioniert. Ich kenne die Theorie zu solchen Eigenschaften oder Fähigkeiten, mehr aber nicht“, erklärte Rove ihre Frage. In allen Aufzeichnungen, die es über nichtmenschliche Wesen gab, waren fast alle bekannten Eigenschaften der jeweiligen Spezies und Arten dokumentiert. Oftmals auch mit Beschreibungen darüber, wie diese Eigenschaften funktionierten. Doch da noch nicht alles wissenschaftlich erklärt werden konnte, blieben noch so einige Fragen ungeklärt. Wenn sich die Gelegenheit bot, mehr darüber zu erfahren, so nutze Rove diese gerne. Also stellte sie Fragen, wann immer sie konnte. Vielleicht sollte sie diesmal aber warten, bis sie an einem anderen Ort waren, um sich näher damit beschäftigen zu können.
„Es ist schwer zu erklären“, meinte Araz. Es klang für einen Moment so, als wolle er genauer erläutern, was es damit auf sich hatte, doch ein scharfes einatmen verriet, dass dieser Gedanke wohl verworfen war. „Dämonen. Nachtwandler… Magier“, murmelte er stattdessen.
Roves Neugier schwenkte mit einem mal um. „Was glaubst du, geht dort vor sich?“, wollte sie wissen, während sie in ihre Jackentaschen griff. Sie kramte eine kleine Dose hervor und entnahm daraus die erste Kontaktlinse, um sie aufzulegen.
„Schwer zu sagen“, meinte Araz indessen. Doch Rove hatte Recht, auch wenn sie es nicht aussprach: Eine solch gemischte Gruppe mitten in der Nacht an einem abgelegenen Ort anzutreffen, verhieß nichts Gutes. Er beobachtete, wie sie ihre Monitore startete und kurz darauf der eingeblendete Bildschirm in ihren Kontaktlinsen zu erkennen war. Es wunderte ihn nicht, dass sie sie mitgebracht hatte. Es überraschte ihn eher, dass sie ihren Monitor nicht die ganze Zeit über schon benutzt hatte.
„Wir sollten besser gehen“, meinte er.
Bevor sie entgegnen konnte, dass sie das besser überprüfen sollten, geschah es. Zuerst unscheinbar, doch unwiderruflich fatal.
Rove sah noch, wie Araz entsetzt die Augen aufriss, noch bevor sie begannen, rot zu glühen. Sein Gesicht verzerrt vor… Schmerz? Wut? Furcht?
Hilflos sah sie mit an, wie sich sein Gesicht veränderte. Wie sein Gebiss sich verformte, vom menschlichen zu dem, eines Raubtieres wurde. Wie seine Haut sich verfärbte, pechschwarz und ledrig, während er sich vor ihren Augen hin und her wandte, unter Qualen?
Rove konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden, suchte fieberhaft nach einer Erklärung für den plötzlichen Auslöser, brachte aber kein Wort heraus. Erst jetzt bemerkte sie auch in ihrer Brust ein ungewöhnliches Kribbeln, ein Vibrieren, das zuerst in ihrem Herzen spürbar war, dann weiter nach oben wanderte, zwischen Brust und Kehle und dort verweilte. Dann kam der Schmerz, traf wie ein Schlag unvermittelt in ihren Nacken, brannte und bohrte über ihrer Haut, drängte in ihren Körper.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal vor Schmerzen geschrien hatte. Die Wucht wollte sie in die Knie zwingen, doch noch hielt sie stand. Sie presste ihre Kiefer zusammen, bemüht ihre Stimme zu beherrschen. Ihr Blick fiel wieder auf Araz, der auf die doppelte Größe hinausgewachsen war, mit immer noch glühenden Augen über den gebleckten Reißzähnen. Seine Kleidung hatte der Verwandlung nicht standhalten können und lag in Fetzen auf dem Waldboden um ihn verteilt. Riesige Schwingen ragten aus seinem Rücken hinaus und bebten wie der Rest vor ihm in Anspannung.
„Was passiert hier?“, presste Rove unter Ächzen hervor. Sie tastete nach ihrem Nacken, doch die Oberfläche ihrer Haut fühlte sich normal an. Aber der Schmerz war real und raubte ihr beinahe Atem.
Araz antwortete ihr nicht, sie war sich nicht einmal sicher, ob er das in dieser Lage überhaupt konnte. Doch sein Blick haftete auf dem inneren des Waldstücks. Sie folgte seinem Blick.
Ihr Monitor blendete in der Ferne verschiedene Gestalten ein, die nicht vollständig auszumachen waren. Sie standen verteilt in einer Art ungleichmäßigem Kreis, in dessen Mitte eine gewaltige energetische Bewegung. Was-
Rove konnte ihre Gedanken nicht zu Ende spinnen.
Mit einem Mal waren sie umfasst von Licht, während das Feld zwischen den Gestalten zu zerbersten schien. Es schoss in Bruchteilen von Sekunden in den Himmel hinauf, erschuf einen Strahl, der sich uneben ausbreitete-
Die Anzeige ihrer Monitore unterbrach immer wieder, verzerrte sich, erstellte sich von neuem. Sie wurde immer heller, für ihre Augen zu hell, um noch etwas erkennen zu können. Bis ihre zittrigen Finger ihre Augen erreicht hatten, war es bereits zu spät. Brennender Schmerz durchfuhr ihre Augen, bevor mit einem Zischen alles dunkel wurde.
Rove konnte einen weiteren Aufschrei nicht unterdrücken.
Haltlos sackte sie auf die Knie, konnte sich gerade noch mit ihren Händen über dem Boden abstützen. Ihre Augen und Lider brannten wie Feuer. Der Schmerz in ihrem Nacken wurde immer schlimmer, riss und zog an ihr, bohrte und drängte immer weiter, schnürte ihr langsam aber sicher die Kehle zu, während das Vibrieren über ihrer Brust immer stärker wurde.
Verdammt… Der Versuch, sich wieder aufzurichten, schlug fehl. Als hätte man ihr einen weiteren Schlag auf den Nacken verpasst, sackte sie zur Seite weg. Sie spürte nur noch, wie sie von zwei großen Händen gepackt wurde, bevor der Schmerz ihr Bewusstsein verdrängte.