Die Abenddämmerung bricht herein. Irgendwo in Afrika. Irgendwo, wo sich die schirmförmigen Kronen der Akazien ausbreiten und gelbes Gras unter den speiseplattengroßen Füßen einer Nashornkuh plattgestapft wird.
Nennen wir sie Aiosa. Für gewöhnlich spricht man nicht über das Gewicht von Damen, aber diese hier ist stolz auf ihre 872 kg. Mit ihrer spitzen Oberlippe greift sie nach den letzten erreichbaren Blättern der Akazie über ihr. Es ist der letzte Baum am Rand ihres Territoriums. Nur ein paar Nashornlängen weiter, beschäftigt sich Nesanet, ihre Nachbarin, mit ähnlichem.
Seit einer halben Stunde geht das schon so. Aiosa zupft, kaut, schluckt. Nesanet zupft, kaut und schluckt. Schließlich hält Aiosa es nicht mehr aus. Mit schweren Schritten stapft sie zur Nachbarin hinüber. Grüßt mit einem Schnaufen und legt dann auch gleich los: „Hast du's schon bemerkt? Wir haben im Süden einen neuen Nachbarn!“
Nesanet kaut weiter. Schluckt. Ohne auf eine Antwort zu warten, ereifert sich Aiosa: „Einen Bullen! Er hat den alten Sindo vertrieben und gleich ein Stück von meinem in Beschlag genommen! Verfressener junger Kerl. Jetzt fehlen mir die schönen Tambotibäume. Und aggressiv ist er! Halte lieber dein Bullenkalb von ihm fern, der ist auf Streit aus, sag ich dir. Und faul. Dreieinhalb Stunden schläft er, am Stück! Das kann unsereiner sich gar nicht leisten!“
Das ist tatsächlich ein ganzer Berg an Neuigkeiten. An Katastrophen, die Nesanet dazu bringen, ihr gehörntes Haupt zu heben und ihre Mahlzeit zu unterbrechen.
„Ach w...“
„Und seine Grenzen, ja die sind vielleicht deutlich. Deutlicher geht’s kaum! Der hat sich eine regelrechte Mauer aus Kot zusammengescharrt!“, fällt Aiosa noch ein und wackelt mit den kleinen Öhrchen. Das einzige äußere Zeichen ihres aufgebrachten Gemütszustandes.
„Eine Mauer?“, hakt Nesanet nach, der die letzten Worte noch in den Ohren klingen. Sie neigt den Kopf und beginnt sich am Stamm des Baumes das Horn zu reiben.
Aiosa folgt ihr. „Na ja, das ist vielleicht etwas übertrieben, aber es ist überdeutlich! Hach. Dann hat die Kuh von der anderen Seite gerade ihr Kalb von vorletztem Jahr weggeschickt, weil demnächst ihr Neues kommt. Jetzt hab ich sicher acht Monate dieses Kalb am Hals. Aber immerhin ist es ein Mädchen und man ist ja schließlich auch Mutter...“
Aiosa dreht den Kopf und schaut hinter sich. „Da fällt mir ein, ich muss los, schauen wo die Kleine steckt. Nicht, dass noch irgendwelches Löwengesindel auf Ideen kommt. Und die Wasserquellen sind schon wieder am versiegen. Wahrscheinlich muss ich wie irre darin herumscharren, damit ich sie frei bekomme.“ Sie blinzelt und dann wirft sie plötzlich den Kopf wieder herum: „Meine Güte, und die Wilderer. Die hab ich fast vergessen. Hast du das mitbekommen? Majira haben sie erwischt. Bestien, sag ich dir. Schlimmer als Löwen sind die. Ach, was ist bloß aus unserer Nachbarschaft geworden...“
Nesanet hebt den Kopf und beendet das Abreiben ihres Horns. Gibt einen zustimmenden Laut und hofft, gleich eine Staubwolke von der davonpreschenden Aiosa im Gesicht zu haben. Hofft auf etwas Ruhe. Aber Aiosa sieht sie abwartend an und denkt nicht daran, ihren wuchtigen Hintern herumzudrehen und die neutrale Zone ihrer beider Grenzen zu verlassen.
„Ähm...“, beginnt Nesanet und zupft mit ihrer Oberlippe einen dürren Ast ab. Kaut. Versucht Zeit zu gewinnen und wünscht sich, dass Aiosa die Geduld so schnell verliert wie ihre Worte. Ihr Schwanz wedelt umher. Die Ohren sind auf Nesanet gerichtet. Diese schnauft.
„Tja, wir können nicht alle in Wakanda leben.“