"Ja, so ist das..." beendete Philipp seinen Satz. Danach entstand ein unangenehmes Schweigen. Er war bei Nathalie zum Abendessen eingeladen . Dort wollte sie ihm mehr über sich erzählen. Und das tat sie auch. Es kam ihm so vor, als rede sie sehr gerne von sich. Er war bisher noch kaum zu Wort gekommen. So hatte er erfahren, dass Nathalie 31 Jahre alt war. Sie hatte ein Studium in Geschichte und auch in Philosophie begonnen und wieder abgebrochen. Es sei ihr zu "theoretisch" gewesen. Seitdem schien sie nur Gelegenheitsjobs anzunehmen. Aber sie hatte zwischen den Zeilen durchblicken lassen, dass sie sich auf Grund von reicher Verwandschaft in finanzieller Hinsicht keine Sorgen zu machen brauchte. Philipp hatte den Eindruck, er sitze einem etwas verwöhnten High-Society-Girl gegenüber, aber er wollte nicht vorschnell urteilen. Auch ihre Kindheit war zur Sprache gekommen. "Problematisch" sei sie gewesen."Ich war halt schon immer ein bisschen anders. Ein bisschen sensibler" erzählte sie ihm. Mit elf hatte sie ein Stück Wiese hinter einem alten Hof angezündet. Es war nichts Dramatisches passiert, keine Toten, kein großer Sachschaden, doch die Feuerwehr war gekommen und von da an schickten die Eltern die kleine Nathalie einmal die Woche zu einem Psychotherapeuten. Dieser hatte dann die mühselige Aufgabe, herauszufinden, was dieses stille Mädchen dazu bewogen hatte, scheinbar nur so zum Spaß, Bauer Frankes Wiese abzufackeln. Er war aus ihr nicht schlau geworden und die Therapie wurde nach drei Monaten abgebrochen. "Hast du ihm damals vom Schattenmann erzählt?" fragte Philipp sie vorsichtig. Es war das erste mal an diesem Abend, dass der Name gefallen war. Davor hatten sie wie nach einer stillen Übereinkunft nur von anderen Dingen geredet, obwohl genau er ja der Grund für ihr Zusammentreffen war.
"Damit der mich dann mit Psychopharmaka vollpumpt oder mich gleich in eine Schule für mental labile Kinder abschiebt?", beantwortete sie die Frage mit plötzlicher Heftigkeit. "Nein, ich hab ihm nie was erzählt. Aber aus einem eigentlich ganz anderen Grund. Nämlich aus demselben Grund, warum ich noch nie jemandem vom Schattenmann erzählt habe,...bis gestern", fügte sie hinzu. Philipp brannten zwei Fragen auf den Lippen. Er begann "Wieso hast du nie jemandem von ihm erzählt?". Nathalies Handflächen verkrümmten sich etwas, dann antwortete sie leise: "Weil er es hören kann. Er merkt immer, wenn über ihn gesprochen wird. Und wer ihm seine Aufmerksamkeit schenkt, den lässt er nicht mehr so einfach los". Es war inzwischen dunkel geworden. Die Wände des Wohnzimmers bestanden aus drei großen Glasfronten, alles war modern und funktional eingerichtet. Philipp wurde sich auf einmal mit leichter Beunruhigung der Tatsache bewusst, dass sie selbst zwar nichts als Schwarz erkannten, wenn sie durch die Fenster schauten, dass aber Jedermann von draußen sie ohne Probleme beobachten konnte. "Was soll das heißen, er lässt ihn nicht mehr so einfach los?", fragte Philipp zweifelnd.
"Das wirst du schon noch merken", antwortete ihm Nathalie mit seltsam mitleidloser Stimme. "Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass du in nächster Zeit mal von ihm träumst. Oder ihn sogar triffst". Für nur einen kurzen Augenblick fühlte Philipp ein leichtes Erschaudern, aber er wischte es schnell wieder weg, denn im Grunde glaubte er aus vollstem Herzen an die Wissenschaft und hätte sein Leben darauf verwettet, dass der einzige Ort, an dem man den Schattenmann treffen konnte, sich in Nathalies Kopf befand. Er kam zur zweiten Frage: "Wenn du dein Leben lang über den Schattenmann geschwiegen hast, anscheinend um deine Mitmenschen vor ihm zu schützen, wie kommt es dann, dass du ausgerechnet einem Wildfremden auf einem Bahnsteig zum ersten Mal von ihm erzählst?" Nathalie blickte ihn schuldbewusst, aber mit einem leisen Lächeln an "Weiß auch nicht... du sahst irgendwie so nett aus".
"Und Leuten, die du nett findest, hetzt du also den Schattenmann auf den Hals? Dann wundert es mich nicht, dass du als kleines Mädchen keine Freundinnen hattest". Sie blickten sich an. Dann lachten sie. Das Eis war gebrochen.
Am nächsten Morgen ging Philipp seine Post durch. Er hatte auf ein Dokument von der Zulassungsstelle gehofft. Es ging um ein neues Nummernschild. Er wohnte jetzt bereits seit zwei Monaten in Stuttgart aber hatte immer noch GT hinten auf seinem Auto stehen. Aber Nichts. Er wollte das Werbeschreiben, das auch gekommen war, gerade schon wegschmeißen, als ihm etwas auffiel, dass ihm jetzt tatsächlich einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Auf den Umschlag hatte jemand mit Bleistift ein ganz kleines, kaum erkennbares "S" gezeichnet.
"Hmmmmm...." machte er laut, obwohl niemand da war, der das hätte hören können, aber irgendwie beruhigte es ihn.
Dann zuckte er mit den Achseln und warf den Umschlag in den Papierkorb.