Kichernd zog sich Jade die Bettdecke bis zur Nasenspitze und lockte ihren kleinen Bruder: »Komm schon, Max. Wir wollen doch gleich los.«
Der Angesprochene kam stolpernd, mit Zahnpastaresten im Mundwinkel die Treppe herab.
Oben erklang die belustigte Stimme ihres Vaters: »Los? Wohin wollt ihr denn, außer ins Land der Träume?«
Er gluckste über seine Bemerkung, dann fügte er hinzu: »Ihr beiden werdet mir fast unheimlich. Seitdem wir auf dieses Hausboot gezogen sind, verschwindet ihr immer früher und dazu noch freiwillig im Bett. Vor unserem Umzug in diese Notunterkunft dachte ich immer, ihr würdet niemals müde werden.«
Jade lächelte nur und rief ein »Gute Nacht, Papa« nach oben. Dann schärfte sie ihrem Bruder flüsternd ein: »Und verrate Papa bloß nichts!«
Max schüttelte nur entrüstet den Kopf, dann kroch auch er unter die Decke.
Sie zog einige zerknitterte, herausgerissene Buchseiten aus ihrem Tornister. Auf dem neuen Heimweg von der Schule hier zum Hafen kam sie an einem Bücherschrank vorbei. Dort standen zwar fast nur langweilige Erwachsenenbücher, aber sie fand bei genauerer Suche auch immer wieder spannende Geschichten, kostenlosen Nachschub an Abenteuern. Denn genau ein solches erwartete die beiden jetzt.
Jade hatte das Geheimnis, den besonderen Zauber dieses Hausbootes schon in der ersten Nacht entdeckt. Sie hatte ihre abendliche Lektüre vor dem Einschlafen zusammen mit der Taschenlampe in der Klappkiste zwischen den beiden Bettkojen versteckt. Moby Dick war zu spannend gewesen, um zwischendrin einfach aufzuhören und zu schlafen.
Als sie dann aber doch irgendwann einschlief, geschah es.
Max und sie standen auf einmal völlig durchnässt auf den Decksplanken der Pequod, neben ihnen bellte Kapitän Ahab mit fanatischem Glitzern in den Augen Befehle an seine Mannschaft. Unterdessen rammte ein riesiger Wal immer und immer wieder das Schiff. Die Kinder klammerten sich an die Reling, während die Gischt sie durchnässte und der Sturm ihre Haare zerzauste. Der Wal tauchte ab und wieder auf, das Schiff hob und senkte sich, wilder als jede Achterbahn, bis es schlussendlich zerbrach und sank.
Jade und Max konnten sich mit einem Matrosen, Ismael, in einen schwimmenden Holzsarg retten.
Dann klingelte Jades Wecker. Aufstehenszeit, Schulzeit!
Max und sie waren triefnass und total verstört aus ihren feuchten Betten gepurzelt. Irgendwie versteckte Jade die salzwassergetränkte Kleidung, machte sich und ihren Bruder fertig, bevor sie beide zur Schule aufbrachen.
Natürlich sagten sie keinem etwas davon. Vermutlich hätte ihnen auch niemand geglaubt.
Das lag nun einige Tage zurück. Seit dieser schicksalhaften Nacht waren die beiden schon fast von einer Hexe im Lebkuchenhaus gefressen worden, waren zusammen mit vier singenden Tieren durch Bremen gezogen und allerlei mehr.
Für heute hatte Jade etwas Besonderes aus dem Bücherschrank erbeutet. Der Einband war zwar nichtssagend, aber der Titel versprach ein Tierabenteuer, diese mochte Max ganz besonders. Auf dem Deckel war das Bild eines komischen Schmetterlings abgebildet, aber es hatte wohl irgendetwas mit jungen Schafen, mit Lämmern zu tun, die leise sein mussten.