Sehnsucht
Eine Stimme rief ihn. Wie in Trance schob er die Decke beiseite und stand auf. Seine nackten Füße trafen auf den kalten Boden, doch er spürte die Eiseskälte nicht einmal. Vergessen war alles um ihn herum, nur ein Gedanke beherrschte seinen Kopf. Automatisch folgte er der Stimme in seinem Kopf, die ihn erinnerte, Jahr für Jahr. Es war zu einer Tradition geworden.
Seine Beine trugen ihn in den Vorraum. Ein Blick auf den Kalender. Ja, es war der richtige Tag. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, während er barfuß aus der Wohnung trat. Bald war es so weit. Zu lange war es schon her.
Die Arme hingen schlaff herab, als seine Beine ihn sicher die Treppen hinab trugen. Auch dem darauf verschmierten Dreck schenkte er keine Aufmerksamkeit. Zwei Stockwerke ging es hinab, bevor er zur Tür kam und sie aufstieß. Es war noch stockdunkel draußen und eiskalt, aber das kümmerte ihn nicht. Der Weg war nicht weit.
Vorfreude machte sich in seinem Körper breit, als er die verlassene Straße entlang schritt und schließlich zum Park auf der anderen Seite querte. Kein Mensch begegnete ihm, kein Auto fuhr und keine Lichter schienen. Es war wie ausgestorben, doch selbst das erreichte ihn nicht.
Er achtete nicht auf den fehlenden Wind, die verdorrten Büsche und Bäume, die verfaulten Blätter. Nicht auf den Gestank, der ihm beißend in die Nase stieg. Nichts davon nahm er wirklich wahr, er ging unbeirrt weiter, setzte einen Fuß vor den anderen ohne auch nur einmal zu stocken.
Seine Augen waren stur geradeaus gerichtet und seltsam leer. Dunkel, leer und kalt, während sie gleichzeitig so voller Freude zu sein schienen. Die nackten Füße klatschten leise am nassen Asphalt und die Härchen auf den Armen stellten sich auf, als ein kalter Luftzug darüber strich.
Dann bog er in die Wiese ab, die Grashalme kitzelten auf seinen sonst so empfindlichen Fußsohlen - auch das beeinflusste seine starre, immer noch zu einem glücklichen Lächelnd verzogene Miene nicht im geringsten.
Immer weiter trugen seine Beine ihn, die Zeit schien zu verfliegen.
Schließlich blieb er abrupt stehen. Sein Blick huschte umher und suchte die Gegend ab. Den aus der Erde ragenden Steinen schenkte er kaum Beachtung, während der mehrere Minuten still dastand. Auch vom Stein vor ihm nahm er keine Notiz.
Plötzlich aber übermannte ihn die Unruhe. Das Gewicht verlagerte er einmal auf das eine, dann auf das andere Bein. Die Arme verschränkte er einmal, bevor er sie wieder löste und mit dem Saum seines zu dünnen T-Shirts spielte. Immer wieder wandte er sich um, starrte suchend in die Dunkelheit.
Und auf einmal konnte man die ansteigende Angst in seinen fahrigen Bewegungen erkennen, nervös tigerte er nun herum, die Hände in den Hosentaschen des Pyjamas vergraben und die Augen weiterhin umherschnellend.
"Wo bist du?", erhob er zum ersten Mal in dieser Nacht die Stimme. Rau war sie, als hätte er lange nicht mehr gesprochen. Die Stimme hallte somit unheimlich durch die Düsternis. Stille.
Panik löste die Angst ab und erfüllte sein Gesicht. "Wo bist duu?!", schrie er nochmal, die Verzweiflung deutlich hörbar. Hektisch wandte er sich nun immer wieder um, die Augen huschten mittlerweile unnatürlich schnell in ihren Höhlen umher und loderten vor Sehnsucht.
"Wo? Wo bist du nur?" Schluchzend sank er auf die Knie, die Hände vergrub er im Schlamm, der Kopf sank auf die Brust. Verzweifelt krallte er seine Finger dann ins Shirt, als wollte er sich festhalten.
"Wir wollten uns hier treffen! Du hast es mir versprochen. Wir haben uns immer hier getroffen...wir haben uns immer hier getroffen."
Bis zum Ende hin wurde seine Stimme immer leiser. Ein leichtes, irres Lachen durchzuckte stattdessen nun seinen Brustkorb.
"Weißt du noch ... weißt du noch, damals? Du hast dich immer in Schwierigkeiten gebracht", stotterte er und seine Körper wurde weiterhin von einem verrückten Kichern durchgeschüttelt. Eine Reaktion, die bei ihm schon längst zur Normalität geworden war.
"Ich musste dich immer rausboxen u-und hab dann den Prügel abbekommen. D-du hast nie damit aufgehö-hört. Du konntest nicht zusehen, w-wenn jemandem Unrecht getan wurde. Es war immer so", wisperte er tonlos. "Immer."
"Luc!" Die Stimme drang gar nicht an seine Ohren. Doch eine Hand auf seine Schulter ließ ihn aufschrecken. "Kyle!" Er fuhr herum, die Augen glücklich aufgerissen. Doch das vor ihm war nicht Kyle, realisierte er, als er die markanten Gesichtszüge und das helle Haar erkannte.
"Du bist nicht er", murmelte er tonlos und riss sich aus dem Griff um seine Schultern. Er stolperte zurück. " Du bist nicht er!", spie er seinem Gegenüber ins Gesicht, auf welchem sich ein tiefer Schmerz abzeichnete.
"Komm zurück, Luc", sprach dieser. "Komm zu mir!"
"Nein, nein! Du bist nicht er! Du kannst mich nicht zwingen!", fauchte Luc zurück. Doch der Andere schritt blitzschnell auf ihn zu und schloss ihn in seine Arme. Luke schlug um sich, wehrte sich und wollte sich befreien, doch die Arme seines größeren Gegenübers waren wie ein Schraubstock um ihn geschlungen.
"Ich werde ihn nicht vergessen! Er gehört zu mir. Du kannst ihn mir nicht nehmen!", schrie der Kleinere.
"Er ist woanders, Luc. Ich bin bei dir. Ben, dein Ben und niemand sonst."
Sanft und vorsichtig löste Ben sich von Luc und nahm dessen Hand. Langsam legte er sie auf den Grabstein neben ihnen. "Es ist der 1. Mai, hörst du? Der 1. Mai", wisperte er eindringlich.
Luc blinzelte ihn verwirrt an, dann schweifte sein Blick zu der Hand, die Ben auf den kalten Stein gepresst hatte. Seine Augen erblickten die Inschrift.
Kyle Bannor
17.April 1995 - 1. Mai 2018
Ein wundervoller Bruder und geliebter Freund
Rest in piece, my friend
Da klärten sich Luc's Augen. Die Dunkelheit verschwand, die Leere wich dem Schmerz. Die Erkenntnis breitete sich auf dem dreckigen Gesicht aus. Tränen bahnten sich nun endlich frei über sein Gesicht und er vergrub es im Pullover des Anderen.
"Es ist wieder passiert... ich konnte nichts tun. I-ich bin wie in Trance, ich höre nur seine Stimme, d-dass wir uns hier treffen würden", schluchzte er auf. Beruhigend strich Ben ihm über den Kopf und presste ihn noch näher an seinen Körper.
"Wie er mir sagte, dass er meine Hilfe brauchte... warum konnte er sich nicht einmal aus Ärger raushalten? Warum konnte er nicht ein einziges Mal auf mich hören?"
Ben seufzte. "Es lag in seiner Natur."
"Es tut mir so unglaublich leid, dass ich es nicht unter Kontrolle habe, aber es wirkt so real", murmelte Luke.
"Ich weiß, Luc. Ich weiß."
Und so saßen sie still da. Zwei junge Männer in tiefster Nacht am Friedhof.
Nächstes Jahr würden sie wieder hier sitzen. Zusammengekauert, eng umschlungen, Trost suchend und -spendend. Es war immer gleich. Es war immer derselbe Monat. Derselbe Tag. Derselbe Ablauf. Derselbe Schmerz. Denn die Sehnsucht in Luc's Herzen würde nie vergehen...